Gestern sah ich einen aufwühlenden Film mit Tobey Maguire, Jake Gyllenhal und Natalie Portman in den Hauptrollen – „BROTHERS“. Der Film ist ein Remake eines dänischen Films, der auch sehr gut sein soll (den kenne ich aber nicht). Er handelt von zwei ungleichen Brüdern, einem Soldaten und einem Ex-Kriminellen, und der Frau, die beide lieben.
Der eine Bruder geht zum zweiten Mal nach Afghanistan, während der andere gerade nach einer Haftstrafe (wegen Raubüberfalls) entlassen wird. Der Soldat stirbt bei einem Hubschrauberabsturz (oder so scheint es jedenfalls zunächst). Sein Bruder kümmert sich um die hinterbliebene Ehefrau (Portman), zu der eine tiefe Bindung entsteht.
Zusammen lernen die beiden, ohne den Bruder/Ehemann zu leben.
Doch dann stellt sich heraus, dass dieser gar nicht tot ist, sondern von den Aufständischen gerettet und gefangen gehalten wurde. Die Taliban wollen ihn und seinen Kameraden zwingen, auf einem Video die amerikanische Kampagne zu denunzieren. Lange verweigert er sich, trotz fürchterlicher Folter. Sein Kamerad bricht zusammen und macht die Video-Aussage.
Schließlich zwingen die Taliban Tobey Maguire mit vorgehaltener Waffe, seinen für sie wertlos gewordenen Mitgefangenen zu töten.
Er tut es in einem Anfall wahnsinniger Wut und Verzweiflung.
Schließlich wird das Lager der Aufständischen von den Amerikanern überrannt. Der Soldat wird befreit und nach Hause zurückgebracht.
Und hier beginnt für mich der bewegende Teil dieses Films, der mich fort von Afghanistan und zurück in meine eigene Kindheit transportiert hat.
Tobey Maguire ist großartig in der Rolle des Heimkehrers, der nicht wieder zu Hause ankommt. Niemandem kann er erzählen, was er getan hat um zu überleben, auch nicht der eigenen Frau. Vielleicht gerade ihr nicht, weil das Unglück nicht in die Familie getragen werden soll. Seine Kinder nehmen ihm übel, dass er abwesend war, als sie Geburtstag feierten. Er versteht ihre Witze nicht mehr, ihre kleinen Sorgen und Freuden. Er ist allein, eingesperrt in seinen Erfahrungen. Er will wieder ins Feld, zu den Kameraden, die ihn verstehen.
Ich war als Kind von solchen Männern umgeben, den ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die an Leib und Seele verstümmelt waren. Der eine ohne Arm, der nächste ohne Bein, mein Onkel ohne Zehen. Ich konnte nicht mit ihnen reden, ich wollte ihre Geschichten nicht hören. Sie haben das als Anmaßung eines Nachgeborenen erlebt, als moralische Überhebung. Dabei war es zunächst einmal nur panikhafte Angst vor dem Grauen, das manchmal aufblitzte, wenn sie etwas erzählten. Mein Onkel Viktor (welche abgrundtiefe Ironie in diesem Namen) war nach vielen Jahren sibirischer Gefangenheit in das Eifeldorf zurückgekehrt, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Seine erste Reise war gleich nach Stalingrad gegangen.
Die Erfrierungen an den Füßen waren noch die geringste Wunde, die er mitgebracht hatte.
Einmal erzählte er von seiner Arbeit im Begräbniskommando des Lagers. Tage dauerte es, in dem Permafrostboden Gräber auszuheben. Auch die Leichen waren gefroren, wenn man sie aufeinander stapelte, erzählte er, „machte es ein Geräusch wie Holz“. Einer seiner Freunde erzählte, wie er nach den ersten tödlichen Schüssen auf feindliche Soldaten heulen musste – und wie dann später jegliche Empfindung beim alltäglichen Töten abstarb und es etwas völlig Normales wurde.
Ich antwortete auf solche Erzählungen mit Abscheu und zur Schau getragenen moralischen Grundsätzen, ich wurde Pazifist aus Horror vor den Abgründen, von denen die Männer erzählten. Es war eine Form der Abwehr. „Du hältst dich wohl für was Besseres“, tobte der Onkel, als ich ihm eröffnete, ich würde nicht zur Bundeswehr gehen. „Wir hatten damals keine Wahl.“ Er hatte durchaus Recht, es lag eine gewisse Überheblichkeit in meinem Pazifismus, der mich nichts kostete. Aber er war auch neidisch auf mein Aufwachsen in historischer Unschuld, auf meine „Gnade der späten Geburt“.
Keiner wollte bei uns zu Hause die schrecklichen Geschichten hören. Ich kann das einerseits immer noch verstehen aus der Ungeheuerlichkeit der deutschen Schuld heraus. Aber heute tun mir die stummen, wütenden, verwundeten Männer leid, die damals an den deutschen Küchentischen saßen – und doch nie wirklich heimgekehrt sind.
Viktor war kalt und brutal geworden über seinen Erfahrungen. Alle hatten Angst vor ihm. Er sympathisierte mit den Neonazis, las die „National-Zeitung“. Zeitweilig habe ich ihn gehasst. Nicht alle Veteranen waren so wie er. Manche haben andere Konsequenzen gezogen. Ihm war das nicht gegeben. Sein Weg blieb bis zum Ende das Ressentiment. Er hat eine Spur des Unglücks in seiner Familie hinterlassen. Vielleicht können die Enkel sich eines Tages davon freimachen.
Tobey Maguire findet am Ende des Films die Kraft, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Ob er wieder ins Leben zurück findet, bleibt offen. Ein Anfang immerhin ist gemacht.
Mein Onkel Viktor und Hunderttausende andere deutsche Besiegte haben das nach dem Krieg nicht geschafft. Lange konnte ich mir das offenbar nicht erlauben, und damit war ich wahrscheinlich nichts Besonderes: Doch heute erfasst mich Trauer bei dem Gedanken an Viktor, den Verlierer.
‹ Alle Einträge