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Der Sandelf – Folge Nr. 1

 

Was für ein Abenteuer!

Der Sandelf
Illustration: Sabine Wilharm

Cyril, Anthea, Robert, Jane und das Baby »Lamm« verbringen herrliche Ferien in einem weißen Haus auf dem Land, ohne störende Eltern, nur mit ihrem Kindermädchen Martha. Beim Spielen in einer Sandkuhle entdecken sie das seltsamste Wesen der Welt…

Plötzlich schrie Anthea: »Cyril! Komm her! Komm schnell! Es ist lebendig! Schnell! Sonst läuft es weg!« Alle rannten zu ihr zurück. »Das ist sicher eine Ratte«, stellte Robert fest. »Vater sagt, an alten Orten wimmelt es von Ratten, und diese Kuhle muss ganz schön alt sein, wenn hier vor Tausenden von Jahren das Meer gewesen ist.« – »Vielleicht ist es eine Schlange«, sagte Jane und schüttelte sich. »Sehen wir doch mal nach«, rief Cyril und sprang in die Grube. »Ich hab keine Angst vor Schlangen, ich mag sie gern. Wenn es eine Schlange ist, dann zähme ich sie, und sie folgt mir auf Schritt und Tritt, und nachts darf sie sich um meinen Hals ringeln.« – »Nein, das kommt nicht infrage«, widersprach Robert mit fester Stimme. Er schlief mit Cyril in einem Zimmer. »Aber eine Ratte kannst du zähmen.«

»Ach, seid doch nicht so trottelhaft«, unterbrach sie Anthea. »Das ist keine Ratte, es ist viel größer. Es hat Füße, ich hab sie gesehen, und Fell hat es auch! Nein – nicht mit der Schaufel! Du tust ihm ja weh! Grab mit den Händen.« – »Damit es mir wehtun kann? Das würde dir wohl so passen?«, fragte Cyril und griff nach der Schaufel. »Nein, nein!«, rief Anthea. »Bitte nicht! Ich… Es klingt albern, aber es hat etwas gesagt. Wirklich!« – »Was denn?« – »Es hat gesagt: ›Lass mich in Ruhe.‹« Dazu bemerkte Cyril, dass seine Schwester offenbar den Verstand verloren habe, und er und Robert gruben mit ihren Schaufeln weiter. Anthea ließ sich am Rande der Kuhle nieder und sprang von Zeit zu Zeit vor Aufregung auf.

Auf einmal rief sie: »Ich hab keine Angst, dass es mir wehtut! Lasst mich jetzt weitergraben.« Damit kniete sie sich hin und begann, den Sand wie ein Hund wegzuscharren. »Oh, ich kann das Fell spüren«, rief sie halb lachend und halb weinend, »ganz deutlich!« Da ertönte plötzlich eine trockene heisere Stimme aus dem Sand. Sie sprangen zurück, und ihre Herzen begannen wie rasend zu klopfen. »Lasst mich in Ruhe«, sagte die Stimme. »Aber wir wollen dich sehen«, antwortete Robert tapfer. »Ich wünschte, du kämst heraus!«, setzte Anthea hinzu. »Na gut, wenn das euer Wunsch ist«, antwortete die Stimme, und der Sand geriet in Bewegung und kreiselte und wurde weggeblasen, und etwas Braunes und Pelziges und Dickes ließ sich in die Grube rollen, und dann glitt der Sand von ihm ab, und es saß da und gähnte und rieb sich die Augen mit den Pfoten.

Die Kinder standen im Kreis um das Loch herum und betrachteten das Wesen, das sie entdeckt hatten. Und das lohnte sich wahrhaftig! Seine Augen saßen wie Schneckenaugen an langen Stielen, und es konnte sie wie Teleskope einziehen und ausfahren. Seine Ohren glichen Fledermausohren, und sein molliger Körper war wie ein Spinnenbauch geformt und mit dichtem Fell bedeckt. Arme und Beine waren ebenfalls behaart, und es hatte Hände und Füße wie ein Affe. »Was ist das um Himmels willen?«, erkundigte sich Jane. »Können wir es nicht mit nach Hause nehmen?« Das Wesen richtete seine Stielaugen auf sie, um sie genau betrachten zu können, und antwortete: »Schwatzt sie immer solchen Unsinn, oder macht nur das Zeugs auf ihrem Kopf sie so dämlich?«

Bei diesen Worten musterte es verächtlich Janes Sonnenhut. »Sie wollte nichts Kränkendes sagen«, antwortete Anthea sanft. »Du brauchst auch keine Angst zu haben, wir wollen dir bestimmt nicht wehtun.« – »Mir wehtun!«, sagte es. »Mir Angst einjagen! Das ist doch wohl die Höhe. Du redest ja wirklich, als ob ich überhaupt nichts Besonderes wäre.« Sein Fell hatte sich wie das einer Katze gesträubt.

