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Wir sind wieder wer – aber wer? Deutschland zwischen Hegemonie und Selbstverzwergung

 

Für die aktuelle Ausgabe der ZEIT habe ich mit dem Kollegen Marc Brost eine Einschätzung der deutschen Außenpolitik geschrieben – zum morgen beginnenden G-8 Gipfel. Der Text steht auf der Seite 3 der Zeit von morgen:

Thomas de Maizière hat einen Nebenberuf. Er ist jetzt zweiter Chefdiplomat der Regierung. Seine erste Mission: Reparaturarbeiten im westlichen Bündnis. Der neue Verteidigungsminister lächelt verbissen, als er am Mittwoch der vergangenen Woche vor die Generalität von Heer, Luftwaffe und Marine tritt. Hier, in der Julius-Leber-Kaserne im Berliner Stadtteil Wedding, will er die Truppe für einen historischen Schnitt begeistern – den Umbau der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee. Aber de Maizière hat an diesem Tag noch mehr vor. Er will Signale nach draußen senden: an die Verbündeten.

Nein, liebe Freunde, wir melden uns nicht ab.
Nein, wir gleiten nicht klammheimlich ab, in Neutralismus und Isolation.
Der Neue spricht vom level of ambition seiner Truppe und davon, dass er die Zahl der einsatzbereiten Soldaten steigern wolle – um ein Drittel, auf 10 000 Mann. Dann gestattet er sich noch eine Unfreundlichkeit in Richtung des Kabinettskollegen Westerwelle. Man müsse künftig nicht nur jeden Einsatz begründen, sagt der Minister, sondern auch bedenken, »welche Folgen ein Nicht-Einsatz hat«.
Das Wort Libyen fällt nicht. Aber das Signal an die deutschen Verbündeten ist auch so klar: Wir wissen, dass euch unsere Enthaltung im UN-­Sicherheitsrat nicht eingeleuchtet hat. Wir sind zu verflochten mit der Welt, um uns noch einmal auf einen deutschen Sonderweg zu begeben. Wir hatten uns da nur kurzfristig etwas verlaufen.
Für Angela Merkel kommen diese Signale gerade rechtzeitig. An diesem Donnerstag und Freitag trifft die Kanzlerin auf die Mächtigen der G 8, der wichtigsten Industriestaaten. Und die Agenda dieses Wirtschaftsgipfels ist geprägt von den außenpolitischen Erschütterungen.

Im französischen Deauville wird über die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten gesprochen werden – und über mögliche Hilfe des Westens. Seit der Libyen-Entscheidung steht Merkel unter Druck. Man konnte es merken, als sie sich etwas übereifrig über bin Ladens Tod freute – als hätte sie bei den amerikanischen Freunden, die sie eben noch ohne Not im Stich gelassen hatte, etwas gutzumachen. So paradox können die Folgen des Nicht-Einsatzes aussehen.
Man wird in Deauville aber auch über Japans Notlage reden, die Folgen der Atomkatastrophe, die Euro-Krise und Afghanistan. Viel hängt dabei von Deutschland ab – schon wegen der Schwäche der anderen. Japans Wirtschaft wurde durch Erdbeben, Tsunami und Super-Gau um Jahre zurückgeworfen. Amerika ist strukturell überschuldet und außenpolitisch überdehnt. Großbritannien unterliegt brutalen Sparzwängen. Frankreich und Italien kommen mit erratischen Chefs schlecht durch die Krise, und beider Länder politische Kulturen sind durch die Skandale um »Bunga Bunga« und Dominique Strauss-Kahn tief erschüttert. Sieht man von den Zaungästen Kanada und Russland ab, läuft alles auf die Deutschen zu, die als Einzige die Krise nahezu unbeschadet überstanden haben.
Merkel wird das zu spüren bekommen, im Kreis der anderen Regierungschefs. Selten war Deutschland so wichtig – und zugleich so isoliert wie heute. Die Regierung agiere »ausweichend, abwesend, und unvorhersehbar«, heißt es in einem Thesenpapier des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Die Gleichzeitigkeit von Euro-Krise und neuem deutschen Wirtschaftswunder macht Deutschland zu einer unverzichtbaren Nation. Aber ein Land, auf das es derart ankommt, wird auch anders angeschaut. Wir sind wieder wer – aber wer?


