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Syrien als Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs

 

Mein Wochenkommentar im Deutschlandradio vom vergangenen Samstag (Audio hier):

Mark Sykes hieß der britische Soldat und Diplomat, der den Nahen Osten schuf, so wie wir ihn kennen. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ich möchte eine Linie ziehen vom O in Akko bis zum letzten K in Kirkuk.“ Akko, das liegt am Mittelmeer bei Haifa, Kirkuk im Norden Iraks.

Sykes bekam seinen Willen: In einem Geheimabkommen mit seinem französischen Konterpart François Georges-Picot teilte er während des Ersten Weltkrieges die Reste des Osmanischen Reiches in Einflusssphären auf. Frankreich bekam das spätere Syrien und den Libanon, Großbritannien das Gebiet südlich davon zwischen Mittelmeer, (dem späteren) Jordanien und Irak. Mark Sykes‘ berühmte Linie im Sand, vor fast genau hundert Jahren gezogen, schuf am Reißbrett eine neue Ordnung, ohne Rücksicht auf ethnische und konfessionelle Zusammenhänge.

Heute erleben wir den Zerfall dieser Ordnung und die Wiederkehr alter Konflikte. Sykes‘ und Picots Linien, die die syrische Wüste und Mesopotamien durchschnitten, werden vom Sand verschluckt. Die auf ihnen errichteten Staaten – Syrien, Irak, Libanon, bald vielleicht auch Jordanien – zerbröseln unter dem Druck von Krieg und Bürgerkrieg.

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Im syrischen Krieg hat sich die westliche Erwartung nicht erfüllt, dass auch Assads Regime fallen würde wie zuvor die Autokratien in Tunesien, Ägypten oder Libyen. Regime und Rebellen können sich vielleicht noch lange gegenseitig in Schach halten. Letzte Woche kam das Eingeständnis der USA, dass es keine vertretbare Option gibt, zugunsten der Aufständischen das Blatt zu wenden. Mehr als symbolische Unterstützung mit Kleinwaffen und Ausbildern wird es nicht geben. Eine Woche zuvor waren die Briten bereits von ihrer Absicht abgerückt, Waffen an Oppositionelle zu liefern. Die Botschaft an die Rebellen ist so klar wie bitter: Ihr seid auf Euch allein gestellt.

Der Kampf gegen die Tyrannen ist nur noch ein Motiv des Geschehens in der Region. Andere überlagern es: In der Post-Sykes-Picot-Welt zwischen Beirut, Damaskus und Bagdad wird ein regionaler Stellvertreterkrieg ausgefochten, der alle Grenzen schleift: Die sunnitische Al-Kaida des Irak unterstützt syrische Dschihadisten gegen das alawitisch geprägte Regime Assad; Teherans Mullahs wiederum stützen Assad mit Spezialkräften; die libanesisch-schiitische Hisbollah, ebenfalls von Iran finanziert, massakriert mitten in Syrien sunnitische Aufständische; die Golfstaaten, besonders Katar, pumpen Milliarden in den Kampf gegen die „schiitische Achse“.

Überall stehen sich Schiiten und Sunniten gegenüber. Syrien ist zum Schlachtfeld eines uralten Konflikts geworden, allerdings mit absurden Zuspitzungen: Die iranischen Theokraten stützen das säkulare Assad-Regime, während die absoluten Monarchen des Golfes eine Opposition aus Demokraten und Dschihadisten finanzieren, die sie zuhause sofort einkerkern lassen würden.

Der Westen kann heute keine Linien mehr in den Sand ziehen wie einst Sykes und Picot. Da gibt es keinen Grund zur Nostalgie. Aber der Untergang der westlich oktroyierten Ordnung ist auch kein Grund für postkoloniale Genugtuung. Was tritt an ihre Stelle? Ist stabile Staatlichkeit zwischen Libanon, Syrien und Irak überhaupt möglich? Oder bleibt sie ein Intermezzo zwischen Bürgerkriegen? Einstweilen profitieren die Gegner von Freiheit und Menschenrecht vom Staatszerfall – Saudis und Kataris, Iraner, und dahinter Russland und China.

Für die Hoffnung auf Demokratie in der Region, wie sie mit dem „Arabischen Frühling“ aufkam, bedeutet das Verschwinden von Mark Sykes‘ Linien im Sand nichts Gutes.