»Sieh mal«, fuhr Anthea freundlich fort, »wenn wir wüssten, wer du wirklich bist, dann könnten wir vielleicht etwas sagen, worüber du dich nicht ärgern musst. Bis jetzt scheinst du dich über jedes Wort geärgert zu haben. Also, wer bist du? Und bitte, schimpf nicht wieder! Wir wissen es nämlich tatsächlich nicht.« – »Ihr wisst es nicht?«, fragte es. »Ich wusste ja, dass sich die Welt geändert hat, aber – also wirklich – wollt ihr mir im Ernst einreden, dass ihr ein Psammed nicht mehr erkennt, wenn es vor euch sitzt?«

»Ein Psammy? Das kommt mir spanisch vor.« – »Es ist nicht spanisch, sondern griechisch«, antwortete das Wesen scharf. »Es heißt Psammed, und das ist: ein Sandelf. Könnt ihr also wirklich einen Sandelf nicht erkennen, wenn ihr ihn vor der Nase habt?« Er schaute dabei so bekümmert und beleidigt drein, dass Jane hastig erwiderte: »Ja, natürlich, jetzt sehe ich es ganz deutlich. Man braucht dich ja nur anzuschauen.« – »Du hast mich schon eine ganze Weile genau anschauen können«, stellte das Psammed ärgerlich fest und begann, sich wieder in den Sand einzubuddeln. »Oh – geh noch nicht fort! Erzähl uns noch mehr!«, rief Robert. »Ich habe nicht gewusst, dass du ein Sandelf bist, aber ich hab gleich beim ersten Blick gemerkt, dass du das wunderbarste Wesen bist, das ich je gesehen habe.« Daraufhin wurde der Sandelf wieder etwas zugänglicher. »Das Reden macht mir gar nichts aus«, antwortete er, »ihr müsst euch nur benehmen. Also, sagt etwas.«

Natürlich fiel keinem etwas Vernünftiges ein, aber schließlich brachte Robert doch eine Frage zustande: »Wie lange lebst du schon hier?« – »Ach, ewig – ein paar Tausend Jahre«, antwortete das Psammed. »Erzähl uns doch davon, bitte.« – »Das steht alles in Büchern.« – »Da steht aber nichts von dir!«, sagte Jane schnell. »Erzähl uns doch bitte alles über dich! Wir wissen überhaupt nichts von dir, und du bist so nett.« Der Sandelf strich seinen langen Rattenschnurrbart glatt und lächelte. »Ja, bitte, erzähl!«, riefen die Kinder im Chor.

Das Psammed zog seine Augen ein und sagte: »Wie stark die Sonne brennt – ganz wie in alten Zeiten. Wo bekommt ihr jetzt eure Megatherien her?« – »Unsere was?«, fragten die Kinder alle auf einmal. »Und gibt es jetzt genug Pterodactylen?«, fuhr das Psammed fort. Die Kinder wussten nicht, was sie antworten sollten. »Was esst ihr denn jetzt zum Frühstück?«, fragte der Sandelf ungeduldig. »Und wer bringt es euch?« – »Wir essen Spiegelei mit Schinken und Butterbrot mit Milch und Porridge und all so etwas. Das bringt uns Mutter. Was ist denn ein Mega-Dingsda und ein Ptero-Soundso? Und wer isst sie zum Frühstück?«

»Na, zu meiner Zeit hat jedermann Pterodactylen zum Frühstück gegessen. Sie sind ein Zwischending zwischen Krokodilen und Vögeln gewesen, Saurier oder Flugechsen kann man auch dazu sagen. Gegrillt haben sie besonders gut geschmeckt. Es war nämlich so: Damals hat es ganze Scharen von Sandelfen gegeben, und morgens ging man los und fing sich einen. Und wenn man einen erwischt hatte, dann musste er einem einen Wunsch erfüllen. Die Leute schickten damals ihre kleinen Jungen vor dem Frühstück zum Strand, um sich den Tageswunsch zu besorgen. Und dem ältesten Sohn der Familie wurde meistens aufgetragen, sich ein Megatherium zu wünschen, natürlich ausgenommen und bratfertig. Das war ein Riesenfaultier, fast so groß wie ein Elefant; es hatte ganz schön viel Fleisch auf den Knochen.«

»Dann müssen aber doch Berge von kaltem Fleisch übrig geblieben sein«, sagte Anthea. »O nein«, antwortete das Psammed, »das kam nie vor. Nein, nein, bei Sonnenuntergang hat sich der Rest des Fleisches natürlich in Stein verwandelt. Ich habe mir sagen lassen, dass man die versteinerten Knochen von Riesenfaultieren und all den anderen Sauriern selbst heute noch überall in der Gegend verstreut finden kann. Dort, wo ich gelebt habe, ist fast überall Sand gewesen, und die Kohle ist auf den Bäumen gewachsen, und die Blüten des Immergrüns waren so groß wie Teetabletts. Ihr könnt sie heute noch finden, sie sind auch versteinert. Wir Sandelfen wohnten am Meeresufer, und die Kinder kamen häufig mit ihren kleinen Schaufeln aus Feuerstein und bauten uns Burgen, in denen wir leben konnten.«