Brüssel, vor einem Jahr: Es ist Montag früh, kurz nach halb drei, als Thomas de Maizière, damals noch Innenminister, vor die Fernsehkameras tritt. Er hat dunkle Ringe unter den Augen, seine Stimme klingt leiser als sonst, ein wenig brüchig. Griechenland steht vor der Staatspleite. Die Europäische Union ist entschlossen, sie zu verhindern. Stundenlang hat der Deutsche anstelle des erkrankten Wolfgang Schäuble mit seinen europäischen Kollegen verhandelt, sie haben über die Höhe der Finanzhilfen gefeilscht und an den Details eines Rettungsschirms gearbeitet. Nun ist klar: Europa legt ein 500 Milliarden Euro großes Hilfspaket auf, dazu kommen weitere 250 Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Es ist der 10. Mai 2010, und an diesem Morgen steht Europa fest zusammen.
Wenige Stunden später an diesem Montag treten in Berlin die Kanzlerin und ihr Außenminister vor die Presse. Die Situation erinnert an einen spektakulären Auftritt zu Beginn der Finanzkrise: Damals, im November 2008, wandten sich Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück im Kanzleramt direkt an die Bürger. Die Regierung garantierte die Sicherheit aller Spareinlagen im Land. Nun, knapp anderthalb Jahre später, geht es nicht mehr um die Banken, sondern um die Währung, die Summen sind größer, und die Zweifel sind es auch. Wieder zielt Merkels Botschaft auf die Geldbeutel der Bürger: »Wir schützen das Geld der Menschen in Deutschland«, sagt sie.
Das passt zu den Schlagzeilen, mit denen die Bild-Zeitung in jenen Wochen Stimmung macht: »So verbrennen die Griechen die schönen Euros« oder »Deutschland darf nicht für die Zocker bluten«. Um die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen, muss die Kanzlerin an diesem Tag sagen, dass uns die Rettung Griechenlands nichts kosten werde. In Wirklichkeit hatten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union schon im Februar vereinbart, bei der Rettung der Euro-Zone bis zum Äußersten zu gehen.
Gegenüber den eigenen Bürgern Härte signalisieren – innerhalb Europas aber trotzdem fast alles mitmachen: Merkels Taktik befremdet nicht nur die Deutschen. Sie entfremdet manch andere Nationen immer mehr von uns.
Die Griechen glauben, wir wollten sie nur retten, damit wir ihnen weiter unsere U-Boote verkaufen können.
Die Iren fürchten, wir wollten sie nur knebeln, um dadurch unsere Banken zu retten.
Auch die Spanier demonstrieren gegen die Sparauflagen der EU, hinter denen sie als Drahtzieher die Deutschen vermuten.
Deutschlands Regierung fordert »Stabilität«, andere Regierungen verlangen »Solidarität«. Dazwischen liegen Welten. Zwar wird die deutsche Position von vielen Ländern, gerade in Nordeuropa, unterstützt. Aber weil Berlin und Paris sich verzanken, statt, wie üblich, Europa Hand in Hand zu führen, steht Deutschland plötzlich als Spalter da.
Hätte man das vergangene Jahr auf einer einsamen Insel verbracht – ohne Telefon, Fernsehen und Internet –, dann würde man sich nach der Rückkehr doch wundern, was sich in der Zwischenzeit alles getan hat. Gigantische Rettungspakete, Änderungen am EU-Vertrag, die Errichtung eines ständigen Krisenfonds: Alles, was die Deutschen zunächst vehement ablehnten, ist doch eingetreten. Europa ist so eng zusammengewachsen wie nie. Nur redet man nicht darüber: in den Nachbarländern nicht, weil man mit der deutschen Sonderrolle auch trefflich von den eigenen Versäumnissen ablenken kann. In Deutschland nicht, weil man lieber die Euro-skeptische Stimmung im Land bedient.
