Mein „Politisches Feuilleton“ für das Deutschlandradio (hier hören) von heute:
Eine Tatsache, die man dieser Tage über die Macht lernen kann, ist, dass sie nicht unbedingt da ist, wo man sie vermutet. Deutschland strebt einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, einen Platz am weltpolitischen Tisch der Erwachsenen. Es scheinen sich aber Zweifel eingeschlichen zu haben, ob das noch zeitgemäß ist. Zu Recht.
Denn dahinter steckt ein überlebtes Konzept von deutscher Macht und Bedeutung. Man kann das sehen, seit Deutschland ein sogenanntes „nicht ständiges Mitglied“ im Sicherheitsrat ist – also auf Zeit und mit beschränkten Rechten. Die Erfahrung dieses Jahres ist ernüchternd.
Erst haben die Deutschen sich bei der Libyen-Entscheidung an die Seite Chinas und Russlands gestellt, und wurden dafür von den alten Verbündeten kritisiert. Diese Deutschen, so ätzten Amerikaner, Briten und Franzosen, braucht wirklich niemand im Sicherheitsrat. Jüngst hat Deutschland dann versucht, eine scharfe Resolution gegen Syrien zu forcieren, um dem Diktator Assad in den Arm zu fallen. Prompt scheiterte die Sache nun an Russen und Chinesen. Und dabei hatte der Außenminister die doch zu neuen strategischen Partnern der Deutschen erklärt.
Dann ist da noch die Sache mit Palästina: Deutschland stimmt gegen die Aufnahme des Landes in die UNO, obwohl wir doch für Palästinas Unabhängigkeit eintreten. Wir tun das für Israel. Plausibel machen kann man das niemandem.
Nach fast einem Jahr im Sicherheitsrat weiß keiner, wofür Deutschland warum steht. Und warum es unbedingt dabei sein will.
Es zeigt sich ein merkwürdiges Paradox: Deutschland agiert ohnmächtig und widersprüchlich im machtvollsten Gremium der Welt. Zugleich hat Deutschland in der internationalen Politik mehr Macht und Bedeutung, als seinen Politikern manchmal lieb ist. Die Macht aber ist nicht da, wo man sie vermutet, und sie äußert sich nicht durchs Abstimmungsverhalten am East River in New York. Deutschland ist zu klein – und diese Regierung zu desorientiert – für eine unabhängige Politik im Sicherheitsrat.
In Europa dagegen ist Deutschland heute zu groß, keine eigenständige Politik zu verfolgen. Die Eurokrise hat Deutschland vor aller Augen zum unverzichtbaren Land auf dem Kontinent gemacht. Darin liegt eine gewisse Ironie, war der Euro doch eine französische Erfindung, die ursprünglich das neue, große, wiedervereinigte Deutschland einhegen sollte. Es ist anders gekommen. Der deutsch-französische Motor, so spottete kürzlich ein britischer Kommentator, gleiche heute einem BMW-Motorrad mit einem Peugeot-Beiwagen. Am Steuer sitzt Angela Merkel, und Nicolas Sarkozy muss sich im Beiwagen kräftig mit in die Kurve legen, immer in die Fahrtrichtung der deutschen Kanzlerin.
Noch jedes Mal haben die Franzosen mitziehen müssen, wenn die Deutschen vorangingen: Ob es darum geht, zu welchen Bedingungen die Griechen gerettet werden, wann es einen Schuldenschnitt geben, oder welche Stabilitätskriterien in Europa gelten sollen; wie die Banken an der Rettung zu beteiligen sind, oder wie groß der Hebel des EFSF sein soll – immer sind es die Deutschen, die sich durchsetzen. Frankreich hingegen ist sechs Monate vor einer Präsidentenwahl in Gefahr, von den Ratingagenturen herabgestuft zu werden.
In der deutsch-französischen Partnerschaft wollten die Franzosen die Deutschen früher ausbalancieren. Heute dient sie dem Zweck, Frankreichs Schwäche und Deutschlands Stärke zu kaschieren. Frankreichs ständiger Sitz im Sicherheitsrat ist da nur noch ein schwacher Trost.
Deutschlands wahre Macht liegt heute in Europa. Unsere Sicherheit und Stabilität hängt von den Staatsschulden unserer Nachbarn ab, von faulen Krediten in ihren Banken, von ihrem Rating. Die Massenvernichtungswaffen, die unser System gefährden, stecken nicht in einem Bunker in Nahost, sondern in den Schließfächern unserer Kreditinstitute und den Haushaltsplänen unserer Partner. Sie zu entschärfen, wird lange Verhandlungen und starke Nerven brauchen.
Und deswegen wird Deutschland im Sicherheitsrat kaum gebraucht. In Europa aber umso mehr.