Zu dem Ägypten-Text von Michael Thumann und mir erreicht mich folgender Leserbrief von Pfarrer Konrad Knolle, den ich hier als eigenen Beitrag zur Debatte stellen möchte. Knolle war ab Oktober 2002 für mehrere Jahre Pastor der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo:
Ein Putsch ist ein Putsch, ein Despot ein Despot, und ein Massaker ist ein Massaker.“ Natürlich muß man diesem Satz zustimmen, auch für Ägypten. Und doch stimmt das alles irgendwie nicht, wie Sie das schreiben.
Warum nur kann ich mich beim Lesen des Gefühls nicht erwehren, dass Ihrem Beitrag Entscheidendes fehlt? Könnte es sein, dass die Autoren die Sorgen und Ängste eines großen Prozentsatzes der ägyptischen Bevölkerung vor der Herrschaft der Muslimbruderschaft nicht ernst zu nehmen scheint? Könnte es deswegen so sein, dass der Beitrag so seltsam „allgemein richtig“ ist, berichtend über eine Situation im Land, in der zurzeit wirklich nichts Richtiges zu finden ist? Könnte es sein, dass die Vorstellung, man hätte die Bruderschaft und ihre Partei doch einfach wieder abwählen können, den Charakter der Muslimbruderschaft und ihrer Partei schlichtweg fehleinschätzt?
Schon unter Mursi brannten Kirchen und Klöster, sollten den Christen mehr und mehr Rechte abgeschnitten werden, landeten Oppositionelle in den Gefängnissen der neuen islamistischen Herrscher. Dass die Muslimbruderschaft Milizen ausbildete, ist erwiesen und kein Gerücht der „Anderen“. Wer den Wahlkampf von 2012 beobachtet hatte, konnte schon damals erkennen, wo das hinführen werde unter einer islamistischen Regierung.
Warum bootete die Bruderschaft alle säkularen Kräfte und auch die Christen aus dem Gremium zur neuen Verfassung aus? Rief jemand „PUTSCH!“ als Mursi sich und seine politischen Entscheidungen über das Recht setzte und sich autokratisch selber für juristisch unangreifbar erklärte? Rief jemand „ACHTUNG!“ als er den Generalstab von unliebsamen Gegnern (übrigens nicht nur die alten Mubarak-Gefährten!) säuberte und mit Sissi einen ihm genehmen Oberbefehlshaber einsetzte, der nun allerdings gegen ihn „putschte“? Wo war die Kritik am Umgang Mursis mit den 22 Millionen Unterschriften der Tamarod und den neuerlichen Demos auf dem Tahirplatz?
Hat man es gewagt einmal über die Grenze nach Gaza zu schauen, wo heute ebenfalls – gewiß kein Zufall! – eine sich als „Tamarod“ bezeichnende Gruppe gegen das „Baby“ der Muslimbruderschaft, die Schreckensherrschaft der Hamas, auflehnt? Nicht kompromißbereit seien die Generäle; wie weit kann man aber – angesichts offensichtlichen Praxis der Muslimbrüder – dem islamistischen Wolf trauen, wenn er mit Kreidestimme „Frieden“ sagt und eigene Gewalt-Macht meint? Welche „zivilen“ und „demokratischen“ Handlungsoptionen hat das Militär, wenn es, angesichts einer fehlenden nichtmilitärischen und funktionierenden Polizei, eben doch polizeiliche Funktionen ausübt?
Das Militär will sein ägyptisches Wirtschaftsimperium wahren, sehr wohl. Haben die Autoren ihre Augen auf das Wirtschaftsimperium der Muslimbruderschaft gelenkt? Haben sie Mursis Rede in Teheran am 30.8.2012 und seine entsprechenden Äußerungen danach gelesen? Mursi hatte darin ausdrücklich die (militärische) Unterstützung der islamistischen Oppositionsbewegung gefordert. Warum gingen die Muslimbrüder, als sie an der Macht waren, nicht eindeutig gegen die radikalen Islamisten in ihren eigenen Reihen, sowie gegen jene terroristischen Gruppen in ihrem Schatten, deren Mordbrennerei auf dem Sinai und gegen Christen vor?
Die Muslimbrüder und ihr Mursi sind keine Demokraten. Sie mißachteten die „Rechtsstaatlichkeit“ , die Sourveränität des „Obersten Gerichts“. Sie waren nicht „Regierung für alle Ägypter“, sondern wollten mit Tricks und Gewalt gegen die Opposition die Stunde nutzen, in der sie die Macht hatten, einseitig einen Scharia-Staat zu schaffen und ließen darüber die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes außer Acht. Haben die Autoren mit Taxifahrern, Boabs und Scharellas (Hausmeistern und Haushaltshilfen), den „Menschen auf der Straße“, mit „Intellektuellen“, mit den Menschen der Tamarod, den Vertretern der Christen gesprochen und dabei den wachsenden Zorn, aber auch die wachsende Angst vor den Muslimbrüdern wahrgenommen?
Für die Mordbrennerei gegen die Christen kann man nun wirklich nicht das Militär verantwortlich machen! Für die über tausend Toten muß man sie genauso verantwortlich halten, wie die Heckenschützen der Muslimbrüder. Nein, der Beitrag liest sich wie am Reißbrett entworfen. Es stimmt, das Militär ist der falsche, ein gefährlicher Partner der Tamarod und der Christen und der Demokratie. Aber es war die einzige Kraft, die die Muslimbrüder stoppen konnte.
Ob Ägypten damit geholfen ist? Wohl nicht. Hätten die Muslimbrüder sich irgendwann doch noch zu einer demokratischen Kraft gemausert, sich gar von ihrer fundamentalistischen Ideologie befreit und die Macht demokratisch gestaltet? Bestimmt auch nicht. Manchmal scheint es sogar in der Politik Tragödien zu geben; hier ist eine davon. Die demokratischen Kräfte waren seit Nassers Zeiten bis zu Mursi bekämpfte Gegner und deswegen politisch kaum ausreichend organisiert, der schleichenden Islamisierung des Landes durch die Bruderschaft erfolgreich entgegen zu wirken. Mit nur 51% der Stimmen bei der Wahl des Jahres 2012 hatte die Bruderschaft kein wirkliches Mandat für die aus ihrer islamistischen Ideologie heraus angestrebte, islamische Umgestaltung der Gesellschaft. Dass sie mit den Salafisten kooperierten und alle säkularen Kräfte, wie auch die Christen schon 2012 aus den ersten demokratischen Strukturen verdrängten zeigt, wozu sie bereit waren.
Die Muslimbrüder und Mursi wollten den (demokratischen) Dialog von vornherein nicht. Sie wollten die ganze Macht und hatten längst mit der islamischen Gleichschaltung gesellschaftlicher und politischer Institutionen begonnen. Im Nukleus ließ sich im von der Ablegerorganisation der Bruderschaft, der Hamas, dem dort an die Macht geputschten Terrorregime, auf das gesamte Palästina bezogen eine Minderheit, beherrschten Gaza erkennen, was die Bruderschaft anstrebte: den Liberalen, den Säkularen, den Christen ein Grauen. Dass in dieser Situation die alte Garde der Mubarak-Getreuen ihre Chance wittert, überrascht nicht!
Ich habe mehrere Jahre in Ägypten gelebt und intensiven Kontakt zu den Oppositionsgruppen gegen Mubarak gehabt. Ich war im Mai dieses Jahres wieder dort und habe mit Erschrecken die Angst und den Zorn der Menschen gegenüber der Herrschaft der Muslimbrüder erlebt.
Pfarrer Konrad Knolle