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Der Sandelf (Folge 6)

 

Himmlischer Wunsch!

Cyril, Anthea, Robert und Jane haben einen Sandelfen gefunden, der Wünsche erfüllen kann. Eigentlich eine feine Sache, doch die Gaben des seltsamen Wesens haben die Kinder bisher nur in Schwierigkeiten gebracht. Jetzt aber ist sich Anthea sicher, was sie brauchen: Flügel!

Illustration: Sabine Friedrichson

Cyril schrieb ganz schnell einen langen Brief und machte sich dann – nach der Bauanleitung aus dem Gartenfreund – daran, eine Schneckenfalle zu konstruieren. Als die Postzeit heranrückte, konnte er seinen Brief nicht wiederfinden; er war und blieb spurlos verschwunden. Vielleicht hatten ihn die Schnecken gefressen.

Janes Brief war der einzige, der sich einigermaßen vorzeigen ließ. Sie wollte ihrer Mutter vom Psammed berichten – das hatten die anderen eigentlich auch vorgehabt –, aber sie dachte so lange darüber nach, wie man das Wort Psammed schreibt, dass ihr keine Zeit mehr blieb, die Geschichte ordentlich zu erzählen. Ihre Mutter musste mit Folgendem zufrieden sein:

Der Sandelf – Von Edith NesbitDer SandelfIllustration: Sabine Wilharm

»Allerliebste Mami, wir sind so brav, wie wir können, genau wie Du uns gesagt hast. Der Kleine ist ein bisschen erkältet, aber Martha sagt, es ist nicht schlimm. Er hat nur gestern den Goldfisch über sich gekippt. Als wir gestern auf dem gefahrlosen Weg, den auch die Karren fahren, in der Sandkuhle gewesen sind, da haben wir einen…« Eine halbe Stunde verstrich, bis Jane davon überzeugt war, dass keiner von ihnen wusste, wie man Psammed schrieb. Sie fanden das Wort auch nicht im Lexikon, in dem sie nachschlugen. Schließlich beendete Jane ihren Brief in aller Eile: »Wir haben ein komisches Ding gefunden, aber gleich wird die Post abgeholt, und deshalb für heute nichts mehr von Deiner kleinen Tochter Jane.

PS. Wenn Wünsche in Erfüllung gingen, was würdest Du Dir dann wünschen?« Dann hörten sie den Postwagen herankommen, und Robert rannte in den Regen hinaus, um ihn anzuhalten und dem Postboten die Briefe mitzugeben. Auf diese Weise erfuhr die Mutter nichts von dem Sandelf, obgleich alle Kinder ihr davon hatten erzählen wollen. Es gab noch andere Gründe für ihre Ahnungslosigkeit, aber dazu kommen wir später.

Am nächsten Tag kam Onkel Richard zu Besuch und nahm die Geschwister, außer dem Kleinen, in einer offenen Kutsche mit nach Maidstone. Onkel Richard gehörte zu den netten Verwandten. Er kaufte ihnen in Maidstone Spielsachen, und er nahm sie sogar mit in das Geschäft hinein und ließ sie selbst etwas aussuchen.

Es gab keine Beschränkung in Bezug auf den Preis und keine Predigten, dass die Sachen nützlich oder lehrreich sein müssten. Robert suchte sich allerdings doch, und zwar ganz aus Versehen, etwas Lehrreiches aus. Er entschied sich im letzten Moment für eine Schachtel mit Abbildungen von geflügelten Stieren mit Menschenköpfen und geflügelten Menschen mit Adlerköpfen. Er dachte, in der Schachtel wären Tiere von der Art, wie sie auf dem Deckel abgebildet waren. Aber zu Hause entdeckte er, dass es sich um ein großes Puzzle mit Bildern von der antiken Stadt Ninive handelte.

Seine Geschwister wussten sofort, was sie haben wollten, und bekamen Dinge, an denen sie lange Freude hatten. Cyril suchte sich eine Modelllokomotive aus, die Schwestern wählten jede eine Puppe. Außerdem bekamen die beiden Mädchen noch ein Teegeschirr aus Porzellan mit Vergissmeinnicht darauf. Das gemeinsame Geschenk für die Brüder war ein Bogen mit Pfeilen.

Danach fuhr Onkel Richard mit ihnen Boot, und später gab es in einer herrlichen Konditorei Tee und Kuchen. Als sie nach Hause kamen, war es viel zu spät, um sich noch etwas zu wünschen.

