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Ende einer Dienstfahrt – zum Tod von Horst Tappert

 

Ich kann es mir nicht verkneifen, zum Tod des Derrick-Darstellers hier ein Stück aus meiner ersten Zeit bei diesem Blatt wieder zu veröffentlichen. Es wurde geschrieben, um das Ende der legendären Serie vor 10 Jahren zu bedenken. Auszüge:

Für unsereinen aus der Generation Golf – im steten Flackern der ersten erschwinglichen Farbfernseher herangewachsen (die so stolze Namen trugen wie Rubens, Goya und Rembrandt) – hat die Welt des Herbert Reinecker den Charakter einer unhintergehbaren Wirklichkeit: „Derrick“ war immer schon da. Als „Der Kommissar“ wiederholt wurde, nahmen wir verdutzt zur Kenntnis, daß Assistent Harry Klein bereits ein Leben vor „Derrick“ geführt hatte. Fritz Wepper hatte nämlich auch schon dem Kommissar Keller als Hilfssheriff gedient, in jenen unvordenklichen Tagen des Schwarzweißfernsehens. Wer mit der deutschen Fernsehunterhaltung aufgewachsen ist, hat nolens volens eine starke Dosis Reinecker aufgesogen. Zum Lebenswerk des ewigen Quotenchampions gehören Meilensteine des kollektiven Gedächtnisses wie die „Winnetou“-Serie und die Edgar-Wallace-Filme („Der Hexer“). Jene Enthüllungsjournalisten, die Reinecker vor Jahren seine alten Propagandaschriften aus dem „Dritten Reich“ („Jugend in Waffen“, „Panzermänner an die Front!“) vorhielten, glaubten damit auch seine späteren Arbeiten für Kino und Fernsehen treffen zu können. Sie sind dem Irrtum erlegen, man könne diesem Autor irgendwelche zweifelhaften Kontinuitäten nachweisen. Es ist aber gerade das eigenartig Chamäleonhafte seiner zweiten Karriere, das ihn so bemerkenswert macht. Sein Werk nach dem Krieg steht – vom schönfärberischen Widerstandsdrama „Canaris“ (1954) über klamme Softpornos wie „Unter den Dächern von St. Pauli“ (1969) bis zur Utopie des kollektiven Freizeitparks auf dem „Traumschiff“ – ganz und gar im Zeichen des Abschieds vom jugendlichen Idealismus der „Pimpfenwelt“ (1940), für die er einst getrommelt hatte. Reineckers Leben ist ein langer Abschied von der Hoffnung auf „Die große Wandlung“ (1938), die er als junger Mann propagiert hatte. Man kann zeigen, daß sich die Erfindung Derricks in diese Absetzbewegung einfügt.

An Reineckers größtem Erfolg hat die Kritik in zweieinhalb Jahrzehnten immer wieder ihre Instrumente erprobt. Schon die erste Sendung, am 20. Oktober 1974, wurde heftig verrissen. Aber wie zum Hohn der Kommentatoren stieg die Serie um so höher in der Gunst des Publikums, je mehr die Fernsehkritik auf der Fadheit der Figuren, der Spannungslosigkeit der Handlung, der Öde des ewig gleichen Münchner Milieus herumritt. Der unaufhaltsame Aufstieg „Derricks“ zu einem weltweiten Fernseherfolg – am Ende in nahezu hundert Ländern – wurde von der ohnmächtigen Presse zunächst wütend, dann ironisch und schließlich resigniert zur Kenntnis genommen. Umberto Eco, sonst nicht um erhellende Analysen populärer Mythen verlegen, erklärte schließlich Derricks Beliebtheit aus seiner Durchschnittlichkeit.

Mit solchen Tautologien können wir uns nicht zufriedengeben. Zu unserer bundesrepublikanischen Welt der siebziger und achtziger Jahre gehört Reineckers Figur, ob es uns paßt oder nicht, wie die Tele-Knabberbar, der autofreie Sonntag, Afri-Cola und die funktionale Differenzierung. Wir haben ihn immer belächelt, wir haben Witze gerissen über sein Haarteil, die ölig glänzende proletarische Entenschwanzpomadenfrisur. Aber wenn er im Herbst vorläufig von uns geht, werden wir ihn vielleicht doch noch vermissen. Zeit für eine Bilanz.

