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Warum Syrien nicht in die Hände der Radikalen fallen wird

Letzte Woche war Sadiq Jalal al-Azm in Berlin bei einem Kongress der Ebert-Stiftung. Ich hatte ihn seit Jahren schon sehen wollen. Nun gab der Krieg in Syrien seiner Rede einen besonderen Hintergrund.

Al-Azm ist vielleicht der wichtigste lebende Vordenker der arabischen Liberalen, ein Aufklärer und Streiter gegen autoritäre Herrschaft und gegen die arabische Selbstviktimisierung. Der Sohn einer syrischen Bürgerfamilie, der den „Damaszener Frühling“ von 2000 mit begründete, lebt heute in Beirut. Wie würde er die Rolle des politischen Islams angesichts der jüngsten Ereignisse in der arabischen Welt, und angesichts des Krieges in Syrien beschreiben? Ich gebe im folgenden meine Notizen wieder.

Er begann mit dem Rückgriff auf die Ereignisse seit dem Januar 2011 in Tunesien und Ägypten. Die Revolte bedeutete die Rückkehr der Politik zu den Menschen, und zugleich die der Menschen zur Politik. Denn unter den autoritären Herrschern hatte es keine wirkliche Politik geben können. Die Macht wurde durch die Revolte „aus den Händen der Söhne“ gerissen. Es sollte keine Vererbung der Herrschaft mehr geben, es ging um die Rückkehr des öffentlichen Lebens zum Volk.

Die perfektionierte Unterdrückung in Syrien durch das Sicherheitssytem Assads machte es unmöglich, den Weg der anderen arabischen Länder zur Selbstbefreiung zu gehen.

Aber durch den „Damaszener Frühling“ von 2000-2001, so al-Azm, „haben wir eine Vorbildrolle gespielt, unsere kritischen reformerischen Ideen waren einer der Samen des Wandels“. (Al-Azm war Erstunterzeichner der „Erklärung der 99“ und der „Erklärung der 1000“, in denen syrische Intellektuelle Demokratie und Rechtsstaatlichkeit forderten.)

Aber erst auf dem Tahrir-Platz konnte die arabische Öffentlichkeit die Erfahrung machen, dass wir „nicht mehr einen Führer brauchen, dass die Massen es alleine schaffen können“, die Herrschaft der Autokraten zu stürzen.

Anfangs gab es eine intensive Beteiligung von Frauen am Protest, und es gab keine sexuelle Belästigung, die sonst den Alltag in Kairo vergiftet. In einem kreativen, karnevalistischen Klima stürzte das Regime. Christen waren auch mit dabei, und sie zeigten ihre Kreuze, während daneben muslimische Prediger zum Gebet riefen.

All das wurde angefeuert von den Neuen Medien, die nicht kontrolliert werden konnten vom Geheimdienstsystem.

In Syrien aber war eine solche Entwicklung nicht möglich, weil das Regime mit aller Härte auf die ersten Demonstrationen reagierte.

Es ist irreführend, von einem „Bürgerkrieg“ in Syrien zu sprechen, anders als seinerzeit im Libanon, wo der Begriff treffend war.

In Syrien stehen nicht Kurden gegen Christen, Drusen gegen Sunniten, Sunniten gegen Ismailiten. Dort stand von Beginn an das Regime gegen die Bürger, die sich nicht mehr bevormunden lassen wollen.

Der Extremismus des Assad-Regimes ist unvergleichbar mit der Reaktion der anderen betroffenen autoritären Herrscher der Region. Und die Revolution reagiert darauf ihrerseits extrem.

Es ist wichtig, die Rechte der Minderheiten im Blick zu behalten. Aber im syrischen Fall sind es vornehmlich die Städte, Viertel und Dörfer der sunnitisch geprägten Mehrheit, die beschossen und zerstört werden.

Man tut den sunnitischen Syrern Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, sie würden im Zuge der Revolte die Minderheit entrechten.

Syrien droht geopfert zu werden auf dem Altar der Geopolitik. Große Mächte wie Russland und Iran, Saudi-Arabien und Katar spielen ihre Machtspiele. Die arabischen Linken sind ein Teil davon, wenn sie die Rhetorik des „Arabischen Herbstes“ oder „Winters“ übernehmen, der angeblich den „Frühling“ abgelöst habe. Das verzerrt die Wahrheit über die syrische Revolution.

Die Islamisten wollen heute die Gelegenheit nutzen, die Oberhand zu erlangen.

Der politische Islam ist eine entscheidende mobilisierende Kraft. Man muss ihn als politische Ideologie unterscheiden von einer normalen religiösen Praxis.

Es gibt heute eine Mehrzahl von Strömungen, zwischen denen ein Ringen um Deutungshoheit entbrannt ist. Drei Kräfte sind grob zu unterscheiden. Da ist „der Islamismus der Petrodollars“ aus dem Iran und den Golf-Staaten.

Zweitens gibt es die Dschihadisten ohne eigenen Staat (wenn auch mit Unterstützung aus Ölstaaten).

Das ist der Islamismus, der die einst Kaaba besetzt hielt und Saddat ermordete, und der für den 11. September verantwortlich ist. Es predigt einen „nihilistischen Islam“, einen „Islam der Exkommunikation und Explosion“. Von ihm zu unterscheiden, wenngleich auch gewalttätig, ist der Islamismus von Hisbollah und Hamas, in dem Restbestände der (früher säkularen) nationalen Befreiungsbewegungen enthalten sind. Doch haben beide Bewegungen auf der Grundlage ihres Konfessionalismus (schiitisch die Hisbollah, sunnitisch die Hamas) das Motiv der Befreiung ad absurdum geführt.

Drittens gibt es einen politisierten Islam der Mittelklasse, des Basars, der Banken, der Bourgeoisie. Einen Islam der Zivilgesellschaft, der konservativ, aber gemäßigt ist. Er will sozialen Frieden und Stabilität für die Geschäfte der aufsteigenden Klassen. Dieser Islam gibt Grund zu Optimismus, weil er „Exkommunikation und Explosion“ ablehnt. Am deutlichsten sichtbar ist seine Wirkunsgform bisher vor allem in der Türkei, in Form der AKP. Der Verzicht dieser Partei, die frühere islamistische Formationen beerbt, auf zentrale Elemente der Ideologie – keine Wiedererrichtung des Kalifats, keine Schariaherrschaft – ist etwas Neues.

Ob das türkische Modell sich auch in Tunesien durchsetzen wird, unter Führung von Raschid Ghannouchi, wird interessant zu beobachten sein.

Was wir derzeit erleben, ist der Kampf zwischen den drei Linien des politischen Islams. Für die Muslimbrüder wird es entscheidend sein, wie sie sich mit den beiden anderen Islamismen – dem Islam der Petrodollars und dem von „Explosion und Exkommunikation“ auseinandersetzen.

Al-Azms Heimat Syrien, sagte er in Berlin, werde nicht islamistisch. Nach einer Phase des Chaos, ist er sich sicher, werden sich „bei uns die Moderaten durchsetzen“. Der Business-Islam der Bourgeoisie wird sich gegen Dschihadisten und Petro-Islam durchsetzen: „In Syrien hat ein Islam, der Schulen und Universitäten schließt und Frauen die Arbeit verbietet keine Chance.“

Der Moderator schloß mit den Worten an: „Ihr Wort in Gottes Ohr, verehrter Professor.“

 

Die große Leere im Herzen des Terrors

Erst wollte ich gar nichts schreiben, jetzt musste es doch sein.

Es kostet mich Überwindung, etwas zum Bostoner Terrorakt zu sagen. Das hat erstens folgenden Grund: Ich liebe diese Stadt, seit ich vor vier Jahren ein Semester dort verbracht habe. Täglich bin ich damals an den Stellen vorbeigekommen, an denen sich erst ein versuchter Massenmord, dann eine gespenstische Jagd auf die Täter ereignete. Boston und Cambridge, Gründungsorte Amerikas, stehen für das große Versprechen der Vereinigten Staaten an die Welt: Freiheit, Unabhängigkeit, ungebremste Gelehrsamkeit. Es gibt dort an den 50 Colleges und Universitäten ein unvergleichliches Klima der Neugier und Offenheit, das die ganze Welt anzieht. Die klügsten jungen Leute des Globus sind dort, aus Asien, aus Europa, und auch aus der arabischen Welt.

