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„Der Euro ist kein Ziel“

 

Mit meiner Kollegin Alice Bota habe ich die Außenminister Tschechiens und Schwedens zum Gespräch über Europas Krise gebeten.  Aus dem Europa-Schwerpunkt der ZEIT von morgen, 8. Dezember 2011, S. 3.  Ort des Geschehens: Bonn, am Rande der Afghanistan-Konferenz.

Nils Daniel Carl Bildt, geboren 1949 in Halmstad, stammt aus einem dänischen Adelsgeschlecht und einer schwedischen Politikerdynastie. Bildt war als Journalist tätig, ehe er mit 24 Jahren Sekretär der Konservativen Partei wurde. Von 1991 bis 1994 war er Ministerpräsident. 1995 wurde er Balkan-Vermittler, 2006 kehrte er in die schwedische Politik zurück.

Karl von Schwarzenberg, geboren 1937 in Prag, stammt aus einer der ­ältesten Adelsdynastien Europas. 1948 verließ seine Familie enteignet die Tschechoslowakei. 1990 kehrte der Fürst zurück – als rechte Hand von Václav Havel. Seitdem macht Schwarzenberg Politik – seit zwei Jahren mit seiner Partei TOP 09.

Zwei Außenminister, die es auf drei Staatsbürgerschaften bringen und eine Stunde lang in zwei Sprachen über die Zukunft Europas reden, mal auf Deutsch, dann wieder auf Englisch, zwischendurch Nachrichten aus Schweden und Tschechien – geht es noch europäischer? Mitten im Interview schreibt Schwarzenberg etwas auf einen gelben Zettel und schiebt ihn den Journalisten zu. Darauf steht: »Im dritten Monat ist es sinnlos, vor der Gefahr zu warnen, schwanger zu werden.« Auch so kann man auf das blicken, was wir derzeit erleben.

 