Es ist höchst bezeichnend, wie das Ende für die Serie sich im letzten Herbst ankündigte. Nicht der Autor wollte nämlich die Sache beenden, sondern sein Hauptdarsteller, Horst Tappert. Die Serie sei ihm zu „philosophisch“ geworden, bekannte er in mehreren Interviews. In der Tat hatte Reinecker seit Jahren die ohnehin meist ziemlich spannungsfreien Plots nur mehr als Vorwand benutzt, um seinen Helden Leitartikel über die Entfremdung des Menschen, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft und die Eitelkeit allen Strebens aufsagen zu lassen. Der Oberinspektor hatte immer noch oft in den Villen des Münchner Vororts Grünwald zu ermitteln; aber die konkreten Leidenschaften der Legion von Lehrer-Triebtätern, Drogen-Jugendlichen, Unternehmer-Vätern, der ehebrecherischen Frauen, schmierigen Witwenmörder und Huren mit Herz durften ihn am Ende weniger und weniger interessieren. Derricks Fälle waren immer blassere Illustrationen der transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Menschen. In Reineckers eigenen Worten, anläßlich seines Achtzigsten geäußert: „Schöner wohnen außen? Schöner wohnen innen muß man. Innen schön wohnen ist ein Problem dieser Zeit, die es allen zunehmend schwerer macht, sich wohl zu fühlen. Mir geht es um Aufklärung, um Seinsmitteilungen. Heidegger hat in einem Seminar gesagt: ,Die Atombombe ist ja längst explodiert, und zwar ganz lautlos, es ist die Entwurzelung der Menschen und im Zusammenhang damit zunehmende Entfremdung.'“

„Derrick“ ist das dramaturgische Vehikel für solche Seinsmitteilungen. Die Serie hatte sich von Beginn an durch und durch der Kulturkritik verschrieben. „Derricks“ Welt ist nicht heil, wie eine oberflächliche Kritik behauptet; sie ist vielmehr völlig aus den Fugen. Die Serie ist eine feste Bastion derjenigen, die von der schleichenden Kulturrevolution der siebziger Jahre rechts liegengelassen worden waren: Die Auflösung der Familie, die Drogenproblematik, der Generationenkonflikt, die Infragestellung von Autorität, Hierarchie und Elite, der Ideologieverdacht gegen einst hochgeachtete „Sekundärtugenden“ wie Fleiß, Pünktlichkeit und Loyalität – um solche Krisenerscheinungen kreisen die bis heute fast 300 Folgen mit bemerkenswerter Besessenheit. Es könnte sein, daß hier das typisch Deutsche am Phänomen „Derrick“ zu finden ist – und zugleich eine Erklärung für seinen internationalen Erfolg. Es ist oft genug gesagt worden, daß der Oberinspektor zum weltweiten Botschafter des „guten Deutschen“ geworden ist. Aber was ist denn das Gute an diesem guten Deutschen Stephan Derrick?