In gewisser Weise ist es nur logisch, genau dort eine Tat des Hasses und des Ressentiments zu begehen, wie die Brüder Zarnajew es am Marathon-Montag getan haben.

Aber eben darum habe ich es – zweitens – satt, mich mit solchen Typen weiter zu beschäftigen.

Mehr als ein Jahrzehnt halten uns die mörderischen Loser von den Rändern der islamischen Welt nun schon in Atem. Immer wieder beugen wir uns über ihre Familiengeschichten, ihre Identitätsprobleme, ihre Zerrissenheit, ihre verbrecherischen Mentoren und ihren kaputten Glauben, um zu verstehen, ach zu verstehen, warum, warum nur, sie tun was sie tun. (In der ZEIT von morgen macht der Kollege Yassin Musharbash einen sehr guten Versuch.)

Immer wieder wägen wir ab, ob ihre mörderische Wut etwas mit „dem Islam“ zu tun hat, und wenn ja wie viel. Oder ob das alles nur ein Vorwand ist für eine kleine miese Wut, die ganz woanders herrührt. Irgendjemand fordert dann, die friedliebenden Muslime sollten sich bitte distanzieren (habe ich früher selber getan). Worauf jemand anders sagt, das sei nun wirklich Schwachsinn, und im übrigen sei es bereits geschehen (habe ich auch schon festgestellt, in Korrektur meiner ersteren Forderung).

Ich habe es jetzt wirklich satt. Mir reicht’s. Ich weiß genug – mehr als ich je wissen wollte – über die Attas, die Merahs, die Al-Awlakis, und jetzt eben über die Zarnajews. Ich muss sagen, es kommt nichts menschlich Interessantes dabei heraus.

Immer derselbe Befund: gekränktes Machotum, kulturell-religiöser Phantomschmerz nach Verlust der alten Heimat/des traditionellen Islam, Nicht-Ankommen in der modernen Gesellschaft, Verschwörungstheorien über den Westen/die Amis/die Juden, Unterlegenheitsgefühle wegen des katastrophalen Zustands weiter Teile der islamischen Welt, eine Opfermentalität wegen der Lage Palästinenser/der Tschetschenen/der Araber, Hass auf Frauen, Hass auf Juden, Hass auf alles Moderne/Westliche, nicht zu vergessen: Testosteron, Testosteron, Testosteron.

Es interessiert mich nicht mehr. Als ich heute in der New York Times las, der Onkel von Tamerlan Zarnajew habe gesagt, Tamerlan hätte darunter gelitten, „dass dem Islam das Image anhaftet, eine gewalttätige Religion zu sein“, musste ich laut lachen. Was für ein Idiot!

Aber er ist nicht allein. Die ganze Familie macht bei der Rechtfertigung eines Massenmordes mit: Mutter und Vater, die ihre Kinder im Stich gelassen haben, decken nachträglich alles zu mit Verschwörungstheorien über das FBI und Lügen über die Nettigkeit und Vorbildlichkeit ihrer Söhne. Abgründig.

Die Sache mit dem Islam ist dabei eigentlich nicht sehr kompliziert: Überall da, wo der Islam die Religion einer Verlierergesellschaft ist (große Teile der arabischen Welt, Teile Afrikas von Nordnigeria über Mali bis Somalia, Afghanistan, Pakistan und eben auch Tschetschenien/Dagestan), gibt es die Neigung zu extremer Gewalt. Dort liefert der Islamismus dann eben die Rechtfertigung für Massenmord, so wie es historisch schon alle möglichen anderen Ideologien getan haben. Wo der Islam Teil einer Aufsteigerkultur ist, zeigt sich seine zivilisatorische Seite – wie etwa heute in der dynamischen Türkei, in erfolgreiche Teilen Asiens wie Malaysia und Indonesien (natürlich nicht ohne Kämpfe und Rückschläge). Man kann sich das Suren-Pingpong mit friedlichen/kriegerischen Stellen sparen: Entscheidend ist die soziale/historische Einbettung der Religion. Sie bestimmt die Auslegung.

Es ist – seien wir ehrlich – nach all den Jahren eine öde und trostlose Sache, sich damit zu beschäftigen. Trotzdem müssen es natürlich die Profiler tun, damit man Anschläge verhindern kann (ist ja auch oft genug gelungen).

Aber: Der Terrorismus der radikalen Verlierer wird weitergehen, auch wenn der Krieg gegen ihn längst gewonnen ist. Er wird sich eines Tages totlaufen, wie die fürchterliche Welle des Anarchismus an der Wende zum 20. Jahrhundert. Ruhigbleiben und weitermachen ist die Parole. Die gern gestellte Frage, „warum sie uns hassen“, lege ich für meinen Teil ad acta.

Leider haben die Zarnajews mit ihrem Massenmord/Amoklauf das Maximum erreicht: eine ganze Region für eine Woche lahmgelegt, eine ganze Nation pausenlos über ihre Bildschirme gebeugt. Unberatene Kommentatoren (leider auch in der ZEIT), die gleich von Al-Kaida raunten, als sie noch nichts wissen konnten. Zwei verachtenswerte Menschen wurden durch Twitter, den 24-hour-newscycle und eine hysterische Polizeiaktion ins übermenschlich Böse hinaufskaliert. Mehr geht nicht. Glückwunsch. Operation gelungen.

Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächsten radikalen Verlierer schon zu kennen, die Tamerlan und Dschochar nacheifern werden.

 

 

Was die Geiselbefreiung in Algerien bedeutet

 

Hussein_Assad_Bouteflika_Khaddam

Der Mann halb rechts im Bild, im Nadelstreifenanzug, ist Abdel-Asis Bouteflika. Heute ist er Präsident Algeriens, damals war er Außenminister.

Dass er zum neuen Freund des Westens aufsteigen würde, ist eine überraschende Entwicklung, die man nach genau zwei Jahren der Arabischen Revolten so vielleicht nicht erwartet hätte. Er ist einer der letzten aus der Riege der arabischen Nationalisten alten Schlages. Überall in der Region sind Leute wie er gerade aus dem Amt gefegt worden – oder es steht ihnen bevor, wie dem Sohn des freundlich lachenden Herrn in der Mitte des Bildes. Überall treten die Muslimbrüder und ihre Ableger an die Stelle der alten Autokraten, und die Welt beginnt sich damit abzufinden.

Nein, nicht überall: Algerien ist anders, es hat seinen unfaßlich blutigen Konflikt mit dem radikalen Islamismus schon hinter sich. 60.000 bis 150.000 Tote waren im Bürgerkrieg zu beklagen. Die Zahlen schwanken je nach politischem Interesse. An der Brutalität der Auseinandersetzung gibt es keinen Zweifel. In Algerien gab es als Reaktion auf einen drohenden Wahlsieg des islamistischen FIS einen Staatstreich, der im blutigsten Bürgerkrieg der letzten Jahrzehnte endete. Bouteflika ist ein Exponent des Systems, das den politischen Islam unterdrückte, auch wenn unter seiner Herrschaft als Präsident (ab 1999) eine Politik der Amnestie und Versöhnung versucht wurde.

Bouteflika hat Frankreich die Überflugrechte nach Mali gewährt, ohne die es wohl schwer gewesen wäre, den Vormarsch der Islamisten auf Bamako (vorerst) zu stoppen. Und in den letzten Tagen hat er das algerische Militär losgelassen, um die Geiseln aus dem Gasfeld Ain Amenas zu befreien, darunter mindestens 107 Ausländer, viele auch aus dem Westen. Fast 700 algerische Angestellte waren ebenfalls unter den Befreiten. Es scheint auch viele Dutzend Tote gegeben zu haben, zur Zeit laufen noch die Aufräumarbeiten und die Zahlen sind nicht verläßlich.