DIE ZEIT: Herr Bildt, Herr Schwarzenberg, erleben Sie die heutige europäische Krise als dramatischsten Moment in Ihrem politischen Leben?
Karl Schwarzenberg: Dramatischer war für mich November/Dezember 1989. Aber es gibt keinen Zweifel, dass dies eine sehr ernste Situation ist. Wobei wir zwei ja in der merkwürdigen Lage sind, zwar begeisterte Europäer, aber beide nicht Mitglieder der Euro-Zone zu sein.
Carl Bildt: Auch aus meiner Sicht war 1989 am dramatischsten. Damals musste Europa neu anfangen, und wir wussten nicht, ob es gut geht.
ZEIT: Können Sie also als Mitglieder zweier Nicht-Euro-Länder etwas mit Angela Merkels Satz anfangen: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa«?
Schwarzenberg: Ich halte das für übertrieben. Der Euro ist zwar ein wichtiges Schlüsselprojekt, aber das europäische Projekt ist ein politisches, kein wirtschaftliches. Der Euro ist ein Instrument, kein Ziel. Auch wenn es den Euro nicht gäbe, würde Europa in veränderter Form überleben. Aber wir erleben zweifellos einen existenziellen Moment.
Bildt: Ich stimme Karl zu – wenn der Euro scheitert, dann wird es massive politische Folgen haben. Es wäre eine andere EU als heute. Aber es wäre immer noch eine. Allerdings bin ich mir sicher, dass in fünf Jahren der Euro eine stärkere Währung auf dem Weltmarkt sein wird als der Dollar.
ZEIT: Der jetzige EU-Gipfel gilt als Wegscheide für Rettung oder Zerfall der Euro-Zone.
Bildt: Ich halte die Erwartung an den Gipfel für übertrieben. Mir scheint akut fast wichtiger, was die Italiener an Reformen vorgestellt haben. Auf dem EU-Gipfel wiederum wird über das Langfristige beraten – welche Vertragsänderungen sind notwendig, damit das alles nicht wieder passiert?
Schwarzenberg: Ich bin bei den beabsichtigten Vertragsänderungen skeptisch. Wollen wir wirklich in einem Moment, da das Ansehen des europäischen Projekts an einem Tiefpunkt ist, neue Abstimmungen in den einzelnen Ländern wagen? Das finde ich sehr kühn.
ZEIT: Deshalb will Deutschland ja unbedingt die Vertragsänderungen: um sicherzugehen, dass der Weg der Reformen nicht verlassen wird.
Schwarzenberg: Es ist ein deutsches Dogma, wie es Morgenstern in seinem Spottgedicht ausgedrückt hat, »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«. Probleme durch neue Vorschriften zu lösen, das ist festgefügt in deutschem Denken. Leider hält sich die Wirklichkeit nicht immer an die Vorschriften.
Bildt: Es wäre schon toll, wenn die Regeln, die wir bereits haben, beachtet würden. Wäre das der Fall gewesen, hätten wir uns die Krise erspart.
Schwarzenberg: So ist es!
Bildt: Wir haben ja schon viel getan: Wir haben die Rettungsschirme aufgespannt und die Six-Pack-Regeln zur Verschärfung des Stabilitätspakts vereinbart – das alles bedeutet eine Vertiefung der europäischen Integration. Brauchen wir noch mehr? Das einzige Land, das so denkt, ist Deutschland. Aber wenn zum Beispiel Irland ein Referendum abhalten müsste, könnte es schwierig werden.
Schwarzenberg: Es wäre nicht das einzige Land, wo es schwierig wäre.
Bildt: Allerdings.
ZEIT: Man könnte die Abstimmungen umgehen, indem die Vertragsänderungen zwischenstaatlich beschlossen werden.
Bildt: Das geht bei geringfügigen Änderungen – aber sind diese dann auch wirklich notwendig? Soll hingegen künftig etwa der Europäische Gerichtshof die Entscheidungen der einzelnen Parlamente kontrollieren, dann werden Grundsätze der parlamentarischen Demokratie infrage gestellt.
Schwarzenberg: Jede Regierung empfindet die parlamentarischen Rechte gelegentlich als lästig – was sie auch manchmal sind! Aber wir haben jahrhundertelang darum gekämpft, dass Regierungen in Europa nicht ohne Zustimmung ihrer Bürger entscheiden sollten. Wir sollten bei diesem Prinzip bleiben.
ZEIT: Die richtige Medizin kann man nur verabreichen, wenn man weiß, woran der Patient leidet. Was ist der tiefere Grund für diese Krise?
Bildt: Im Vordergrund stehen die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa. Der Norden und der Osten sind heute wettbewerbsfähig, der Süden nicht. Deshalb braucht es Reformen.
ZEIT: Kann diese Kursänderung gelingen?
Bildt: Diese Unterschiede sind ja nicht gottgegeben. Es liegt zum großen Teil an der Fähigkeit der Politik, die Wirtschaft ihrer Länder zu reformieren. Das kann langwierig und schwierig werden – aber es ist möglich. Schauen Sie sich die Länder im Osten an! Vor zwanzig Jahren waren das bankrotte Ökonomien. Heute gehören die Slowakei und Polen zu den europäischen Spitzenreitern.
