Mein Beitrag zur Titelgeschichte der ZEIT („Mitte des Lebens“) vom 26.2.2014:
Nie wieder kamen in Deutschland so viele Kinder zur Welt wie in dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Ich gesellte mich erst im Dezember dazu, einen Tag vor Ilse Aigner und drei vor Johannes B. Kerner. Da waren wir schon über 1,3 Millionen, wir Vierundsechziger. Jeden Monat kam eine Stadt wie Göttingen dazu, das ist mehr als doppelt so viel wie heute.
Wir waren durch schiere Masse eine Zumutung für Schulen, Vereine, Universitäten. Schon zittern die sozialen Sicherungssysteme vor dem Ansturm unserer Kohorte. So war es immer: Wir mussten uns durchsetzen, auch gegeneinander. Im Rückblick scheint mir, das ist uns gar nicht schlecht bekommen.
Die 64er waren, anders als heutige Kinder, noch keine Selbstverwirklichungsprojekte ihrer Eltern. Das schlug sich bereits in der schlicht-einfallslosen Namensgebung nieder. All die Jörgs, Michaels, Thomas, Sabines, Stefans und Stefanies, Martins und Martinas, Andreas beiderlei Geschlechts – immer kamen sie gleich mehrfach in den Klassen vor. Wir standen als Kinder nicht im Zentrum, wir liefen irgendwie so mit im Leben unserer Eltern. Endlose Nachmittage lang ließen sie uns unbetreut herumstreunen. Wohlwollende Vernachlässigung war der natürliche Erziehungsstil. Wenn man zum Abendessen wieder zuhause war, die Hausaufgaben gemacht hatte und die Noten stimmten, wollten die Eltern erstaunlich wenig über einen wissen.
Wir waren – in Umkehrung späterer Demografieprobleme – zu viele. Über 40 Schüler saßen dicht an dicht in meiner Grundschulklasse, an die 200 Studenten im Proseminar „Neuere amerikanische Geschichte“ des Wintersemesters 1983/84, als ich in Bochum zu studieren anfing. „Schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind“, begrüßte uns der junge Prof, ein 68er, voller Sarkasmus: „Ich verrate Ihnen sicher kein Geheimnis, wenn ich feststelle, dass Deutschland nicht so viele Historiker braucht. Vielleicht überhaupt nicht so viele Akademiker.“
Ich habe darauf mit Trotz reagiert, wie viele andere aus meinem Jahrgang: Das werden wir ja sehen! Historiker sind dann zwar tatsächlich die wenigsten von uns Erstsemestern geworden. Aber irgendwie haben wir es fast alle doch noch zu etwas gebracht – nicht zuletzt um es den 68ern zu zeigen, die gerade erst frisch verbeamtet worden waren und uns nun als lästige „Akademikerschwemme“ behandelten, die ihre schöne linke Uni-Welt überflutete. Sie waren überhaupt eine ziemliche Enttäuschung, die linken Professoren. Sie nervten gewaltig mit ihrem ideologischen Getue. Interessierte man sich auch nur für „unzuverlässige“ Denker wie etwa den Soziologen Niklas Luhmann, stand man schnell unter „Neokonservatismus“-Verdacht.
Wie fern das alles ist! Unvorstellbar für meine Kinder, in einer politisch so brav nach rechts und links geordneten Welt zu leben. Drei biedere Fernsehkanäle, ebenfalls links und rechts identifizierbar, zwei verfeindete Deutschländer mit einer Mauer dazwischen, von der wir ganz genau wussten, dass sie ewig stehen würde. Ein analoger Alltag ohne Computer, Handys und „soziale Medien“. Beziehungsweise: Das soziale Netzwerk bestand aus realen Freunden, bei denen man unangemeldet vorbeischaute, um gemeinsam herumzuhängen.
Wie erstaunlich zuversichtlich die frühen siebziger Jahre in der westdeutschen Provinz waren! Meine Eltern schienen zu glauben, dass es immer irgendwie aufwärts gehen und wir es besser haben würden. Sie sollten recht behalten. Aber irgendwo auf dem Weg ist trotzdem die Zukunftsfreude verloren gegangen. Ich beneide sie um die Selbstverständlichkeit, ja Wurschtigkeit, mit der sie uns erzogen. Ich hätte selbst gerne mehr davon, mehr Gelassenheit gegenüber meinen Kindern. Schon einen solchen Satz hinzuschreiben, wäre meinen Eltern nicht eingefallen.