Der Tag nach dem Tag, an dem Onkel Richard sie so verwöhnt hatte, war sehr heiß. Die Leute, die das Wetter in der Zeitung voraussagen, schrieben später, es sei der heißeste Tag seit vielen Jahren gewesen. Wer schon einmal an einem strahlenden Sommertag morgens um fünf aufgestanden ist, der weiß, wie schön das ist. Das Morgenrot glänzt rosig und golden, und Gras und Bäume sind mit Tautropfen übersät. Die Schatten fallen genau andersherum als am Abend, und deshalb hat man das Gefühl, in einer neuen Welt zu sein.

Anthea wachte um fünf Uhr auf. Sie hatte sich das fest vorgenommen, und bei ihr klappte so etwas immer. In dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug, hörte sie die schwarzgoldene Standuhr unten im Esszimmer elf schlagen. Da wusste Anthea, dass es genau drei Minuten vor fünf war. Die schwarzgoldene Uhr schlug nämlich immer falsch, aber wenn man genau wusste, auf welche Weise sie falsch schlug, wusste man auch, was sie in Wirklichkeit ansagen wollte.

Anthea war noch sehr müde, aber sie sprang aus dem Bett und tauchte Gesicht und Hände in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Das ist das beste Zaubermittel gegen den Wunsch, wieder ins warme Bett zurückzuspringen. Dann zog sie sich an und faltete ihr Nachthemd ordentlich zusammen. Sie nahm die Schuhe in die Hand und schlich leise die Treppen hinunter. Sie öffnete das Esszimmerfenster und kletterte hinaus. Genauso gut hätte sie durch die Haustür gehen können, aber Durchs-Fenster-Klettern war romantischer, und außerdem konnte Martha sie so nicht hören.

Ich stehe jetzt immer um fünf Uhr auf, nahm sie sich vor, das ist zu schön. Ihr Herz schlug schnell, denn sie hatte sich ganz allein einen bestimmten Plan ausgedacht. Sie wusste nicht genau, ob es ein guter Plan war, aber sie war fest davon überzeugt, dass er nicht besser geworden wäre, wenn sie ihn mit den Geschwistern besprochen hätte. Und ob er nun gut war oder schlecht, auf jeden Fall wollte sie ihn lieber allein ausführen.

Auf den roten und gelben Steinplatten unter der Veranda zog sie sich die Schuhe an, lief dann geradewegs in die Sandkuhle, suchte den Platz des Psammed und grub es aus. Es war ziemlich ungehalten.

»Das ist ja grässlich«, knurrte es und plusterte sein Fell so auf, wie es die Tauben um die Weihnachtszeit herum tun, »eiskaltes Wetter, und dazu noch mitten in der Nacht.« – »Es tut mir so leid«, sagte Anthea sanft und knöpfte sich die weiße Spielschürze ab. Sie wickelte das Psammed darin ein, aber seinen Kopf, seine Fledermausohren und seine Schneckenaugen ließ sie frei. »Danke schön«, sagte es. »So ist’s schon besser. Was ist der Wunsch des Morgens?« – »Ich weiß es nicht«, antwortete sie, »das ist es ja eben. Sieh mal, wir haben bis jetzt so viel Pech gehabt. Darüber wollte ich mich mit dir unterhalten. Aber – würdest du bitte damit einverstanden sein, mir vor dem Frühstück keinen Wunsch zu erfüllen? Es ist so schwer, sich mit jemandem zu unterhalten, der einen immer gleich auf Wünsche festnagelt, die man in Wirklichkeit gar nicht erfüllt haben wollte.«

»Du solltest dir nichts wünschen, was du nicht haben willst. In den alten Zeiten wussten die Leute immer ganz genau, ob sie nun ein Megatherium oder einen Ichthyosaurus zum Essen haben wollten.« – »Ich will’s ja versuchen«, versprach Anthea, »aber ich wünschte …« – »Pass auf!«, warnte das Psammed und begann sich aufzublasen.

Oh, das war doch noch kein Wunsch. Das hab ich doch bloß so gesagt! Ich wäre so froh, wenn du dich nicht aufblasen würdest, sodass du fast platzt, um mir einen Wunsch zu erfüllen. Warte bitte damit, bis die anderen auch hier sind.« – »Na ja«, sagte es nachsichtig, aber es zitterte dabei.

»Möchtest du«, fragte Anthea liebevoll, »möchtest du vielleicht auf meinem Schoß sitzen? Da hättest du es wärmer, und ich könnte dich noch in meinen Rock einwickeln. Ich bin auch ganz vorsichtig.« Anthea hatte es nicht erwartet, aber das Psammed war einverstanden. »Ich danke dir«, sagte es. »Du bist wirklich sehr verständnisvoll.« Es kroch auf ihren Schoß und kuschelte sich dort ein, und sie nahm es mit einer noch ängstlichen Zärtlichkeit in die Arme. »Nun denn!«, sagte es.