Was man jedoch sagen kann: Algerien hat mit entschlossener Gewalt eine Geiselnahme durch dschihadistische Kräfte beendet, die offenbar von langer Hand vorbereitet worden war. Deren Kalkül: Da Frankreich in Mali gegen die Islamisten vorging, unter stiller Duldung von Bouteflikas Regime,  sah man offenbar die Zeit gekommen, das Messer an Algeriens Lebensader anzusetzen: an den Gasvorkommen, die existenziell für das Land und seine Wirtschaft sind. Algeriens Regierung, den Dschihadisten ohnehin verhasst, sollte als Helfershelfer der französischen Neokolonialisten entlarvt und in die Ecke gedrängt werden. Die Geiselnehmer hatten offenbar vor, mit dieser Aktion auch internationale islamistische Terroristen frei zu pressen.

Mit diesen Leuten gab es nichts zu verhandeln, wie alle bisherigen Berichte über deren Vorgehen belegen. Nichtmuslime wurden offenbar aus der Gruppe der Geiseln heraus selektiert. Japanische Gasarbeiter wurden exekutiert. Mehrere Entkommene berichten, man habe sie gezwungen, Sprengstoff zu tragen und so zu lebenden Bomben gemacht. Das Gelände wurde teilweise vermint, offenbar bereitete man sich auf einen blutigen Kampf vor. In französischen Berichten ist die Rede von schweren Waffen wie RPGs. Niemand kann ausschließen, dass die algerischen Sicherheitskräfte Fehler begangen haben. Dennoch erstaunt die Kritik aus westlichen Hauptstädten, noch während die Operation lief. Man sei nicht gut genug informiert worden. Solche Einlassungen hätte man sich für einen späteren Zeitpunkt aufheben können. Algerien hat schließlich einige Erfahrungen im Kampf gegen brutale Dschihadisten.Dass der Kampf der Bouteflika-Regierung gegen die einheimischen Islamisten auch mit Mitteln geführt wurde, die abzulehnen sind, mag hier den Hintergrund abgeben.

Doch zunächst einmal ist anzuerkennen, dass hier algerische Soldaten ihr Leben auch für die Mitarbeiter ausländischer Firmen riskiert haben. Die Geiselnahme hunderter Unbeteiligter Arbeiter und Angestellter auf dem Gasfeld musste so schnell wie möglich gestoppt werden.

Die nächsten Tage werden weitere Details ans Licht bringen, die dann hoffentlich eine umfassende Bewertung der Befreiungsaktion ermöglichen.

Was sich jetzt schon feststellen lässt, ist, dass genau zwei Jahren nach dem Beginn der Arabischen Revolten die volle politisch-moralische Komplexität der Lage sich zu zeigen beginnt: Frankreich hat den Kampf gegen die Dschihadisten aufgenommen, die sich den Niedergang der Staatlichkeit in Libyen und Mali zunutze machen wollen, um in Afrika Fuß zu fassen. Deutschland wird sich an diesem Kampf beteiligen müssen, mit mehr als zwei Transportmaschinen.

Dabei finden wir uns jetzt im gleichen Boot mit zweilichtigen Figuren wie Präsident Bouteflika und seinem Regime, während wir doch zuvor dem Untergang vergleichbarer Regime applaudiert haben.

Die New York Times bringt es auf den Punkt:

Algeria’s authoritarian government is now seen as a crucial intermediary by France and other Western countries in dealing with Islamist militants in North Africa. But the Algerians have shown reluctance to become too involved in a broad military campaign that could be very risky for them. International action against the Islamist takeover in northern Mali could push the militants back into southern Algeria, where they started. That would undo years of bloody struggle by Algeria’s military forces, which largely succeeded in pushing the jihadists outside their borders.

The Algerians also have little patience with what they see as Western naïveté about the Arab spring, analysts say.

“Their attitude was, ‘Please don’t intervene in Libya or you will create another Iraq on our border,’ ” said Geoff D. Porter, an Algeria expert and founder of North Africa Risk Consulting, which advises investors in the region. “And then, ‘Please don’t intervene in Mali or you will create a mess on our other border.’ But they were dismissed as nervous Nellies, and now Algeria says to the West: ‘Goddamn it, we told you so.’ ”

 

 

Warum uns die Christen des Nahen Ostens angehen

Merkwürdige Reaktionen auf mein Christen-Projekt versetzen mich in eine meditative Stimmung. Ich war mir bewußt, dass es Abwehrreaktionen hervorruft, über bedrohte Christen zu schreiben. Aber sie sind dann doch ein wenig sehr massiv ausgefallen.  Dazu später.

Das letzte Jahr war für mich sehr bereichernd. Ich habe so viele Menschen getroffen, über die ich nicht schreiben konnte – weil Platz und Zeit fehlten, oder weil sie dann nicht in die Geschichte passten, wie sie sich so beim Schreiben entwickelte. Ich bin viel gereist, und diesmal nicht in Delegationen, sondern auf eigene Faust, was die Begegnungen einfacher macht.

Ein paar möchte ich noch erwähnen. Bei meinen Recherchen in Israel über „Breaking the Silence“ hat mir Arye Sharuz Shalicar sehr geholfen. Er ist der Sprecher der israelischen Armee mit der Zuständigkeit für Europa. Arye hat natürlich nichts übrig für die Besatzungskritiker um Jehuda Schaul. Ich war Anfang des Jahres im Süden Israels mit ihm unterwegs, um auch die Perspektive der Armee kennenzulernen, nicht nur die der Kritiker. Arye brachte mich nach Sderot und Beer Scheva und an den Gazastreifen, wo wir mit einem Intelligence Officer Patrouille fuhren. Ich wollte eigentlich ein Porträt über Arye schreiben, bin aber nicht dazu gekommen.

Er ist ein Phänomen: Im Wedding aufgewachsen als Kind iranischer Juden, die nach Deutschland ausgewandert waren, als Jugendlicher Teil einer Gang von Türken und Libanesen, immer am Rande des Jugendknastes vorbei. Unter muslimischen Jugendlichen aufzuwachsen, hat ihn das Judentum entdecken lassen – beziehungsweise: er wurde darauf gestoßen („Was, Du bist Iraner und Jude? Willst Du uns verarschen?“). Als die Gang-Brüder mitbekamen, dass sie es mit einem Juden zu tun hatten, distanzierten sich viele von ihm (bis auf einen Libanesen).

Arye ging zur Bundeswehr, wo er sich wohl fühlte, und wanderte schließlich nach Israel aus, wo er wiederum die Grundausbildung durchmachte (gibt es noch jemanden, der Bundeswehr und IDF durchlaufen hat?). Arye studierte an der Hebrew University und machte einen Abschluß mit einer Arbeit über Moscheebaukonflikte in Deutschland. Er wurde Offizier der israelischen Armee und bewarb sich auf einen Sprecherposten. So ist aus einem iranisch-jüdisch-deutschen Ghettokind aus Wedding eine Stimme Israels geworden.

Arye ist ein toller Typ, sein Buch über die Erfahrung des Aufwachsens in Wedding ist unbedingt lesenswert. Als der letzte Gaza-Krieg losging, musste ich viel an ihn denken. Er ist im letzten Jahr Vater geworden. Vielleicht schreibe ich das Porträt ja doch noch.

Zweitens möchte ich Simon erwähnen. Simon traf ich bei meiner Recherche über Christen in der Türkei. Auch er hat eine Vergangenheit in Deutschland. Simon wuchs als Kind türkisch-christlicher Einwanderer in Bayern auf. Die Eltern waren überfordert mit dem Leben in Deutschland und ließen die Kinder viel allein, weil sie beide arbeiteten. Simon geriet auf eine schiefe Bahn – Gewalt, Jugendgangs, Kleinkriminalität. Immer wieder mussten seine Eltern ihn bei der Polizei abholen. Es half nichts. Simon war nicht zu bremsen, ganz wie der berühmtere Wiederholungstäter „Mehmet“.  Mit 18 Jahren wurde Simon in die Türkei abgeschoben. Er kannte die Sprache nicht, er war noch nie dort gewesen, er hatte kaum Kontakte. Er wurde zum Militär eingezogen, eine extrem harte Schule, wie er sagt. Er musste sich bei Verwandten in Midyat mit kleinen Jobs herumschlagen. Nach Deutschland führte kein Weg zurück, es gab ein Einreiseverbot.