Er ist ja kein moralischer Idealist, kein Gutmensch, der sich über die conditio humana einen blauen Dunst vormacht. Dafür hat er zuviel gesehen. Wir wissen es nicht, aber wir können vermuten, daß Stephan Derrick im Krieg war, vielleicht noch ganz am Ende, als junger Mann, an irgendeiner Front. Er hat Ähnlichkeit mit jenen „hohlen Männern“, die aus dem Krieg ins Zivilleben zurückkehrten und doch nie wieder heimisch wurden, die nie wieder „innen schön wohnen“ konnten. Er spricht nicht darüber. Vielleicht hat er einmal an etwas geglaubt. Jedenfalls sind ihm die tiefen Blicke anzumerken, die er in die „Menschen-Mörderwelt“ (Reinecker) hat werfen müssen. Er ist ein Wissender, ein Pessimist, der sich allerdings bewußt ist, daß man auf dem Pessimismus keine Ordnung errichten darf, weil dann das Schlimmste wahr wird. Er weiß um den „defekten Menschen“ und seinen „Kern, der gebildet ist aus Angst, Unsicherheit, Depression und Schuldgefühlen“ (Reinecker). Er sieht die Welt als ein „Gräberfeld, unendlich weit und tief, auf dem man mit jedem Spatenstich aus der Erde holt, was dort begraben wurde, wie um es aus der Welt zu schaffen“ (Reinecker). Derrick dient zwar dem Rechtsstaat und hält sich an seine Verfahrensregeln – kaum je benutzt er die Waffe, und seine Tricks sind immer nur psychologischer Art -, aber es ist offensichtlich, daß unter seinem Anzug von Peek & Cloppenburg das Herz eines Existentialisten schlägt – stets der Geworfenheit des Menschen eingedenk. Er hat sich in den Dienst von Recht und Gesetz gestellt, nicht weil er von einer Vision des guten Lebens getrieben ist, sondern gerade weil er weiß, daß der Mensch haltlos und zu allem fähig ist. Mag sein, da war einmal etwas in seiner Jugend, ein Glühen, ein Engagement, ein Sicheinlassen. Wir wissen es nicht, aber wir müssen es vermuten. Es hat sich jedenfalls als nichtig erwiesen, und der Schmerz darüber ist ganz und gar in existentialistisches Lamento verwandelt worden. Stephan Derrick ist – das macht ihn zum international anschlußfähigen guten Deutschen – autoritären Lösungen durchaus abhold. Sein Vorgänger, Kommissar Keller mit dem speckigen Honeckerhütchen, war noch ein patriarchaler Kleinbürger, der immerhin seinen Bezirk der Welt souverän aufzuräumen vermochte. Derrick hingegen muß es bei den tiefen Blicken belassen, die keiner so kann wie er. Es wird keine gute Ordnung geben. Alle Übel der Welt bleiben in der Welt. Derrick hat der Hoffnung auf eine erfüllte Zeit entsagen müssen, und er darf sich höchstens gelegentlich mit einem ohnmächtigen Sarkasmus für den Verzicht entschädigen. Er ist durchaus für Sitte, Moral und Anstand, aber nicht weil er daran glaubt. Er lebt nach dem von Robert Musil formulierten Motto: „Ideale und Moral sind das beste Mittel, das große Loch zu füllen, das man Seele nennt.“ Weil er selber im tiefsten Innern ein solcher Lochmensch ist, kann er die Verbrecher verstehen. Seine Fälle löst er durch Einfühlung. Dadurch bleibt ihm am Schluß auch noch die Genugtuung verwehrt, allen Fahndungserfolgen zum Trotz. In seiner Physiognomie kommt beides zum Tragen, das mimetische Verhältnis zur anderen Seite – und das Bedürfnis nach einer scharfen Abgrenzung: Die traurigen Augen mit ihren schweren Tränensäcken, die immer überzulaufen drohen, werden von der ölig schimmernden und doch helmähnlich hart sitzenden Frisur konterkariert.

Aber halt: Derrick existiert nicht für sich allein. Er wird erst vollständig, wenn man Harry Klein, den rätselhaften Assistenten, seinen Schatten, seine Abspaltung, mit in Betracht zieht. Derricks längst zum Kult gewordener Satz „Harry, hol schon mal den Wagen“ verweist auf die kriminaltechnische Nichtigkeit seines Knechts. Es macht nichts, daß der Satz in keinem „Derrick“-Drehbuch wörtlich vorkommt, er sagt doch die Wahrheit über Harry Klein. Man hat Fritz Wepper ein paar Fälle lösen lassen, wenn Horst Tappert krank oder auf Theatertournee war – aber nur, um ihn nach der Rückkehr des Chefs wieder zum Stichwortgeber zurückzustufen. Alle möglichen gewagten Hypothesen sind schon an diesem Paar ausprobiert worden. Man hat an ihnen die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht explizieren wollen und sie an literarischen Vorbildern von Don Quijote und Sancho Pansa über Diderots „Jakob und sein Herr“ bis zu Becketts Clowns gemessen. Man hat sie als kryptoschwules Paar zu deuten versucht. Vergebens, wie Fritz Wepper nicht ohne Witz deutlich gemacht hat: „Wir könnten auch die Heroen der Lesbenszene sein, weil wir geschlechtslos sind.“ Die Replik trifft ins Schwarze: Das bemerkenswerte an diesem untrennbaren Paar ist, daß es weder dialektische Spannung noch auch den geringsten Hauch männerbündischer Erotik kennt.