»Ja, also«, begann Anthea, »alles, was wir uns gewünscht haben, ist schrecklich schiefgegangen. Ich möchte so gern, dass du uns einen Rat gibst. Du bist so alt, da musst du doch auch sehr weise sein.« – »Ich bin von Kindesbeinen an großzügig gewesen«, antwortete der Sandelf. »Ich habe alle meine wachen Stunden nur dazu benutzt, Wünsche zu erfüllen. Aber eines gedenke ich nicht zu tun, und das ist: jemandem etwas raten.«

»Aber sieh mal«, fuhr Anthea fort, »es ist doch so fabelhaft – so ein fabelhafter, unbeschreiblicher Glücksfall. Es ist so gut und lieb und nett von dir, unsere Wünsche zu erfüllen. Und es ist so ein Jammer, dass das alles für die Katz ist, nur weil wir zu dumm sind, um uns das Richtige zu wünschen.«

Genau das hatte Anthea einmal klar aussprechen wollen, aber nicht in der Gegenwart ihrer Geschwister. Es ist etwas anderes, wenn man sich allein eingesteht, dass man dumm ist, als wenn man das in Anwesenheit anderer Menschen tut.

»Kind«, sagte der Sandelf schließlich, »ich kann euch nur raten, vor dem Reden nachzudenken…« – »Aber ich dachte, du wolltest nie jemandem etwas raten.« – »Dieser kleine Wink zählt nicht«, antwortete er. »Ihr werdet euch ja doch nicht danach richten! Und außerdem, er stammt auch gar nicht von mir. Es steht in jedem Lesebuch.« – »Was würdest du denn zum Beispiel davon halten, wenn wir uns Flügel wünschten? War das ein dummer Wunsch?«

»Flügel?«, fragte er. »Das wäre das Dümmste nicht. Ihr müsst nur aufpassen, dass ihr bei Sonnenuntergang nicht mehr zu hoch seid. Ich habe mal von einem kleinen Jungen aus Ninive gehört. Er war einer von König Sanheribs Söhnen, und ein Reisender brachte ihm ein Psammed mit. Er hielt es sich in einem Sandkasten auf dem Palasthof. So etwas ist natürlich eine schreckliche Schmach und Schande für unsereins, aber der Junge war immerhin der Sohn eines assyrischen Königs. Eines Tages wünschte er sich nun Flügel und bekam sie auch. Aber er dachte nicht mehr daran, dass sie bei Sonnenuntergang zu Stein werden würden, und als das geschah, stürzte er direkt auf einen der geflügelten Löwen, deren Standbilder seines Vaters breite Schlosstreppe krönten. Was dabei passierte – na, eine schöne Geschichte ist das nicht! Aber bis zu dem Augenblick hat der Junge das Fliegen, glaub ich, sehr genossen.«

»Sag mir doch«, fragte Anthea, »warum versteinern unsere Wunschsachen nicht mehr? Warum verschwinden sie nur einfach?« – »Andere Zeiten, andere Sitten«, erwiderte das Psammed. »Was ich damit sagen will, ist dies: In jenen alten Zeiten wünschten sich die Leute handfeste, vernünftige Alltagsdinge, Mammuts und Flugsaurier und Ähnliches, und das ließ sich ziemlich leicht in Stein verwandeln. Aber heutzutage wünschen sich die Leute meistens irgendetwas Überkandideltes. Wie willst du denn Schönheit versteinern lassen oder die Tatsache, dass sich alle um dich reißen? Du wirst einsehen, dass das unmöglich ist. Und weil man nicht nach zwei verschiedenen Regeln arbeiten kann, darum verschwindet jetzt einfach alles. Wenn sich der Wunsch, bildschön zu sein, tatsächlich versteinern ließe, so würde das furchtbar lange dauern, verstehst du – länger, als dir lieb wäre. Schau dir doch die griechischen Statuen an. Es ist schon besser so. Leb wohl. Ich falle um vor Müdigkeit.« Es sprang von ihrem Schoß, scharrte wie wild und verschwand.

Anthea kam zu spät zum Frühstück. Robert ließ gerade in aller Seelenruhe einen Löffel Sirup auf den Spielkittel vom Lamm tropfen, sodass der Kleine gleich nach dem Frühstück noch einmal wieder von Kopf bis Fuss gewaschen werden musste. An und für sich war das ja ziemlich unartig, aber es hatte doch zwei Vorteile: Es entzückte den Kleinen, der besonders gern rundum klebrig war, und es beschäftigte Martha so lange, dass sich die Geschwister ohne das Lamm zur Sandkuhle davonschleichen konnten.

Hast du die letzte Folge verpasst? Du findest sie hier

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken Auszüge (in der Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt) vorab.