Schwarzenberg: Ich glaube, dass der Urgrund der Krisen seit 2008 ein moralischer ist. Die Politiker in Europa haben über Generationen hinweg mehr Geld ausgegeben, als sie eingenommen haben. Politiker haben vor Wahlen Zuckerl an die Wähler verteilt. Dass diese bezahlt werden müssen, haben wir geflissentlich ignoriert. Auch die Bankenkrise beruht auf moralischem Versagen. Computerspezialisten haben an den Börsen mit Geld spielen dürfen, das nicht das Ihre war – ja nicht einmal das der Bank! Das war die Schuld der Banker, aber Politiker haben sie dabei unterstützt.
ZEIT: Bringt die Krise auch eine Chance, diese Art von Verantwortungslosigkeit hinter uns zu lassen?
Bildt: Schauen Sie Schweden und die anderen nordischen Staaten an. Wir wurden lange Zeit als vorbildliche Wohlfahrtsstaaten angesehen. Dann erlebte erst Dänemark in den späten achtziger, danach Finnland in den neunziger Jahren eine tiefe Krise. Wir waren hoch verschuldet und verloren unsere Wettbewerbsfähigkeit. Dann haben wir eine Reihe von schmerzhaften Entscheidungen gefällt. Heute geht es den Ostseestaaten gut. Auch der Türkei geht es nach sehr schwierigen Zeiten in den Neunzigern ausgezeichnet. Es liegt also nicht an den Genen, sondern daran, dass man aus Fehlern lernt.
Schwarzenberg: Leider lernen wir meist erst, wenn wir hart aufschlagen. Gott sei Dank hat Deutschland aus der entsetzlichen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg gelernt. Die hat die deutsche Wirtschaft so ruiniert, dass der Boden für die Nationalsozialisten bereitet wurde. In Ländern wie Italien hat ein vergleichbarer Schock nicht stattgefunden.
ZEIT: Soll Europa also nach deutschem Bilde umgestaltet werden? Schon regt sich Kritik an einem deutschen Krisenimperialismus.
Schwarzenberg: Umgekehrt hat der polnische Außenminister, unser Freund Radek Sikorski, Deutschland vorgeworfen, dass es zu wenig tut. Ich glaube, wir sollten das Schreckgespenst deutscher Übermacht wieder dorthin verweisen, wo es hingehört, nämlich in den Mummenschanz der Geschichte. Dass derjenige, der aus Tüchtigkeit und Fleiß reich wird, mit der Zeit dominant wird, das ist völlig richtig. Frankreich ist ein potenziell reiches Land, Italien ist erfindungsreich. Sie müssen sich am Riemen reißen und wieder so arbeiten, wie es ihre Großväter getan haben. In Deutschland findet ja kein Wirtschaftswunder statt, sondern man hat nur das Arbeitsethos nicht ganz aufgegeben, wie in manchen Teilen Europas.
ZEIT: Angela Merkels Methode, den Euro nur immer fast zu retten, damit die Sünderländer mit ihren Reformen weitermachen, ist also richtig?
Bildt: Aus historischen Gründen loben wir die Deutschen entweder in den Himmel – oder wir klagen sie an. Aber das ist zu einfach. Man kann Berlin nicht die politischen Fehler von Athen und Rom anhängen. Allerdings: Berlin hat vor Jahren selbst gegen den Wachstums- und Stabilitätspakt verstoßen. Ich war damals empört, weil ich die Folgen fürchtete. Wenn ausgerechnet diejenigen, die die Regeln schreiben, dagegen verstoßen, geht die Disziplin des ganzen Systems den Bach runter.
Schwarzenberg: Das war ein schweres Vergehen gegen den europäischen Geist.
ZEIT: Selbst wenn die deutschen Bemühungen fruchten: Die europäische Vision von Einheit in Freiheit, die sich 1989 erfüllt hat, trägt nicht mehr, eine neue ist nicht in Sicht. Fehlt Europa ein Ziel?
Schwarzenberg: Lasst uns dafür dankbar sein, dass diese Vision Realität ist. Aber ist sie schon voll umgesetzt? Wir müssen jetzt die Aufnahme der Balkanstaaten so schnell wie möglich vorwärtstreiben, und wir müssen auch sehr verantwortungsvoll an die Aufnahme der Türkei, der Ukraine und langfristig auch hoffentlich Weißrusslands denken. Das ist ein Prozess für Jahrzehnte, aber das sollten wir nie aus den Augen verlieren.
Bildt: Hat Europa kein Ziel? Was wir die letzten zwei Jahrzehnte geschafft haben, kommt einem Wunder gleich: 100 Millionen Menschen, zehn Staaten, die historisch immer die Quelle von Instabilität zwischen Deutschland und Russland waren, sind nun in Europa und im Westen verankert. Das ist mehr, als irgendwer hätte erwarten können. Nun müssen wir unseren Verpflichtungen auf dem Balkan nachkommen. Das Gleiche gilt für die Türkei. Sie hat die dynamischste europäische Wirtschaft und ein demografisches Potenzial, das Europa dringend braucht.
ZEIT: Aber jetzt an eine EU-Erweiterung zu denken ist für fast alle Staaten ein Tabu. Und für Politiker ein Selbstmordprogramm.
Schwarzenberg: Es ist ein Tabu in manchen westeuropäischen Staaten! Wir sprechen uns laut und deutlich dafür aus, dass dieser Prozess weitergetrieben werden muss. Die Scheu vor einer weiteren Aufnahme ist eine Scheu der Reichen davor, den armen Verwandten in sein Haus zu lassen.
Bildt: Wenn wir für diese Länder die Tür zu Europa schließen, öffnen wir sie für die Nationalisten in diesen Ländern mit Folgen, die wir aus der europäischen Geschichte gut kennen.