Simon sagt, es war eine extreme Zeit gewesen. Er musste irgendwie in der Türkei überleben, deren Staatsangehörigkeit er durch die Eltern hatte, dabei war er mehr Deutscher und Christ als Türke, und wurde auch so angesehen. Heute hat Simon einen modernen Bus, mit dem er als Taxifahrer und Reiseführer selbständig ist. Es gibt keinen besseren Reiseführer durch das christliche Kurdistan, den Turabdin, als Simon. Er kennt jeden Winkel, er ist mit den Mönchen per Du, und er fährt schnell und sicher, immer wieder unterbrochen von bayrisch eingefärbten Flüchen, wenn türkische Lastwagenfahrer die Regeln brechen: „Host’des gsehn, wie der Wixxer do mittn auf der Audobahn wendn tut? Verdammtes Orschloch, du! Die kenn olle ned foahn, die hoam an Führaschein von ihre Vettan gekauft, die Türken.“

Simon sagt, dass die Abschiebung ihn wahrscheinlich gerettet hat. Er wäre untergegangen in der Welt der Jugendgangs. Er hat den Jugendrichter angefleht, ihn nicht wegzuschicken, aber es war das einzig richtige, meint er heute. Er musste da raus. Der Heimwehtourismus der Exil-Aramäer, die die Orte ihrer Vorfahren aufsuchen, ist sein Geschäft geworden. Er fährt sie zu den Kirchen und Klöstern, macht Kontakte zu den Mönchen und den Äbten. Er ist stolz darauf, dass die Aramäer wieder hierherkommen. Ein Junge, der sich fast verloren hätte in der Fremde ist zu einem Fremdenführer geworden, der die Wiederaneignung der alten Heimat zu seiner Sache gemacht hat. Aber auch für Simon gilt: Fällt das Kloster Mor Gabriel durch die Klagen bei türkischen Gerichten, dann hat auch er keine Zukunft hier.

Ich müsste auch noch Maria Khoury in Taybeh in der Westbank erwähnen, die mich dort aufgenommen und herumgeführt hat. Maria ist eigentlich griechisch-amerikanisch. Sie hat ihren Mann David in Boston kennengelernt. Als David nach dem Oslo-Abkommen beschloss, in die Westbank zurückzugehen, zog sie mit. Die Hoffnungen auf einen eigenen Staat, der schon fünf Jahre nach dem Abkommen zu Leben anfangen sollte, haben getrogen. Maria zeigt mir die Nachbarschaft von Taybeh: gegenüber der Brauerei sieht man die Siedlung Ofra auf dem nächsten Hügel, 1975 gegründet, Speerspitze der Siedlungsbewegung. Ofra verweist auf den biblischen Ort Ephraim, auf den sich auch Taybeh beruft. Im Neuen Testament wird der Ort als derjenige erwähnt, an den sich Jesus mit den Jüngern zurückzieht, als er schon weiß, dass es mit ihm zuende geht. Wenn Gott diesen Ort als Heimat der letzten Christen in der Westbank ausgesucht hat, dann hat er einen Sinn für schwarzen Humor.

Maria Khoury könnte in Amerika leben, aber sie will Taybeh nicht aufgeben. Juden und Muslime wollen beide die Christen nicht dort haben. „Die streiten sich untereinander um das Land, wir Christen stören dabei nur.“ Sie hat sich die Sache mit dem „Oktoberfest“ ausgedacht, das jeden Herbst hier stattfindet. „Unser Bier ist friedlicher Widerstand“, sagt sie. „Wir bleiben.“

Es versetzt mir einen Stich, dass manche Leute solche Geschichte nicht hören wollen. Ein Aktivist, der sich für die Freiheitsbewegung vom Tahrir-Platz einsetzt, wirft mir vor, mit der Rede von der Christenverfolgung das alte Spiel der Diktatoren weiter zu spielen, die die Religionen gegeneinander ausgespielt haben. Letzteres ist nicht zu bestreiten, und es ist auch nicht zu bestreiten, dass manche christliche Führer sehr faule Deals mit unterdrückerischen Regimen gemacht haben. Aber das kann doch kein Grund sein nicht hinzuschauen, wenn nun unter anderen Vorzeichen die Rechte der Christen in Gefahr sind.

Ein Leser war angenervt davon, dass die Thematik überhaupt im Rahmen eines religiösen Konflikts beschrieben wird. Da scheint die Annahme durch, es gehe nie „wirklich“ um Religion, sondern die religiösen Differenzen würden immer nur „vorgeschoben“, um andere Konflikte zu bemänteln. So etwas gibt es zwar auch, aber wenn die Folge ist, dass Gemeinschaften nicht mehr in der Region bleiben können (-> Irak), dann ist es am Ende de facto religiöse Verfolgung, egal welche Nebenmotive mitspielen.

Eine Kommentatorin wies darauf hin, dass das Christentum mit dem Kolonialismus zusammengebracht würde und daher viele Ressentiments erklärbar seien. Nun, das ist historisch sicher richtig, aber – was meine Beispiele angeht – eben Teil des Problems: Ich habe ausschließlich indigene christliche Communities besucht, die länger da sind als der Islam. Diese Gruppen haben nichts mit Missionaren und Kolonisatoren zu tun. Im Gegenteil sind sie historisch zum Gegenstand islamischer Mission und Kolonisation geworden. Das Perverse ist, dass die christlichen Ureinwohner der Länder in Verkehrung dieser Tatsachen zu „Fremden“ umgewidmet werden (weil sie sich teils mit den Usurpatoren und Diktatoren eigelassen haben, man wird das in Syrien noch sehen, wenn Assad weg ist). Dem muss man entgegen treten, und das habe ich mit diesem Text auch versucht.

Ich habe auch zustimmende und ermutigende Reaktionen bekommen. Aber vielen ist das Thema unangenehm. Es stört ein Bild des arabischen Völkerfrühlings, es stört das muslimische Selbstbild („wir sind historisch toleranter als die Christen“ – was ja für viele Phasen stimmt, vor allem gegenüber den Juden), es stört das abendländische Selbstbild („wir sind die Bösen, die Kolonisatoren, die Missionare, die Imperialisten“). Und dann: Man weiß einfach nicht, was man tun soll. Ist auch nicht einfach! Es ist nicht richtig, die verfolgten Christen des Orients als „welche von uns“ zu vereinnahmen, denen „wir“ helfen müssen, weil sie so sind wie wir. Das führt genau in die Falle der Umdefinition des orientalischen Christen als Fremden und Agenten des „Westens“. Nein, diese Christen sind nicht „wie wir“. Sie sind (auch theologisch) anders und gehören nach Ägypten, Syrien, Iran und in die Türkei, nicht ins westliche Exil. Die Mehrheitsgesellschaften müssen für sie kämpfen, weil sie ein Teil des vielschichtigen Gewebes des Orients sind. Es muss sich die Einsicht durchsetzen, dass der erzwungene Exodus der Christen eine Selbstverstümmelung des Orients ist. Ob das rechtzeitig so kommt – da bin ich sehr pessimistisch zurückgekehrt von meinen Reisen.

 

 

 

Ein rechtsextremer Aussteiger über Einwanderung, Integration und Identität

Dann wieder ist das Internet doch eine feine Sache.

Am Freitag fand ich einen Verweis auf Facebook vor, dass sich ein gewisser Andreas Molau ausführlich mit meinem auch hier veröffentlichten Vortrag beim Berliner Integrationsforum auseinandersetzt. Herr Molau hat im letzten Jahr Aufsehen erregt, als er aus der rechtsradikalen Szene ausstieg. Er war zuletzt bei pro NRW aktiv, davor bei der DVU, und davor viele Jahre ein wichtiger Kopf der NPD. Seit er sich mithilfe eines Ausstiegsprogramms des Niedersächsischen Verfassungsschutzes aus der Szene abgesetzt hat, versucht Andreas Molau offenbar, sich auch politisch-geistig neu zu orientieren. Ein interessanter Vorgang. Ich kann nicht beurteilen, wie authentisch und ernsthaft Molaus Nachdenken über die Szene ist, aber seine Einlassungen zu meinem Artikel sind teilweise sehr bedenkenswert. Ich kann mir schwer vorstellen, wie es ist, sein halbes Erwachsenenleben in diesen Zirkeln zu verbringen und dann neu anzufangen. (Leute mit linksradikaler Vergangenheit wären da vielleicht näher dran.)

