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Warum es keinen Krieg gegen den Terror geben kann

 

Ein großartiger Essay von Lee Harris im aktuellen Merkur analysiert die Fantasie-Ideologie von Al-Qaida:

„Der Terrorangriff vom 11. September zielte nicht auf eine Änderung der amerikanischen Politik, sondern war auf seine Wirkung auf die Terroristen hin entworfen worden. Er war eine spektakuläre Theateraufführung. Die Ziele waren von Al Qaida nicht aufgrund militärischer Überlegungen ausgewählt worden – im Gegensatz etwa zu dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor –, sondern einzig deshalb, weil es von der breiten Öffentlichkeit der arabischen Länder anerkannte Symbole amerikanischer Macht waren. Es waren gigantische Requisiten in einem bombastischen Spektakel, worin die Kollektivphantasie des radikalen Islam anschaulich verkörpert wurde: Nur eine Handvoll Muslime – Männer, deren Wille absolut rein war, wie ihr Märtyrertum bewies – brachten die vom Großen Satan errichteten hochmütigen Türme zu Fall. Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass Gott auf der Seite des radikalen Islam stand und das Ende der Herrschaft des Großen Satans nahe war?

Wie es das Ziel der italienischen Invasion Äthiopiens war, den Italienern selbst zu beweisen, dass sie Eroberer waren, so war es das Ziel der Anschläge vom 11. September, den Arabern zu beweisen, dass islamische Reinheit, wie sie der radikale Islam verstand, triumphieren konnte. Der Terror, der uns das Wesentliche zu sein scheint, ist in den Augen von Al Qaida nur ein Nebenprodukt. Ebenso wird das, was Al Qaida und seine Anhänger für das Wesentliche an dem heiligen Schauspiel halten – nämlich das heroische Märtyrertum der neunzehn Flugzeugentführer –, von uns ganz anders interpretiert. Wir betrachten die Flugzeugentführungen wie die palästinensischen »Selbstmord«-Anschläge nur als einen Modus operandi, eine Technik, die nebensächlich ist für das übergeordnete strategische Ziel: Es ist ein Provisorium, ein technisch primitiver Notbehelf – ein mit anderen Mitteln geführter Clausewitz’scher Krieg, in diesem Fall mit Selbstmord.

Aber für die Phantasie-Ideologie des radikalen Islam ist Selbstmord kein Mittel für einen Zweck, sondern ein Endzweck. Durch die Zerrbrille des radikalen Islam betrachtet verwandelt sich der Akt des Selbstmords in einen des Märtyrertums – eines Märtyrertums in all seiner transzendenten Herrlichkeit und einhergehend mit all den magischen Kräften, die die religiöse Tradition dem Märtyrertum immer schon zugeschrieben hat.

Kurzum, man begeht einen Fehler, wenn man versucht, ein solches Verhalten dem von unseren eigenen Kategorien und Erwartungen geschaffenen Denkmuster anzupassen. Nichts demonstriert das anschaulicher als das Videoband, auf dem Bin Laden den Angriff vom 11. September diskutiert. Das Band macht deutlich, dass der endgültige Einsturz des World Trade Center nicht Teil des ursprünglichen Plans der Terroristen war, der offenbar davon ausging, dass die beiden Türme stehenbleiben würden. Aber das verlieh dem Ereignis – im Kontext von Al Qaidas Phantasie-Ideologie – eine gesteigerte emotionale Kraft: Eben weil das Einstürzen der Türme nicht Teil der ursprünglichen Planung gewesen war, musste es nun als eine Manifestation des Willens Gottes verstanden werden. Nicht die neunzehn Flugzeugentführer brachten die Türme zu Fall, sondern Gott.