ZEIT: Jetzt von Erweiterung zu reden könnte wiederum die Rechtspopulisten in Europa stärken.
Schwarzenberg: Es ist trotzdem ein Fehler, ihnen entgegenzukommen. Als Haider in Österreich mit ausländerfeindlichen Sprüchen punktete, haben die Parteien der Mitte begonnen, sich seine Themen in abgemilderter Form zu eigen zu machen. Das hat die Menschen nur darin bestärkt, dass Haider richtig lag.
Bildt: Politische Führung kann auch populistische Ideen entzaubern. Die deutsche Vereinigung war in den europäischen Nachbarländern nicht gerade populär. Aber jeder Verantwortliche wusste, dass es nur diesen Weg geben kann. Am meisten Sorgen bereitet mir allerdings, dass die Medien immer häufiger Auflage mit nationaler Polemik gegen den Rest der Welt machen. Das war früher nicht so. Das schlimmste Beispiel bietet England.
ZEIT: Macht die Abwesenheit einer europäischen Vision diese populistischen Bewegungen stark?
Bildt: Das ist ein wichtiger Punkt. Am Anfang stand das »Nie wieder Krieg«. Dann galt es, die Einheit Europas in Freiheit zu vollenden. Nach 1989 musste im Osten ein freies Europa aufgebaut werden. Heute ist der Frieden gesichert, aber nun müssen wir die Rolle Europas im globalen Kontext definieren. Frühere Entwicklungsländer wie Indien und China werden zu globalen Zentren. Das ist eine neue Situation. Für einige Länder ist die Globalisierung eine Bedrohung, für andere dagegen ein Versprechen. Und wir müssen vermitteln, welche fundamentale Aufgabe wir vor uns haben.
ZEIT: In den letzten Monaten haben die Europäer wie nie zuvor übereinander diskutiert, auch in den Medien. Entsteht eine europäische Öffentlichkeit?
Schwarzenberg: Meine Generation ist noch mit nationalen Medien aufgewachsen. Die Generation meiner Enkel studiert quer durch Europa. Die lesen englische, amerikanische oder deutsche Zeitungen. Da entsteht etwas Neues, aber sehr langsam.
ZEIT: Gerade diese jüngere Generation bezahlt aber einen hohen Preis. In vielen EU-Ländern sind 20 bis 50 Prozent der unter 30-Jährigen arbeitslos.
Schwarzenberg: Die lernen es jetzt hart. Die vorigen Generationen hatten das historische Glück, in einer Zeit des 60-jährigen Aufschwungs aufzuwachsen. Das ist in der Weltgeschichte höchst selten, wurde aber als selbstverständlich hingenommen.
Bildt: Es ist paradox: Einerseits haben wir diese viel zu hohe Arbeitslosigkeit bei den Jungen, andererseits werden uns Arbeitskräfte in Europa fehlen.
ZEIT: Machen Sie sich keine Sorgen, dass die Krisenbewältigung Europa auseinandertreibt?
Bildt: Es darf nicht so weit kommen, dass eine Art Politbüro aus einigen starken Nationen Europa führt. Ich mache mir aber insbesondere Gedanken darüber, ob Großbritannien abdriftet.
ZEIT: Ihr Kollege William Hague, der britische Außenminister, scheint das Wegtreiben zu befürworten.
Bildt: Soweit ich weiß, schätzt er die europäische Integration und Zusammenarbeit viel mehr, als er am Anfang selbst vermutet hat.
Schwarzenberg: Es liegt nicht nur an den Briten. Einige Politiker machen keinen Hehl daraus, dass ihnen ein Europa ohne Großbritannien lieber wäre. Aber woher kommen denn die europäischen Werte des Rechtsstaats, der Demokratie und der Meinungsfreiheit, wenn nicht aus dem englischen Denken? Wenn dieser Beitrag verloren geht, dann wäre das eine entsetzliche Verarmung Europas.
ZEIT: Wie stellen Sie sich Europa in zwanzig Jahren vor?
Bildt: Meine Vision ist, dass wir dann nicht mehr 500, sondern 600 Millionen sein werden. Dass wir die größten Teilungen überwinden, ob sie nun religiöser, nationaler oder anderer Art sind. Die einzige bedeutende europäische Nation, die nicht zur EU gehören würde, wäre Russland. Denn Russland hat eine andere Vorstellung davon, wo es hin will. Aber alle anderen Nationen sind dazu bereit, die Teilung ihrer Souveränität zu akzeptieren, die vermutlich dann weitreichender sein wird als jetzt. Die meisten Themen, die uns dann beschäftigen werden, werden global sein – ob es nun um Klima geht, Wirtschaft oder Frieden.
ZEIT: Und Ihre Vision, Herr Schwarzenberg?
Schwarzenberg: Wir werden, wie Charles de Gaulle gesagt hat, ein Europa der Vaterländer sein. Dass wir in einer Generation den europäischen Menschen entwickeln – das glaube ich nicht. Wir werden noch immer Schweden, Böhmen, Italiener oder was weiß ich bleiben …
Bildt: Auch Bayern!
Schwarzenberg: Und das ist eigentlich gut so. Wir pflegen den freien Austausch, und wir nähern uns auch durch die Angleichung der Rechtssysteme an. Aber ich glaube nicht, dass wir je so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa werden. Und ich hoffe doch, dass wir wieder ein stärkeres Verantwortungsgefühl entwickeln. Das fehlt mir am meisten in der Politik.