Zitat aus dem Artikel:

Als „Rechter“ war die Logik für mich klar und holzhammermäßig: Entweder „die“ passen sich an – und damit ist am Ende eher Assimilation gemeint –, oder sie verlassen eben das Land. In der extremeren Form rechter Ideologie, die rein biologistisch argumentiert, geht man noch einen Schritt weiter: Anpassungsbemühungen seien gar nicht notwendig, denn jeder, der fremd ist, sollte ohnehin in seine Heimat zurückkehren. Diese Position hat kaum vermittelnde Potenziale. Aber sie ist auch so abstrus, dass sie in einer offenen Debatte leicht widerlegt werden könnte.

Die so genannten Islamisierungskritiker erscheinen auf den ersten Blick erst einmal als gemäßigter im Gegensatz zu den klassischen NS-Freaks. Das war für mich auch der Grund, auf meinem Weg in den Ausstieg, es noch einmal mit der PRO BEWEGUNG zu versuchen. Im Gegensatz zur NPD ist der geistige Bezugspunkt solcher Bewegungen, ob es sich nun um die FREIHEIT handelt, PRO NRW oder pro Deutschland, nicht das Dritte Reich. Im Gegenteil, man sei antitotalitär, so die Außendarstellung, weil man sich gegen eine totalitäre Ideologie stelle, den Islam. Außerdem stehe man für die Bewahrung der Identität. Im Gegensatz zu Lau, der von einer Identität nichts wissen will, bin ich schon der Überzeugung, dass jeder Mensch mit sich selbst identisch sein muss – jedenfalls über Phasen – und dass auch Gruppenidentitäten an sich nichts Schlechtes sind, jedenfalls, wenn sie sich nicht zu stark ins Absolute hineinsteigern.

Letztlich musste ich aber feststellen, dass der politische Beitrag der „Rechtspopulisten“, um im Bild Laus zu bleiben, die Atmosphäre doch nur vergiftet und nichts, aber auch gar nichts an den Problemen im Land löst. Ich denke schon, dass sich auch Muslime kritische Fragen zu ihrem Glauben gefallen lassen müssen (dem Islam kann man ebenso wenig eine Frage stellen wie dem Christentum). Ebenso wenig hilft es, kritische Fragen über die Folgen der Einwanderung einfach auszuklammern oder noch schlimmer zu tabuisieren. Am Ende seines Textes attestiert Lau, dass es nicht gemütlich sei in Einwanderungsländern – sie seien auf allen Seiten voller Konflikte und Ressentiments –, „Ängste und Vorbehalte, Konflikte und Ressentiments darf man nicht wegdrücken, weil sie ,der falschen Seite‘ nutzen.“ Insofern kann man den Islamkritikern nicht sagen, sie dürften diese oder jene Frage nicht stellen.

Diese Frageverbote sorgen meiner Erfahrung nach am Ende sogar noch mehr für eine Verfestigung der extremen Positionen als für deren Aufweichung. Die Frage ist eben nur, welche Antworten man findet. Als Islamkritiker kennt man eine ganze Reihe von merkwürdigen Koranversen (die es aus unserer Sicht des 21. Jahrhunderts in der Bibel auch gibt), die die angebliche totalitäre Ideologie, die sich hinter der Religion verbergen solle, belegen sollen. Aber man kennt, und auch das ist meine Erfahrung, keinen Gläubigen persönlich. Diese selektive Wahrnehmung ist konstituierend für das Feindbild Islam. Und so sorgt der gesellschaftliche Ausschluss der Islamkritiker, dafür, dass man diese selektive Wahrnehmung gar nicht mit der Wirklichkeit abgleichen muss. Der Dialog ist also nicht nur vergiftet, es findet eigentlich gar keiner statt. Der ist nämlich beendet, wenn der amtliche Stempel „Rechtsextremist“ auf der Stirn prangt. Das ist schade, denn das Konfliktpotential wird sich so immer weiter verschärfen. Stattdessen sollte man auf jede Frage eingehen, die im Raume steht.

Bedroht „der Islam“ unsere Freiheit und unsere Identität? Freiheit und Identität sind für mich wichtige Begriffe, die aber weder von der NPD noch von PRO oder PI-News verteidigt werden. Neuerdings gibt es „identitäre Gruppen“, die sich mit Masken verhüllen und in gezielten Störaktionen die „multikulturelle Gesellschaft“ bekämpfen wollen. Wenn man sich so ein Aktionsfilmchen anschaut, dann ist man genauso ratlos wie nach den Demonstrationsberichten von PRO NRW oder pro Deutschland. Wo ist da etwas von der „deutschen Identität“ zu spüren? Welche politische Konsequenz soll man denn aus den Forderungen, eine Moschee nicht zu bauen oder der Kampfansage an die „multikulturelle Gesellschaft“  ziehen? Kein Mensch hindert die Islamkritiker, ihre Werte darzustellen und vor allem zu leben. Innerhalb dieser Szene habe ich davon aber in den zwei Jahren meiner Tätigkeit nichts bemerkt.

Es ist sicher so, dass es in Saudi Arabien nicht möglich ist, als Christ bekenntnisoffen zu leben. Das bedeutet für mich, dass ich dort sicher nicht meinen Wohnsitz aufschlagen möchte. Es mag auch so sein, dass es in Deutschland Menschen gibt, denen so eine Gesellschaftsordnung vorschwebt. Mit Sicherheit kann man die Freiheit aber nicht verteidigen, wenn man sie abwürgt und Andersgläubigen das Recht auf ein aktives religiöses Leben zu nehmen versucht. Denn weder ist die islamkritische Szene bereit, die Dinge differenziert zu betrachten, noch sind weite Teile ehrlich. Denn ihnen geht es im Kern nur darum, wie der NPD, einen ethnisch oder zumindest kulturell homogenen Staat schaffen zu wollen, in dem jede Art von Anderssein als Bedrohung empfunden wird.

Ich glaube, dass Molau mich falsch versteht, was den „deutschen Selbsthass“ angeht oder die Notwendigkeit einer Identität. Dazu habe ich vor vielen Jahren mal einen Versuch gemacht, der vielleicht deutlicher zeigt, wie ich es sehe: eine de facto multikulturelle Gesellschaft braucht eine Leitkultur, allerdings eine offene, variable, verhandlungsbereite.

Was den Patriotismus angeht, halte ich es mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty:

 „Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Zuviel Nationalstolz kann Aggressivität und Imperialismus erzeugen, genau wie übermäßiges Selbstgefühl zu Überheblichkeit führen kann. Doch zuwenig Selbstachtung kann den einzelnen daran hindern, moralischen Mut zu zeigen, und ebenso kann mangelnder Nationalstolz eine energische und wirkungsvolle Diskussion über die nationale Politik vereiteln. Eine Gefühlsbindung an das eigene Land – daß Abschnitte seiner Geschichte und die heutige Politik intensive Gefühle der Scham oder glühenden Stolz hervorrufen – ist notwendig, wenn das politische Denken phantasievoll und fruchtbar sein soll. Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt […] Wer eine Nation dazu bringen möchte, sich anzustrengen, muß ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte. Er muß etwas Anfeuerndes über Episoden und Figuren aus ihrer Vergangenheit sagen, denen sie treu bleiben sollte. Einer Nation müssen Künstler und Intellektuelle Bilder und Geschichten über ihre Vergangenheit erschaffen. Der Wettbewerb um politische Führungspositionen ist zum Teil ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Vorstellungen von der Identität der Nation und verschiedenen Symbolen ihrer Größe.“

Hier das Schlussplädoyer aus meinem Essay, mit dem vielleicht auch Andreas Molau etwas anfangen kann:

Nicht nur die Rot-Grünen, sondern auch die Konservativen durchlaufen im Rahmen der Patriotismusdebatte einen Lernprozeß. Denn nicht nur der naive Multikulturalismus mancher Linken ist gescheitert, die sich Integration als einen Selbstläufer vorstellten. Wir zahlen auch einen hohen Preis dafür, daß die Konservativen ausdauernd abgestritten haben, daß Einwanderung längst Realität ist. Beide Versionen deutscher Wirklichkeitsverleugnung sind am Ende.