… Falls diese Interpretation korrekt ist, dann ist es an der Zeit, dass wir einige Grundlagen unserer Vorgehensweise im Krieg gegen den Terror überdenken. Vor allem sollte klar geworden sein, dass es bei einem ausschließlich von einer Phantasie-Ideologie motivierten Gegner absurd ist, die »eigentlichen« Gründe für den Terrorismus in Armut, Bildungsmangel, fehlender Demokratie etc. entdecken zu wollen. Derartige Faktoren spielen nicht die geringste Rolle bei der Schaffung einer Phantasie-Ideologie. Im Gegenteil, historisch waren Phantasie-Ideologien die Schöpfung von Angehörigen der Intelligenzia, die sozial mindestens zur Mittelschicht gehörten und erheblich besser ausgebildet waren als der Durchschnitt. Außerdem wird bei der hoffnungsvollen Annahme, demokratische Reformen würden den radikalen Islam schwächen, die Tatsache übersehen, dass frühere Phantasie-Ideologien historisch in einem demokratischen Kontext entstanden sind; wie Ernst Nolte, der Erforscher des europäischen Faschismus, feststellte, war die parlamentarische Demokratie eine wesentliche Voraussetzung sowohl für Mussolini wie auch für Hitler.

Ebenso absurd wäre die Vorstellung, dass wir unsere Politik gegenüber der arabischen Welt oder dem Staate Israel revidieren müssen, um Mittel und Wege zu finden, wie wir unsere Feinde dazu bringen können, uns weniger zu hassen. Hätten die Äthiopier in der Hoffnung, Mussolini würde seine Eroberungspläne überdenken, größere Anstrengungen unternommen, sich den Italienern als liebenswert zu präsentieren, hätte das nichts an dem Ergebnis geändert. Es gibt keine Politik, mit der wir die Einstellung unserer Feinde ändern könnten – außer vielleicht eine landesweite Massenkonversion zum fundamentalistischen Islam.

Zweitens folgt aus der Übernahme des obigen Modells zum Verständnis unseres Gegners, dass wir den Begriff »Krieg«, wie er gegenwärtig in diesem Zusammenhang benutzt wird, überdenken. Als die Japaner den Krieg am 7. Dezember 1941 mit der Bombardierung von Pearl Harbor begannen, geschah das nicht deshalb, weil Pearl Harbor ein Symbol amerikanischer Macht war: Es geschah deshalb, weil sich dort ein großer Flottenstützpunkt befand und die Japaner das durchaus rationale strategische Ziel verfolgten, die Flotte der Amerikaner in den ersten Stunden des Krieges entscheidend zu schwächen. Außerdem hätte dieser Angriff nicht stattgefunden, wenn die Japaner überzeugt gewesen wären, ihre politischen Ziele – die amerikanische Akzeptanz der japanischen Hegemonie in Asien und im Pazifik – mit anderen Mitteln erreichen zu können. Und der Krieg wäre sofort!beendet worden, wenn die Vereinigten Staaten unverzüglich um eine Verhandlungslösung des Konflikts – unter Bedingungen, die für die Japaner akzeptabel gewesen wären – gebeten hätten.

Im Fall des in Pearl Harbor begonnenen Krieges wussten alle Parteien genau, worum es ging, und es bedurfte keiner Experten, die in den Medien darüber stritten, was das »wirkliche« Ziel dieses Angriffs war. Jeder wusste, dass der japanische Angriff das Resultat einer strategischen Entscheidung war, lieber einen Krieg gegen Amerika zu beginnen, als das amerikanische Ultimatum zu akzeptieren, das die Räumung der Mandschurei verlangte. Die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, wurde ganz im Sinne Clausewitz’ getroffen: Der Einsatz militärischer Gewalt wurde dem vorgezogen, was alle Seiten als eine inakzeptable politische Lösung betrachteten.

