In Syrien nähert sich das Regime dem Ende, wie jetzt auch die russischen Freunde zugeben. Ein informierter deutscher Kenner der Lage brachte es kürzlich auf die Fußballmetapher „80. Minute, mit möglicher Verlängerung“. In weiten Teilen des Landes kontrolliert der bewaffnete Widerstand mit seinen ca. 60.000 Kämpfern den Boden. Das Regime hat durch die Luftwaffe und Artilleriewaffen (die dem Widerstand fehlen) immer noch die Möglichkeit, großen Schaden anzurichten. Die Widerstandskräfte führen dagegen einen Abnutzungskrieg mit Kleinwaffen, die vor allem aus der Türkei, aber auch über die irakische und jordanische und libanesische Grenze ins Land gebracht werden. Die Motivation und Leidensfähigkeit der Widerstandskämpfer sind hoch einzuschätzen, sie haben hohe Verluste erlitten glauben, das Ende des Regimes mit Händen greifen zu können. Umgekehrt motiviert das auch das Regime: Assad ist nun der „Bewahrer der Alawiten“, und es gibt immer noch keine nennenswerten Brüche im inneren Kreis. Die regierenden Alawiten, aber auch die für das Regime kämpfenden Sunniten, haben keine Alternative und werden bis zum Ende kämpfen.
Die wirtschaftliche Lage ist prekär. Assad lässt Geld drucken. Diesel wird knapp, die letzte Ernte war nicht gut, nötige Importe zehren an den Reserven. Iran hält noch zu Assad, aber zunehmend verzweifelt. Man „hätte es selber besser gemacht“, so die Analyse in Teheran über Assads ungeschickt-brutalen Umgang mit dem Widerstand. Iran droht durch den Verlust Syriens der Zugang zum Mittelmeer, die schiitische Achse Teheran-Damaskus-Beirut steht vor dem Aus. Über den Abgang der Hamas aus Damaskus ins sunnitisch-muslimbrüderliche Lager (Katar, Ägypten) ist man in Teheran verbittert. Was, wenn man nun auch noch Hisbollah über Assads Untergang verliert? Eine schlimme Schwächung des so wichtigen Störpotenzials: Hatte doch Teheran zuletzt, über Hisbollah und Hamas, über Krieg und Frieden in Nahost (mit)entschieden.
Innerhalb oder neben dem vielgestaltigen Widerstand gibt die Jabhat al Nusra besonders Anlass zur Sorge. Sie wird als syrische Al-Kaida-Filiale bezeichnet, aber das ist nicht korrekt. Es handelt sich um eine eigenständige, sehr effektive Terrororganisation, die der Kaida ideologisch verwandt ist und auch Wurzeln bei der Kaida im Irak hat. Ihr Unterstützernetzwerk reich tief in die Türkei, was es für reisende Dschihadistenkader leicht macht, dazu zu stoßen. Sie verfolgt aber Ziele in Syrien und zielt auf ein groß-syrisches Emirat (das dann auch das „befreite Israel“ beinhalten würde). Weite Teile des Widerstands sehen das Problem, das mit der JaN nach dem Fall Assads erwächst: Wird diese sich dann gegen die Versuche wenden, einen neuen syrischen Nationalstaat zu errichten, weil der ja ihren Emiratsplänen entgegensteht? Derzeit aber wird sehr wohl bei Anschlägen kooperiert. Mit ihren auf bis zu 1.000 geschätzten Kämpfern hat die JaN bereits über 500 Anschläge verübt, und dies seit der Gründung vor eineinhalb Jahren. Die Gefahr, dass diese Dschihadisten die Chemiewaffen Assads nutzen könnten, ist dennoch gering, weil das Knowhow zum Einsatz nahezu vollständig in den Kreisen der alawitschen Militärelite bewahrt wird. Wegen der Todfeindschaft der Dschihadisten gegen die Alawiten ist ein Wissenstransfer auszuschließen.
Während das Ende näher rückt, stellt sich die Frage, was dann kommt? Es gibt keine „große Idee“ des Widerstands, auch keine charismatische Figur, die die über 200 Gruppen vereinen könnte. Die wesentlichen Akteure der Opposition haben viele Jahre im Exil verbracht und sind kaum im Lande bekannt. Immerhin gibt es seit jüngstem ein militärisches Oberkommando des Widerstands aus Soldaten, die im Land gekämpft haben. Klar ist, dass in Syrien die Muslimbrüder eine wesentliche Rolle spielen – und spielen werden. Möglich, dass sie auch hier, wie in Tunesien und Ägypten, nach dem Ende am meisten Konzentration und Disziplin aufbringen, um das Machtvakuum zu füllen. Sie werden sich dann einer hochaggressiven, überaus erfolgreichen dschihadistischen Truppe gegenübersehen, die keine syrische Republik will, in der Alawiten, Sunniten, Christen und Kurden friedlich miteinander leben.
Dann wird sich die Frage stellen, ob das besondere syrische Selbstbild einer arabischen Republik über den Wechsel halten kann – einer Republik, die es geschafft hat, die verschiedenen Ethnien und Religionen friedlich miteinander oder wenigstens nebeneinander leben zu lassen. Oder ob danach die Zeit der Rache kommt und das Chaos regiert, das für alle Minderheiten unerträglich wird.