Eine demokratische, republikanische Leitkultur ist kein Gegensatz zur multikulturellen Gesellschaft, sondern die Voraussetzung ihres Funktionierens. Eine weltoffene Leitkultur kann den gemeinsamen Bezugspunkt für eine Gesellschaft bereitstellen, die ihre kulturelle Vielfalt als Bereicherung zu erkennen lernt, ohne dabei in Werterelativismus abzugleiten. Ihr Kanon muß immer wieder neu verhandelt werden, auch mit den jeweiligen Neuankömmlingen. Der Patriotismus der Berliner Republik darf, wenn er wirklich als „notwendige Bedingung zur Selbstvervollkommnung“ funktionieren soll, weder autoritär drohend noch biedermeierlich selbstzufrieden auftreten. Sonst kann er kein Gefäß für eine großherzige, inklusive, weltoffene Haltung sein. Aus demselben Grund – allerdings eigentlich schon aus Höflichkeit – verbietet sich der Rückfall in den nationalen Negativismus, diese Überwinterungsform des deutschen Größenwahns. Unser Selbstvervollkommnungspatriotismus muß Leit- mit Streitkultur verbinden und Selbstbewußtsein mit Ironie. Und damit die Sache nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Nachbarn und Neubürger attraktiv wird, wäre vielleicht ein bißchen Coolness nicht schlecht.

 

Kein Döner-Land in dieser Zeit

Werte Gemeinde, heute gibt es für Berliner Gelegenheit, unseren Mitblogger Cem Gülay mit seinem neuen Buch live zu erleben:

CEM GÜLAY & HAMED ABDEL-SAMAD & HANS RATH: KEIN DÖNER-LAND

„Kurze Interviews mit fiesen Migranten“ – Lesung + Diskussion

Mit seiner Autobiografie „Türken-Sam“ ist Cem Gülay
aufgrund seiner Auftritte und Lesungen zu einer Art
literarischem Sozialarbeiter geworden, mit dem alle
reden, Jugendliche und Erwachsene, Migranten und
„Bio-Deutsche“.
Daraus entsteht ein scharfes, manchmal satirisch
gefärbtes Bild vom Stand der Dinge nach Sarrazin.
Viel Kommunikation fand im Internet statt, politisch
korrekt und politisch unkorrekt. Auf der Seite PI
(www.pi-news.net) gab es 327 Kommentare zu Gülay,
von „Stoppt Tierversuche! Nehmt Türken!“ bis zu –
„Thilo sei Dank – anatolisches Inzuchtmännchen“.

Die Parallelwelten kann man nicht auflösen, man kann sie
nur ausdünnen. Zuerst muss man mal genau hinsehen.
Das gilt nicht nur für den Verfassungsschutz.

Präsentiert von: Hugendubel am Hermannplatz

EINTRITT
8 €

TICKETS
Tickethotline 030. 61 10 13 13

VVK im Heimathafen Neukölln Büro | Karl-Marx-Straße 141, Vorderhaus, 3. Stock
Infos 030. 56 82 13 33

VVK ohne Gebühr für ausgewählte Veranstaltungen im Heimathafen
Hugendubel am Hermannplatz | Mo. bis Sa. von 10 bis 20 Uhr

 

Wie Blasphemiegesetze zur Unterdrückung religiöser Minderheiten führen

Ich habe es ja vorhergesagt: Blasphemiegesetze sind des Teufels. In Ägypten sind jetzt zwei minderjährige Kinder koptischer Herkunft wegen Gottelsästerung verhaftet worden, aufgrund der zweifelhaften Aussagen eines radikalen Imams.

Hussein Ibish hat zu der Problematik einen sehr klarsichtigen Essay geschrieben. Der Kampf gegen eine globale Blasphemiegesetzgebung, wie sie jetzt von den Vertretern vieler islamischer Staaten gepusht wird, ist eine entscheidende Front für alle freiheitsliebenden Menschen. Und, um das gleich hinzuzufügen: Eine notwendige Ergänzung – kein Widerspruch! – zum Kampf gegen grassierende Islamhetze:

After all the grandstanding by various Muslim leaders at the recent U.N. General Assembly meeting, and by the Organization of Islamic Conference, on the need for global anti-blasphemy laws, the Egyptian legal system has been thoughtful enough to provide us with a timely demonstration of what such restrictions look like in practice. Two Coptic Christian children Nabil Nagy Rizk, 10, and Mina Nady Farag, 9, were arrested yesterday on charges of „insulting religion“ in the governorate of Beni Suef. The two children are being held in a juvenile detention center awaiting further investigation and possible criminal prosecution.

The children stand accused by the Imam of a local mosque of destroying papers, including some containing Quranic verses. The incident is disturbingly reminiscent of an ongoing scandal in Pakistan in which a Christian girl is being persecuted for allegedly destroying copies or pages of the Quran.

This is what anti-blasphemy laws inevitably lead to: the arrest and persecution of religious minorities, including children, in order to „protect sensibilities“ of religious majorities. What it shows is that anti-blasphemy laws have nothing to do with „respect“ or „sensitivity“ to religious sentiments but are all about authority, control and social domination.

Because these laws appeal to extra-legal and extra-constitutional sentiments, values and principles that exist above and beyond the law itself, they lend themselves perfectly to abusive and discriminatory application. In the case of prosecutions regarding the dissemination of the inflammatory, offensive anti-Islam online video clip „The Innocence of Muslims,“ a Coptic Christian named Albert Saber has been arrested and remains in detention for allegedly posting the clip online. But no measures have been taken against the Salafist Al-Nas television station that broadcast significant portions of the video to its large audience in the earliest effort to whip up a public frenzy that led directly to the violent incidents that rocked the Middle East a few weeks ago.

Al-Nas defended its actions as responsibly alerting the public to a „threat“ to Islam, but in fact it was the principal vehicle for disseminating the content of the clip in the Arab world. Had they ignored it, the ensuing chaos might well never have come to pass. The channel cynically served as the main public relations vehicle for the video, because the Saudi-funded extremist station and its radical backers understood that their political allies would be the direct beneficiaries of public outrage, which they were delighted to stoke to a fever pitch.

Yet they have not been prosecuted under Egypt’s anti-blasphemy laws, because they are extremist Muslims purporting to act „in defense of Islam.“ So anti-blasphemy laws are again revealed to be entirely about social and political context, authority and control, and nothing to do with content.

Amazingly, there has been virtually no pushback or reaction to remarks by the Emir of Qatar Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani in his recent U.N. speech, which sought to place the blame for the violence entirely at the feet of the authors of the video and implicitly exonerated the rioters and extremist organizations behind them for the deaths for which they were directly responsible. He alleged that „freedom should not cross reasonable limits and become a tool to hurt and insult the dignity of others and of religions and faiths and sacred beliefs as we have seen lately, which regrettably led to the killing of innocent people who have not committed any crime.“

This is a perfect window into the through-the-looking-glass world of blasphemy-ban advocates. In this reality, those who engage in offensive speech (and there’s no question that the video is patently Islamophobic and hateful) bear the full responsibility if others cynically exploit their intentional, calculated provocations for their own political and social purposes. If people are killed, that’s the fault of the provocateurs, not the killers. These statements implicitly absolve extremist and violent reactions to provocative speech and suggest that the proper response is not to denounce and yet still protect offensive expression, but to suppress it in order to prevent a violent reaction.

The Emir, in effect, was making common cause with the violent extremists, using their deplorable and criminal behavior as a rationalization for the suppression of offensive speech. It’s a thinly-disguised exercise in bullying, and an updated version of Richard Nixon and Henry Kissinger’s old „madman“ diplomatic strategy: if you don’t make an agreement with me on my terms, you’ll bear the full responsibility for what those other crazy people do.

Of course, it’s an even worse form of bullying to arrest children on trumped up charges of „blasphemy.“ Yet this is happening, time and again, in several Muslim-majority states. The latest examples from Egypt are only the most recent.