Das Leben wurde wirklich immer besser. Vierundsechziger wuchsen in beispiellosem Wohlstand auf. Unsere spätere Konsumkritik (die uns freilich nie vom Konsumieren abhielt), mag ein Versuch gewesen sein, mit der Angst umzugehen, dass wir selber nicht in der Lage sein würden, in gleicher Weise Wohlstand zu sichern wie die arbeitswütigen und lebenshungrigen Eltern, die aus den Bombenkellern gekrochen und vom Flüchtlingswagen gesprungen waren.
Ach, die Siebziger! Woher bloß dieser plötzliche Mut, mitten in der Provinz absolut modern zu sein, von dem schon die grellorangefarbenen und hellblauen Vorhänge und Tapetenmuster kündeten! Wenn nicht gerade »autofreier Sonntag« war, fuhren wir mit unserem undeutsch eleganten Citroën DS durchs Dorf zur Jazz-Messe in der kleinen Pfarrkirche St. Johannes Baptist. Ich war, bis zur Pubertät, glühend begeisterter Messdiener. Wir bekamen einen progressiven jungen Pastor, der Mädchen als Messdienerinnen anwarb und aufwühlende Nachtwallfahrten mit Meditation organisierte. Der vollbärtige Lehrer und seine linkskatholischen Hippiefreunde verkauften im Pfarrgemeindehaus fair gehandelte Dritte-Welt-Waren. Der progressive Alltag machte selbst vor unserer Zwergschule mit ihren zwei Klassen keinen Halt. Mengenlehre und Sexualkunde wurden an uns ausprobiert, vor allem Letzteres unter großem Hallo.
Wer als Heranwachsender nichts wusste von den K-Gruppen und von den Kassandrarufen des Club of Rome, von den ersten Schüssen im »Kampf in den Metropolen«, von Männergruppen, Psychoboom, Rasterfahndung und Unregierbarkeit, dem musste die Bundesrepublik der Siebziger als das beste Land der Welt erscheinen. Sexuelles und politisches Erwachen – Testosteron und Terrorismus – haben bei mir erst Ende des Jahrzehnts dieses Gefühl der Geborgenheit zerstört. Bis dahin war die Bundesrepublik für mich wirklich jenes »Modell Deutschland«, als das sie sich unter dem Kanzler Helmut Schmidt darstellte.
Als einsame Vorboten des Unheils habe ich die Plakate in der Filiale der Sparkasse in Erinnerung, auf denen Fotos von grimmigen jungen Leuten zu sehen waren, die einerseits dringend gesucht, vor denen zugleich aber auch gewarnt wurde: »Achtung, Schusswaffen!« Von Zeit zu Zeit wurde ein Foto ausgekreuzt, mit dicken, Genugtuung ausstrahlenden Strichen.
Es kamen unübersichtlichere Zeiten. Ich hatte für Schmidts Nachfolger Kohl nichts übrig, ich fand ihn peinlich und es wäre mir unmöglich gewesen, ihn zu wählen. Doch die extreme Kohl-Verachtung im linken Universitätsmilieu stieß mich ab. Ich fand, er hatte Recht mit seinem Satz von der „Gnade der späten Geburt“. Was war daran falsch? Vielleicht verstand Kohl, der seinen Bruder im Krieg verloren hatte, mehr von der Nazizeit als seine wütenden Kritiker, die ihm Verharmlosung unterstellten.
Wenn ich meine Kinder beobachte, fällt mir auf, dass wir die letzte Generation sind, für die der Weltkrieg noch eine bestimmende Rolle gespielt hat – wenn auch schon vermittelt durch die Eltern. Dabei sind Vierundsechziger eigentlich gar keine richtige Generation sondern nur ein besonders dicker Jahrgang. Es fehlt ein prägendes Gemeinschaftsereignis. Ja, doch, es gibt gewiss Gemeinsamkeiten. Wir sind pragmatischer, hedonistischer und optimistischer als die Vorgänger-Generationen.
Dass die Deutschen so viele Kinder zeugten – so wenige Jahre nach Krieg und Zusammenbruch – war ein Akt des trotzigen Weitermachens. Vierundsechziger sind Kinder der Davongekommenen, die im Wirtschaftswunder die Erinnerung an die Bomben, die Massenmorde und die Vertreibungen hinter sich lassen wollten.