»Aber warum lebt ihr denn heute nicht mehr in solchen Burgen?«, erkundigte sich Robert. »Das ist eine sehr traurige Geschichte«, antwortete das Psammed niedergeschlagen. »Sie bestanden darauf, einen Graben um ihre Burgen zu ziehen, und dadurch kam das eklige nasse Meerwasser herein, und dann hat sich der Sandelf meistens erkältet und ist gestorben. So sind wir immer weniger geworden, und wenn später noch jemand ein Psammed aufstöberte, hat er sich immer ein Megatherium gewünscht und gleich die doppelten Portionen gegessen, denn es dauerte oft Wochen, bis er den nächsten Wunsch anbringen konnte.«

»Und bist du auch nass geworden?«, fragte Robert. Der Sandelf schüttelte sich. »Nur einmal«, antwortete er, »an der Spitze des zwölften Haares meines oberen linken Schnurrbartes – bei feuchtem Wetter kann ich es immer noch spüren. Es ist nur einmal geschehen, aber mir hat es gereicht. Und jetzt sage ich nichts mehr.«

»Nur noch eine Frage bitte«, bettelten die Geschwister, »kannst du immer noch Wünsche erfüllen?« – »Natürlich«, sagte das Psammed. »Hab ich dir nicht vor ein paar Minuten einen erfüllt? Du hast gesagt: ›Ich wünschte, du kämst heraus!‹ Und das ist geschehen.« – »Ach bitte, dürfen wir uns noch etwas wünschen?« – »Ja, aber macht schnell. Ihr langweilt mich allmählich.«

Ihr habt euch sicher oft ausgemalt, was ihr sagen würdet, wenn ihr drei Wünsche frei hättet, und für die Leute in den Märchen, die mit ihren Wünschen nichts anzufangen wussten, nur Verachtung übrig gehabt. Ihr glaubt bestimmt, dass ihr, ohne zu zögern, drei sinnvolle Wünsche wüsstet, wenn ihr in die gleiche Situation kämt. Auch diese Geschwister hatten oft über das Problem gesprochen, aber jetzt konnten sie sich nicht entscheiden.

»Schnell«, sagte der Sandelf ärgerlich. Keinem der Kinder fiel etwas ein. Nur Anthea konnte sich an einen geheimen Wunsch erinnern, den sie und Jane hegten, den sie den Brüdern nie gestanden hatten. Sie wusste, dass sich die Jungen nicht für diesen Wunsch interessieren würden, aber er war immer noch besser als nichts. »Ich wünsche, dass wir alle bildschön sind«, sagte sie schnell. Die Kinder schauten einander an, aber jedes konnte sehen, dass die anderen keinen Deut schöner als gewöhnlich aussahen. Das Psammed fuhr seine Stielaugen aus, schien die Luft anzuhalten und begann anzuschwellen, bis es doppelt so dick und pelzig wie vorher war. Plötzlich stieß es den Atem in einem langen Seufzer aus. »Ich fürchte, ich schaffe es nicht«, sagte es entschuldigend. »Ich muss aus der Übung sein.« Die Kinder waren tief enttäuscht. »Ach, versuch es doch noch einmal!«, baten sie.

»Gut«, antwortete das Psammed. »Ich hab nämlich eben etwas Kraft zurückbehalten, damit ich jedem von euch seinen eigenen Wunsch erfüllen kann. Wenn ihr damit zufrieden seid, dass ihr euch einen Wunsch pro Tag untereinander teilt, dann kann ich mich wahrscheinlich weit genug aufblasen. Seid ihr einverstanden?« – »Ja, o ja!«, riefen Jane und Anthea. Die Jungen nickten. Sie glaubten nicht, dass der Sandelf Wünsche erfüllen konnte. Mädchen sind meistens leichtgläubiger als Jungen. Das Psammed streckte seine Augen noch weiter heraus und schwoll und schwoll und schwoll. »Hoffentlich tut es ihm nicht weh«, flüsterte Anthea. »Und er platzt nicht aus der Haut«, setzte Robert aufgeregt hinzu.

Nachdem der Sandelf so groß geworden war, dass er fast das ganze Sandloch ausfüllte, waren alle sehr erleichtert, als er plötzlich den Atem wieder fahren ließ und seine gewöhnliche Größe annahm. »Das wäre geschafft«, sagte er und keuchte heftig. »Morgen wird es leichter gehen.« – »Hat es sehr wehgetan?«, erkundigte sich Anthea. »Ich hab’s nur an meinem armen Schnurrbarthaar gemerkt. Danke schön«, sagte er. »Aber du bist ein liebes und verständnisvolles Kind. Auf Wiedersehen.«

Er schaufelte plötzlich wie wild mit Händen und Füßen und verschwand im Sand. Die Geschwister schauten einander an, und jedes Kind fand sich plötzlich allein zwischen drei wildfremden Kindern von strahlender Schönheit. Einen Augenblick lang verharrten sie in absolutem Schweigen. Jedes von ihnen meinte, dass sich seine Geschwister fortgeschlichen und diese fremden Kinder sich ebenso leise herangeschlichen haben mussten, während es selbst zuschaute, wie der Sandelf anschwoll…

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858–1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir veröffentlichen Auszüge vorab – vorgelesen und zum Selberlesen!

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