That’s what the push for a global anti-blasphemy ban—which will not and must not succeed—is ultimately designed to do: rationalize such oppressive restrictions in those Muslim-majority states where they actually apply. And, in practice, that means religious minorities, including children, will inevitably be subjected to grotesque abuses. If this isn’t a wake-up call for everybody who thinks they are committed to freedom and democracy, I don’t know what will be.

 

Blasphemiegesetze sind keine gute Idee – auch wenn sie Minderheiten schützen

Jetzt wird’s kompliziert. Einerseits freue ich mich, dass in Ägypten etwas gegen die Hassprediger unternommen wird, die das Christentum verhöhnen. Andererseits halte ich die rechtlichen Schritte, die gegen sie eingeleitet wurden, für freiheitsgefährdend.

Bei meinen Gesprächen mit Kopten  und aramäischen Christen in den letzten Wochen wurde immer  wieder erwähnt, dass ein radikaler Prediger in Kairo die Bibel zerrissen und damit gedroht hatte, darauf zu urinieren. Der koptische Bischof Deutschlands, Anba Damian, äußerte sich entsetzt über diesen offenen Akt des Hasses, und auch im syrisch-orthodoxen Kloster Mor Gabriel stieß ich auf Empörung.

In der westlichen Öffentlichkeit hingegen wurde dieses Detail der blutigen Proteste mit Schulterzucken quittiert. Was bedeuten kann: Na ja, so sind sie eben. Was willst du machen? Oder: Das trifft uns nicht, so macht sich dieser Typ doch nur selber zum Schmock. Während Kopten und Aramäer sich durch die symbolische Schändung der Bibel verletzt fühlen, winken wir im Westen ab. Uns von einem solchen Idioten beleidigen zu lassen, würde bedeuten, sich auf seine Ebene zu begeben, denken wir. Sticks and stones may break my bones, but words or names will never hurt me.

Nun hat die ägyptische Generalstaatsanwaltschaft angekündigt, drei Männer wegen Beleidigung des Christentums vor Gericht zu stellen:

Ahmed Mohammed Abdullah soll zusammen mit seinem Sohn während der Proteste gegen den islamfeindlichenUS-Film Die Unschuld der Muslimevor der US-Botschaft eine Bibel zerrissen und dann verbrannt haben. Dabei wurde er gefilmt. In dem im Internet veröffentlichten Video soll Abdullah, der auch unter dem Namen Abu Islam bekannt ist, gedroht haben, auf das Buch zu pinkeln, sollten die Beleidigungen gegen den Islam weitergehen.

In einem Interview mit dem Journalisten Hani Jassin Gadallah soll er sich in der Zeitung Al-Tahrir abfällig über das Christentum geäußert haben. Der Reporter muss sich deshalb ebenfalls vor Gericht verantworten.

Bis zu fünf Jahre Haft für Blasphemie

Dass Abdullah und den beiden anderen Männern nun nach den ägyptischen Blasphemiegesetzen der Prozess gemacht werden soll, werten Beobachter als überraschend. In der Vergangenheit haben diese Gesetze häufig nur dann Anwendung gefunden, wenn es sich um mutmaßliche Verunglimpfungen des Islams handelte. Menschenrechtsgruppen haben die Gesetze wiederholt als Einschränkung der Freiheitsrechte kritisiert. Auf Blasphemie stehen in Ägypten bis zu fünf Jahre Haft.

Als Geste gegenüber der extrem verunsicherten christlichen Minderheit ist es zu begrüßen, dass auch ihr Glaube unter Schutz gestellt wird – und das besonders von einer Regierung, die islamistisch geprägt ist. Letzteres führt zu großer Sorge unter den Kopten, dass sich ihre Marginalisierung noch verstärken wird. Wer weiß, vielleicht kommt es ja nicht so. Offenbar wollen die Behörden in Ägypten verhindern, dass ein Kulturkampfklima im Land greift, dass nur den extremsten Kräften unter den Islamisten nützen würde. Mursi zieht zur Zeit einige rote Linien ein. Auch die Verurteilung der extremistischen Attentäter vor einigen Tagen liegt auf dieser Linie: Die Muslimbrüder machen den radikalen Kräften deutlich, wer regiert.

Aber: Blasphemiegesetze verstellen den Weg zu einer offenen, (religiös) pluralistischen Gesellschaft. Sie sind die autoritäre Lösung des Konflikts um konkurrierende Weltdeutungen und religiöse Geltungsansprüche. Sie können immer auch benutzt werden, um notwendige Kritik zu unterdrücken (auch wenn das hier nicht der Fall ist). Der Blogger Karim Amer, für den ich hier lange Kampagne gemacht habe, war wegen der ägyptischen Blasphemiegesetze vier Jahre in Haft. Dabei hatte er nur die schändliche Komplizenschaft der Religion bei Massakern an Kopten angeprangert (ohne selbst Kopte zu sein, es war ein Aufstand des Gewissens).

Nun wird das Gesetz angewendet, um die Kopten zu beschützen. Kirchenführer  werden sich wahrscheinlich darüber erleichtert zeigen. Das wäre kurzsichtig. Am Ende muss es darum gehen, Hassprediger wie Abu Islam gesellschaftlich zu isolieren und zu marginalisieren. Ein Journalist, der hassvolle Äußerungen über Christen zitiert (ganz egal ob zustimmend oder mit welcher finsteren Absicht), darf nicht allein deshalb strafverfolgt werden: Was heißt das für eine freie öffentliche Debatte? Blasphemie ist  schwer zu definieren: Wer bestimmt, was „verletzend“ ist? Milliarden Christen im Westen haben sich nicht verletzt gefühlt vom Handeln des Vollidioten Abu Islam. Ebenso wie Milliarden Muslime den Pastor Terry Jones für einen Vollpfosten halten, der ihrer Erregung nicht würdig ist.

Der Staat soll den Aufruf zur Gewalt ahnden. Nicht aber die symbolische Gewalt. Leute wie Abu Islam gehören geächtet und verachtet. Nicht in Haft – jedenfalls nicht dafür.

 

 

Wer steckt hinter „Sam Bacile“?

Die bisherigen Ermittlungen der amerikanischen Kollegen haben meine Skepsis bestätigt, was die Identität des Sam Bacile angeht. Eine israelische Quelle, die unter der Bedingung von Anonymität zur Sache sprach, kommentierte heute morgen mir gegenüber die Figur Bacile mit dem Wort „Bullshit“. Es handele sich nicht um einen Israeli, sondern um ein Netzwerk „rechtsradikaler Christen“.

Der Versuch dieser Gruppe, über angebliche „jüdische Spender“ und die vermeintliche israelische Identität von „Sam Bacile“ Israel und die Juden in die Sache hineinzuziehen, zeigt eine Perfidie erschreckenden Ausmaßes. Die Logik: Man will offenbar bewußt Reaktionen von radikalen Muslimen gegen Israel und Juden provozieren, damit die Weltsicht bestätigt wird, dass „der Islam“ im Krieg mit Israel und dem Judentum ist. Daher die klare Distanzierung der israelischen Regierung.

Wegen dieser hinterhältigen Strategie der Filmemacher halte ich es für abenteuerlich, wenn manche Kommentatoren sich auf den Standpunkt stellen, es sei doch piepegal, wer hier welchen Film gemacht habe. Es komme eben nur auf die keinesfalls zu entschuldigende Reaktion der Brandschatzer und Botschaftsstürmer an, die wieder einmal beweise…. Also: Halt der Herr „Bacile“ doch Recht mit seinem Machwerk? Müssen wir ihm nicht geradezu dankbar sein? Was für eine kranke Logik ist das denn? Man fühlt sich an die Verteidiger der RAF-Terroristen erinnert, die es auch richtig fanden, dass der Terror den angeblichen „faschistischen Charakter“ der Bundesrepublik hervorkitzelte.

So richtig es ist, dass die radikalen Gruppen, die diese Sache hijacken, immer einen Vorwand für antiwestliche Aktionen finden – so fahrlässig wäre es, den konkreten Hintergrund hier zu ignorieren.

