Eigentlich freut man sich ja immer über Reaktionen auf eigene Blogposts. Aber das hier ist dann doch leider ein zwiespältiges Vergnügen. Die jungen Wissenschaftler von der Frankfurter Uni, die sich in ihrem Forschungsprojekt mit den „transnationalen Eskalationsmechanismen gewaltsamer Dissidenz“ befassen, haben auf meinen Post über die Zarnajews (und auf Yassin Musharbashs Reaktion darauf in seinem Blog) reagiert.
In guter (deutscher) akademischer Manier beginnen die Kollegen mit einer Definition. Wovon ist überhaupt die Rede, „was ist Terrorismus“?
Wir folgen Daase/Schindler und definieren Terrorismus als „Situation in der ein nicht-staatlicher Akteur gezielt manifeste Gewalt gegen Zivilisten einsetzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten und einen Staat zur Veränderung seiner Politik zu zwingen“. In diesem Sinne ist terroristische Gewalt eine variabel angewendete Form politischer Gewalt unter anderen, wenn auch eine besonders verwerfliche.
Eigentlich könnte man an dieser Stelle dann gleich die Debatte abbrechen. Was auch immer die Zarnajews mit ihrem Akt erreichen wollten, „einen Staat zur Veränderung seiner Politik zu zwingen“ ist nach meinen bisherigen Erkenntnissen nicht Top-Priorität. Selbst wenn sie das in einigen kolportierten Äußerungen so nahelegen – es stellt sich doch wohl die Frage, wie ernst diese Rationalisierungen in diesem Fall zu nehmen sind. In anderen Worten: Wenn die obige Definition zugrunde gelegt wird, dann handelt es sich hier nicht um Terrorismus. Case closed?
Nein, die Enge der Definition ist das Problem. Sie betreibt erstens – in kritischer Absicht – die Rechtfertigung terroristischer Gewalt, weil sie Motivationsfaktoren ausblendet, die einer Deutung im Wege stehen, an deren Ende jeder Terrorismus „eine variabel angewendete Form politischer Gewalt unter anderen“ ist. Ich meine „irrationale“ Motivationsfaktoren wie Ressentiments, privates Unglück, Depressionen, religiös oder sonstwie verstärkten Gruppenhass, Gruppendruck etc. Bei der Rekrutierung /Selbstrekrutierung von Terroristen spielen diese Faktoren eine große, variable Rolle, je nach Umstand. Wer Terrorismus als immer „variabel angewendete Form politischer Gewalt“ verstehen will, blendet das gerne aus.
Es ist m.A. nach zu unterscheiden zwischen Formen des Terrorismus, die diese Definition erfüllen (bspw. Zionisten gegen Britisches Mandat, teilweise auch die im Post erwähnten Anarchisten) – und anderen Formen von Terrorismus, die keine „politische“ Gewalt sind, sondern apokalyptische, eliminatorische Gewalt zur Beendigung, Durchkreuzung und Verunmöglichung von Politik (verstanden im Sinn von Vertrag, Kompromiss, Aushandeln).Sie richten sich nicht an einen Staat, sondern gegen Staatlichkeit per se. Selbstmordattentate z, B. haben die anti-hobbesianische Botschaft in sich, dass die Grundlage aller rationalen Politik, die Angst vor dem Tode und der Wunsch zur Selbsterhaltung, nicht mehr gilt. Sie richten sich gegen den Kern jedes Gesellschaftsvertrages, das macht sie zu einer so fürchterlichen Waffe. Die Barbarisierung der anderen Seite wird bewusst mit in Kauf genommen, es geht nicht nur darum, den Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern um die Zerstörung jedes Vertrauens beim Gegner. Ziel ist seine Vertreibung, besser noch Elimination. (Siehe z. B. die Attentate auf schiitische Moscheen im Irak.)
Wenden sich die Zarnajews an den amerikanischen (oder russischen) Staat, den sie zur Veränderung seiner Politik zwingen wollen? Ich kann nicht sehen, wie das Marathon-Attentat damit erklärt werden kann. Sind die Medien nicht vielmehr der Adressat? Twitter, Facebook, CNN, und auch wir hier, die wir uns jetzt darüber beugen. Ist die Tat nicht vielmehr (auch!) einzuordnen in einer Celebrity-Kultur mit Versprechen von Instant-Ruhm? Der ältere Zarnajew hat, wie man heute weiß, von großem Ruhm durch sportliche Erfolge geträumt. Auch Rapper wollte er zeitweise werden. Der Zusammenbruch der Familie ist offenbar sehr bedeutsam für seine zunehmende Entgleisung. Wie dann die Politik – und welche Politik – ins Spiel kommt, um „das große Loch zu füllen, das man Seele nennt“ (R. Musil), das ist die interessante Frage. Was sagen die Frankfurter Forscher dazu?
Zu glauben, man könne hier „Psychologisierung“ von der „politischen Gewalt“ abtrennen, ist naiv. Es ist eine Gratis-Geste, Worte wie „Herrschaftsverhältnisse“ und „Machtverhältnisse“ in die Runde zu werfen: Was ist damit gemeint? Amerikas globale Dominanz? Der Finanzkapitalismus? Der „Krieg gegen den Terror“? Ein fragiles Patriarchat in tschetschenischen Familien? Die wahrgenommene Niederlage „des Islam“?
Ich habe den Eindruck, ohne dass die Autoren das aussprechen, es soll gezeigt werden, dass Terror wie der der Zarnajews eine irgendwie falsche Antwort auf die richtige Frage ist, eine fehlgehende Reaktion auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Ich will nicht ausschließen, dass es terroristische Akte gibt, die man so deuten kann. Dieser gehört nicht dazu, glaube ich. Ist das „blinde Verteufelung“?