Und es doch nicht schafften:1964 brachte der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt erstmals den ganzen Horror der Lager ans Licht. In konservativen Kleinbürgerfamilien der Provinz wie bei uns zuhause wurde meist das „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit gepflegt, wie es der Philosoph Herman Lübbe treffend genannt hat. Diese Haltung ist nicht zu verwechseln mit Beschönigen oder Leugnen. Das Bewußtsein der moralischen Katastrophe der Nation reichte tief. Die Vertreibung meiner gesamten väterlichen Familie aus Westpreußen, inklusive Totalverlust allen Besitzes, wurde ohne Murren hingenommen, als hätte man dies zwar nicht persönlich, aber eben doch als Volk verdient. Die Vertriebenenverbände mit ihrem lauten Geschrei waren bei uns verhasst. Es gab als Folge eine stumme Entschlossenheit zum „Nie Wieder“. Meine Kriegsdienstverweigerung traf auf stille Genugtuung. Man ließ mich fühlen: Recht so. Es war genug geschossen, es war genug gestorben worden. Da gab es nichts zu debattieren.
Der Onkel mit der Beinprothese, die einarmigen Nachbarn mit den zugenähten Hemdsärmeln, die kriegsversehrten Bettler vor den Kaufhäusern – sie waren noch da, und sie waren Schreckfiguren nicht nur meiner Kindheit. Der eingefleischte Pazifismus führte die 64er allerdings gelegentlich politisch in die Irre. So sehe ich es heute.: Noch den Kampf gegen den Nato-Doppelbeschluss der Regierung Schmidt haben wir mit apokalyptischer Inbrunst geführt, um nicht so zu enden wie die Kriegsteilnehmer in unseren Familien.
Über 300.000 kamen 1981 in den Bonner Hofgarten, um gegen die Nachrüstung der Nato zu demonstrieren. „Die 80er Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit“, hieß es in dem Appell der Friedensbewegung. Wir glaubten das damals wirklich.
Wie falsch wir lagen! Es war eine Projektion, eine nachholende Bewältigung der Schuld am falschen Objekt. Dass nicht zuletzt die von uns verteufelte Nachrüstung die Sowjetunion an den Verhandlungstisch brachte und den Kalten Krieg beenden half, wollen viele von den Friedensbewegten heute noch nicht wahrhaben. Die Achtziger wurden nicht das gefährlichste, sondern das friedlichste und erfreulichste Jahrzehnt des grausigen letzten Jahrhunderts. Am Ende fiel sogar die Mauer.
Bei mir und meinen Freunden im tiefen Westen der Republik löste der Mauerfall klamme Gefühle aus: Käme jetzt wohl das Vierte Reich? Jürgen Habermas warnte in der ZEIT doch schon vor dem DM-Nationalismus! Im Rückblick wirkt die Angst vor der Wiedervereinigung engherzig: Das schöne, übersichtliche Westdeutschland, es war perdu. Das war es, was die Bilder von den die Mauer erklimmenden Massen in Berlin uns ankündigten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich und viele andere Vierundsechziger aus dem Westen endlich kapierten, dass wir soeben den besten Augenblick der jüngeren deutschen Geschichte erlebten. Es ist immer noch peinlich, sich das im Rückblick einzugestehen.
Ein einziges Mal habe ich meinen Vater, einen zeitlebens quirligen, jungenhaften Mann, bedrückt erlebt. Es war an seinem 50. Geburtstag. Er saß vor einer Geburtstagstorte, die er, der Konditor, für sich selbst gebacken hatte, zwei goldene Marzipanziffern oben auf. Er starrte sie an, als hätte er eben erst gemerkt, dass jetzt ein anderes Alter käme.
Nun bin ich selber bald 50. Ich werde es feiern, so wie die anderen 1 357 303 Vierundsechziger. Ich freue mich darauf.
Ich habe kein Heimweh nach der verlorenen Welt meiner Jugend, keine Sehnsucht nach der bewegten Zeit zwischen »Mehr Demokratie wagen« und »Wir sind das Volk«.
Wohl aber nach der rätselhaften Zuversicht, die in den frühen siebziger Jahren noch wider alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit über unserem Leben lag – und die sich schon darin ausdrückte, wie viele wir waren.