So geht es nicht: Denn der wahre Hintergrund des Machwerks „Innocence of Muslims“, wie er sich mittlerweile offenbart, kann noch fürchterliche Dinge für die ägyptischen Christen nach sich ziehen. Es scheinen nämlich radikale Kopten hinter dem Film zu stecken. Darauf weisen nicht nur die Anfangsszenen hin, die die Verfolgung von Kopten zeigen – und die Tatsache, dass der Film in ägyptisches Arabisch übersetzt wurde.

AP hat folgendes herausgefunden:

Using the cellphone number they talked to „Sam Bacile,“ The Associated Press tracked down a man named Nakoula Basseley Nakoula, 55, who lived at the address that aligned with cellphone records.

Nakoula denied that he directed the film but admitted that he was the manager for the production company. He also told the AP that he was a Coptic Christian.

The AP notes that Nakoula has a criminal record: He pleaded no contest in 2010 to federal bank fraud charges and served 21 months in federal prison.

The AP adds:

„Nakoula denied he had posed as Bacile. During a conversation outside his home, he offered his driver’s license to show his identity but kept his thumb over his middle name, Basseley. Records checks by the AP subsequently found the name ‚Basseley‘ and other connections to the Bacile persona.

„The AP located Bacile after obtaining his cell phone number from Morris Sadek, a conservative Coptic Christian in the U.S. who had promoted the anti-Muslim film in recent days on his website. Egypt’s Christian Coptic population has long decried what they describe as a history of discrimination and occasional violence from the country’s Arab majority.“

Auch der zweite mit dem Film verbundene Exil-Ägypter Morris Sadek, ist ein bekannter koptischer Islam-Hasser.

Für die Kopten in Ägypten kann das fürchterliche Folgen haben. Sie haben ohnehin schon mit Verfolgung zu kämpfen, wie hier bereits mehrfach berichtet. Nun haben die amerikanischen Glaubensbrüder ihren Feinden einen tollen Vorwand geliefert. Hoffentlich unternimmt die Regierung Mursi etwas gegen mögliche Ausschreitungen.

Es bedeutet nicht, die Mordtaten und die Gewalt in Bengasi, Kairo und Sana zu entschuldigen oder auch nur zu relativieren, wenn man die apokalyptische Zündelei der Initiatoren des Films kritisiert. Sie sind infame, verantwortungslose Verbrecher, die sich eine ehrenwerte, großzügige Auslegung der Redefreiheit in Amerika zunutze machen und sie missbrauchen, weil sie es auf Gewalt anlegen.

Sie wollen Flammen lodern, sie wollen Blut fließen sehen. Sie wollen das reinigende Feuer eines Endkampfes entfachen, in dem die Welt endlich erkennen muss, dass der Islam ausgerottet werden muss, damit wir alle in Frieden leben können. Und das Teuflische ist, dass sie auf der anderen Seite – bei den radikalen Islamisten – willige Helfer finden, die ihrerseits Interesse an einem Endkampf haben – nur dass jene glauben, selber siegreich daraus hervorgehen zu können. Den Preis dieser apokalyptischen Politik zahlen am Ende die religiösen Minderheiten. Juden sind schon keine mehr vorhanden in den entsprechenden Ländern. Also werden es die Christen sein.

 

 

Mord an amerikanischem Botschafter in Bengasi: Karikaturenstreit 2.0?

Manchmal wird das Gefühl überwältigend, dass die Welt in einer Verdummungsrückkopplung planetarischen Ausmaßes befangen ist. So wie jetzt, da der amerikanische Botschafter und drei weitere Mitarbeiter in Bengasi einem mörderischen Mob zum Opfer gefallen sind.

Christopher Stevens hat die Revolte gegen Gaddafi unterstützt. Er war seit Jahrzehnten an der arabischen Welt interessiert. Als junger Mann hat er als Freiwilliger im „Peace Corps“ in Marokko Englisch unterrichtet. Und nun haben die selbst ernannten Verteidiger des Islams ihn ermordet, um eine vermeintliche Blasphemie durch einen Vollidioten zu rächen, der sich Amerikas großzügige Auslegung freier Rede zunutze gemacht hat.

Grässlich. An dem Film, der den Anlass für diese Schandtat hergegeben hat, ist – so weit die Ausschnitte dies zu beurteilen erlauben – nichts zu verteidigen. Das ist einfach nur primitiver, dilettantischer Dreck. Deshalb verbieten sich m. E. Vergleiche mit den dänischen Karikaturen, für die das eben nicht gilt. Mindestens einige der Karikaturen waren kluge, witzige, auch selbstironische Versuche der Thematisierung eines Grundwiderspruchs moderner Gesellschaften: Redefreiheit vs. Empfindlichkeit von religiösen Minderheiten. Am Ende der Karikaturen-Affäre stand, bei aller Abwägung, die Bejahung der Redefreiheit als eines hohen Wertes, der nicht eingeschränkt werden darf, weil damit irgendjemandes Gefühle verletzt werden.

Das ist auch dann zu verteidigen, wenn die Rede wertlos ist wie in diesem Fall: Auch Dummheiten und Gehässigkeiten sind nun mal geschützt. Ein Film wie dieser, der hier zum Anlass wurde, demontiert sich eigentlich selbst. Kein Mensch interessiert sich für einen solchen Dreck, außer denjenigen, die darin einen willkommenen Anlass sehen, ihrer Mordlust nachzugehen. Dass sie dann einen Freund des libyschen Volkes umbringen wie diesen Botschafter, richtet sie selbst.

Ich neige dazu, einen wie Stevens als Helden zu betrachten. Er wußte, welcher Gefahr er sich aussetzte, und welchem Hass als Amerikaner – ungeachtet der Tatsache, dass er mit dem Leiden der Araber sympathisierte. Für die Lumpen, die ihn umgebracht haben, gibt es keine guten Amerikaner, keine guten Westler. Sie sehen in einem engagierten Mann wie Stevens einen Repräsentanten des Bösen, den man töten kann. Das ist die entmenschlichende Logik des Terrorismus, ganz gleich ob säkular („natürlich kann geschossen werden“) oder religiös („Tod den Ungläubigen“). Dass die ganze Sache zum 11. September stattfand, ist sicher kein Zufall. Die Terroristen haben verloren, weigern sich aber, das zur Kenntnis zu nehmen: Sie können nur noch weiche Ziele treffen wie diesen Diplomaten, der sich der Gefahr ausgesetzt hatte.

Wir dürfen uns nicht wieder in der Logik der Terroristen fangen lassen und nun im Gegenzug die Tat von Bengasi als Auskunft über die angebliche „wahre Natur des Islam“ lesen (wie es jetzt bereits in den einschlägigen Kreisen geschieht und wie es wohl auch von dem Filmemacher beabsichtigt ist). Sich dieser Logik zu verweigern, ist eine Absage an den terroristischen Ungeist. Das wäre vermutlich im Sinn von Christopher Stevens.

Zu dem Film, der den Anlass für den Mord an Stevens hergegeben hat, fällt mir nichts ein. Die Redefreiheit zu verteidigen, kann nicht heißen, dass man diesen Schwachsinn auch verteidigen muss. Natürlich handelt es sich um eine gezielte Hassattacke. Was die Sache gemeingefährlich macht: Der Autor posiert ganz kokett mit seinem Judentum und behauptet, dass er Israeli sei (was israelische Stellen nicht bestätigen können). Und er sagt, dass er Geld „von 100 Juden“ für diesen Film aufgetrieben habe. Ob er wohl mit dem Ergebnis zufrieden ist? Oder ob er, da er sein angebliches Judentum und das der Spender so herausstellt, eigentlich gerne Angriffe auf Juden gesehen hätte? Was für ein Arschloch.

 The Israeli government moved quickly to distance Israel from the creator of the film. Yigal Palmor, the spokesman for the Israeli Foreign Ministry, said in a telephoned statement that “Nobody knows who he is. He is totally unknown in filmmaking circles in Israel. And anything he did — he is not doing it for Israel, or with Israel, or through Israel in any way.” Mr. Palmor also called Mr. Bacile “a complete loose cannon and an unspeakable idiot.”

Richtig. Denn in unseren Zeiten hat auch ein solcher unspeakable idiot die Möglichkeit, die Welt in Brand zu stecken.