Im Rückblick hat es etwas Unheimliches, wenn man sich klarmacht, daß man Fritz Wepper über ein Vierteljahrhundert in dieser subalternen Rolle hat versumpfen sehen. Er war ja mal, was längst vergessen ist, ein international chancenreicher Jungstar. Nach seinem Auftritt als flotter Gigolo in „Cabaret“ kam der Anruf aus Hollywood. Doch Wepper war bei Reineckers „Kommissar“ unter Vertrag und mußte passen. Seither ist er zur fleischgewordenen Allegorie der verpaßten Chance geworden. Ausgerechnet im Jahr 1968 hatte er als Harry Klein angeheuert, und bis heute ist er diesen Part nicht losgeworden. Er ist jetzt 56 Jahre alt und immer noch Jugenddarsteller. Das Ende von „Derrick“ zum Greifen nah, aber eine eigene Hauptrolle ferner denn je: Wepper als Harry Klein ist das wandelnde Sinnbild der deutschen Enkelgeneration und ihrer Schwierigkeiten mit der Machtfrage.

In den bunten Blättern läßt Harry Klein manchmal kleine Sticheleien gegen seinen Dienstherrn los, die freilich seine Subalternität nur noch offensichtlicher machen: Er habe ein paar weiße Haare, gesteht er, werde sie aber nie färben lassen, geschweige denn ein Toupet aufsetzen. Das ist zwar ganz schön frech – allein, was hilft’s: Sein Problem bleibt die Unfähigkeit, erwachsen zu werden – die Unfähigkeit zum Vatermord. Fritz Wepper betreibt, wie man hört, seit zehn Jahren buddhistische Meditation. Damals, sagt er, habe er einen „großartigen Zen-Meister“ getroffen: „Ich hatte plötzlich eine Identität mit meiner Person. Wenn ich meditiere, ziehen die Gedanken wie Wolken vorüber.“ Aber auf die Dauer sind esoterische Identitätserlebnisse und Selbsterfahrungstrips eben doch kein Trost für das verwehrte eigene Leben. In selbstironischen Momenten erzählt Wepper gerne, daß sich in Japan der Glaube breitgemacht habe, „in Deutschland habe jeder einen Harry“. Das ist überhaupt nicht so absurd, wie es im ersten Moment klingt. Die Japaner haben völlig recht. Derrick ist der gute Deutsche. Aber jeder Deutsche hat einen Harry in sich. Und umgekehrt: Harry Kleins stets aufs neue vertagte Beförderung ist eine eindrucksvolle Chiffre des allseits beklagten Reformstaus hierzulande. Man möchte sogar sagen: Deutschland – mit seiner Unfähigkeit zum Machtwechsel und seinem institutionalisierten Phlegma – ist Harry Klein. Unterdessen steht fest, wie aus dem ZDF zu erfahren ist, daß Oberinspektor Stephan Derrick in der letzten Folge zur Europol-Zentrale versetzt werden wird. Das wird seinem prominentesten Fan gefallen, dem amtierenden Bundeskanzler. Die letzte Sendung läuft übrigens am 18. September, das ist neun Tage vor der Bundestagswahl.

Was wird am Ende der Ära Derrick aus Harry Klein? Er solle „möglicherweise“, verlautet vorsichtig aus der Krimiredaktion, eine eigene Samstagsreihe bekommen, in der er „das Büro Derrick weiterführen“ könne. Na also! Bleibt nur noch die Frage: Wer holt denn dann den Wagen?