So hat der Begriff der Isolation etwas Schillerndes. Manchmal sucht Deutschland aktiv die Sonderrolle – zum Beispiel wenn es darum geht, bei den Euro-Rettungspaketen auch die Beteiligung privater Gläubiger durchzusetzen. Manchmal schreiben die anderen auch Deutschland eine Sonderrolle zu – etwa wenn es heißt, dass vor allem die Bundesregierung auf härtere Sparmaßnahmen in Griechenland, Portugal oder Irland dringe. Deutschlands wirtschaftliche Stärke, seine wirtschaftspolitische Tradition und seine geografische Lage lassen das Land zwangsläufig  zu einer Projektionsfläche für Wünsche und Verwünschungen werden. »Entweder werden wir kritisiert, weil wir nicht führen. Oder es ist vom deutschen Diktat die Rede«, sagt ein hoher Regierungsbeamter. »Dazwischen gibt es nichts.«
Allerdings irrlichtern auch die Botschaften aus Berlin zwischen Hegemonieanspruch und Selbstverzwergung. Die Bundesregierung hat keine Scheu, die anderen Staaten der Euro-Zone verbal zu maßregeln. Doch wenn es darum geht, einem Diktator unter UN-Mandat in den Arm zu fallen, versteckt man sich selbst gern hinter einer »historisch gebotenen Kultur der Zurückhaltung«.
Angela Merkel hat das historisch-moralische Pathos aufgegeben, mit dem alle Kanzler bis Helmut Kohl einst von Europa als Friedensprojekt sprachen. Sie folgt eher Gerhard Schröder, der auch schon klagte, in Brüssel würde »deutsches Geld verbraten«. Die deutsche Europapolitik wird heute von anderen kollektiven Erinnerungen – und anderen Interessen – getragen als zu Zeiten der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Von 662 Mitgliedern des Bundestages hatten nur 38 schon vor 1989 ein Mandat. Und es ist ein Unterschied, ob man die Wiedervereinigung Europas als historisches Ziel oder als selbstverständliche Voraussetzung seiner Arbeit sieht.
Gleichzeitig verschieben sich Deutschlands ökonomische Interessen – zur Beunruhigung seiner Nachbarn – immer weiter aus der Euro-Zone heraus. Laut ECFR wuchs der deutsche Handel mit China zwischen Anfang 2009 und Mitte 2010 um 70 Prozent. Wenn sich das fortsetzt, könnte China als Exportland für Deutschland schon Ende dieses Jahres so wichtig sein wie Frankreich.
Laurent Wauquiez hat derzeit öfter Gelegenheit, den sagenhaften Blick von der französischen Botschaft am Pariser Platz auf das Brandenburger Tor zu genießen. Der französische Europaminister, ein drahtiger 36-Jähriger mit grauem Wuschelkopf, erinnert gern daran, dass er hier in Berlin einst seinen ersten Marathon gelaufen ist und mit hängender Zunge, aber glücklich durchs Ziel ging. Er ist Sarkozys offizieller Deutschenversteher, und das ist zur Zeit ein harter Job, bei dem man Langstreckenatem brauchen kann.
Für Wauquiez ist es alarmierend, dass Deutschland Europa nicht mehr so sehr braucht wie umgekehrt Europa die Deutschen. Es bereitet ihm Sorge, dass immer mehr Bürger östlich des Rheins nicht Europa retten, sondern vor Europa gerettet werden wollen. Er ist dieser Tage oft in Deutschland unterwegs, um in sehr gutem Deutsch für Frankreichs Sicht zu werben. Ebenso wichtig ist es ihm, in Frankreich zu erklären, was an der neuen deutschen Euro-Frostigkeit verständlich ist: »Ich verstehe, dass europäische Solidarität den Deutschen heute nicht leichtfällt. Deutschland erntet die Früchte einer Dekade der Reformen, und jetzt soll man mit denen teilen, die dazu nicht in der Lage waren?« Wauquiez kann geradezu schwärmen von dem, was »Deutschlands Sozialisten unter Schröder« geschafft haben – und scheut sich auch nicht zuzugeben, dass seine konservative Regierung in Frankreich sich bisher daran die Zähne ausbeißt. Er glaubt nicht, dass man die Deutschen mit historischen Pathosformeln an Europa binden kann. Die Zeit der großen Gesten ist vorbei. Die Europäer müssten den Deutschen ihr Interesse an Europa nahebringen. Nur gemeinsam könne man etwa gegen Chinas Verhandlungsmacht bestehen.