Das war nach dem 11. September keineswegs der Fall. Die Frage, die sich für die USA stellte, war nicht, ob sie Al Qaidas politische Forderungen, die äußerst nebulös waren, akzeptieren oder ablehnen sollten. Al Qaida erklärte ja nicht einmal, den Angriff überhaupt unternommen zu haben! Die USA und ihre Verbündeten sahen sich in der bizarren Situation, erst einmal beweisen zu müssen, wer überhaupt ihr Feind war – eine Schwierigkeit, die in einem Clausewitz’schen Krieg definitionsgemäß nicht auftreten kann, wo es wesentlich wichtig ist, dass den Konfliktparteien die Identität des jeweils anderen bekannt ist, da der Konflikt sonst sinnlos wäre.

Die Tatsache, dass wir es mit einem Gegner zu tun haben, dem die Clausewitz’sche Kriegführung fremd ist, hat gravierende Folgen für unsere Politik. Denn wir kämpfen mit einem Gegner, der bei allem, was er tut, kein strategisches Ziel verfolgt und dessen Handeln nur im Zusammenhang seiner eigenen Phantasie-Ideologie Bedeutung hat. Das heißt seltsamerweise, dass wir zwar Krieg gegen sie führen, sie aber nicht gegen uns – und es stellte ja eine enorme Verbesserung der Situation dar, wenn sie tatsächlich Krieg gegen uns führten. In diesem Fall wären sie gezwungen, realistisch zu denken, im Sinne objektiver Faktoren wie übergreifender strategischer Ziele, Kriegsziele und so weiter. Sie müssten eine realistische statt einer phantasiegeleiteten Einschätzung des Kräfteverhältnisses beider Seiten vornehmen. Da sie aber im Kontext ihrer Phantasie-Ideologie operieren, ist eine solche realistische Abwägung unmöglich für sie. Wie viel stärker oder mächtiger wir sind als sie, ist unwichtig – wichtig ist, dass Gott ihnen zum Sieg verhelfen wird.

Das muss betont werden, denn wenn die Phantasie-Ideologie des italienischen Faschismus eine Form der politischen Illusion war, geht die Phantasie-Ideologie des radikalen Islam gar noch einen Schritt weiter: Sie hat in gewissem Sinne mehr Ähnlichkeit mit einer Form des magischen Denkens. Während der Sorelsche Mythos letztlich auf eine Veränderung der wirklichen Welt abzielt, ist es fast so, als ob die »wirkliche« Welt im Zusammenhang der Phantasie-Ideologie des radikalen Islam unwichtig wäre. Unsere »wirkliche« Welt ist im Grunde genommen völlig säkular, die Verkettung einer endlosen Folge von Ursache und Wirkung, wobei alle Ereignisse auf einer einzigen ontologischen Ebene stattfinden. Aber die »wirkliche« Welt des radikalen Islam ist anders – in seiner Phantasie-Ideologie kommt derselbe philosophische Okkasionalismus zum Ausdruck, der einen großen Teil der islamischen Theologie bestimmt: Das heißt, Ereignis B findet nicht deshalb statt, weil es von einem vorangegangenen Ereignis A verursacht wurde. Vielmehr ist das Ereignis A einfach nur ein Anlass für Gott, Ereignis B zu verursachen, so dass die eigentliche Ursache aller Ereignisse, die auf unserer ontologischen Seinsebene stattfinden, nichts anderes als Gott ist. Wenn es sich aber so verhält, dann verflüchtigt sich die von uns vorausgesetzte »wirkliche« Welt und alles wird etwas durch den Willen Gottes Determiniertes, und so löst sich die Grenze zwischen realistischem und magischem Denken auf. Deshalb ist das bloße Faktum, dass Al Qaida keine »realistische« Hoffnung hegen kann, die Vereinigten Staaten – oder gar den Westen insgesamt – zu zerstören, völlig irrelevant. Denn die Vereinigten Staaten und der Westen könnten jederzeit zusammenbrechen, wenn Gott es so wollte.

Dieses Element magischen Denkens macht Al Qaida jedoch nicht weniger gefährlich.“

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