Doch in der Nahostpolitik bahnt sich schon das nächste Debakel an: Angesichts der Absicht der Palästinenser, im September einen eigenen Staat auszurufen, haben Deutschland (keine Anerkennung) und Frankreich (Anerkennung) sich wieder einmal gegeneinander profiliert. Bevor daraus ein Muster wird: Über solche Dinge könnte man in Deauville vielleicht mal reden.
Wenn Frankreich den Deutschen in Sachen Europa nicht mehr so moralisch kommen soll, wird das aber auch auf Gegenseitigkeit beruhen müssen. So mitfühlend Laurent Wauquiez über Deutschlands Euro-Sorgen spricht, so kühl wird er, wenn es um die Atompolitik geht. Mag sein, dass wir unsere Libyen-Wende nicht mit euch abgesprochen haben. Dafür habt ihr uns mit der Energiewende überfahren. Für ein Land mit 80 Prozent Atomstrom ist es von Bedeutung, wenn der Nachbar das plötzlich zum Teufelszeug erklärt.
Deutschlands neue Exponiertheit bringt es mit sich, dass Bluffs, abrupte Wenden und Widersprüche auffliegen: Ihr könnt, kann die Welt jetzt sagen, nicht in Meschede bei einer CDU-Veranstaltung für innenpolitischen Gewinn mal eben auf die griechischen Frührentner ein­prügeln, wenn die Kreditlinien von ganz Südeuropa von eurer Gunst abhängen. Ihr solltet vielleicht ein bisschen warten, bis ihr einen Atomausstieg als globales Modell hinstellt, den ihr vor einem halben Jahr noch revidieren wolltet. Eure Bekenntnisse zu den Menschen- und Völkerrechten (»Der Diktator muss gehen«) werden künftig daran gemessen werden, ob ihr gegebenenfalls für sie einzutreten bereit seid. Und einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bekommt ihr nur, wenn wir den Eindruck haben, dass ihr mit eurem Stimmrecht mehr anfangen könnt als Enthaltung.
Drei Muster deutscher Außenpolitik haben sich zuletzt herausgeschält. Erstens: Man tut etwas, das man angeblich aufgrund der eigenen Werte ablehnt – wie in der Euro-Krise. Zweitens: Man lehnt ab, was die anderen tun, obwohl man angeblich deren Werte teilt – wie in der Libyenkrise. Oder drittens: Man tut plötzlich etwas, was alle anderen ablehnen – wie in der Atompolitik.
Natürlich ist gut, wenn Deutschland nun seinen außenpolitischen »level of ambition« erhöht. Aber dabei geht es nicht in erster Linie um mehr Soldaten. Sondern um den Anspruch, den Deutschland an sich selbst stellt. Pathetisch gesprochen: Wie ernst dieses Land sich nimmt. Die anderen tun es sowieso.
»Wir haben uns viel vorgenommen«, sagt ­Thomas de Maizière am Ende seiner Rede in der Berliner Julius-Leber-Kaserne. Dann prasselt der Applaus seiner Generale. Der Neue kommt an bei der Truppe – gerade mangels Charisma und Pomp. Doch de Maizières nüchternes Werben für mehr deutsches Engagement (»Wohlstand erfordert Verantwortung«) wirft auch Rätsel auf. Es steht ­nämlich quer zum Wirken von Draußenminister Westerwelle, der gern mit Formeln wie »Abzugsperspektive«, »Nichtbeteiligung« und »Zurückhaltung« hantiert. Was also gilt? Und wer gilt was innerhalb der Regierung?
Angela Merkel hatte die Enthaltung ihres Außenministers in der Libyen-Frage vor Wochen noch unterstützt. Aber kann ausgerechnet derjenige die Außenpolitik mit wachsendem Anspruch planen und verkörpern, der sie zuvor geschrumpft hat? Je mehr sich Deutschland nun wieder seinen Bündnispartnern nähert, desto isolierter wird Westerwelle in der eigenen Regierung sein.