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Der Sandelf (Folge 7)

 

Der Sandelf Illustration: Sabine Friedrichson
Schrecken der Lüfte!

Endlich mal ein Wunsch, von dem man wirklich etwas hat: Cyril, Anthea, Robert und Jane sind begeistert von den Flügeln, die der Sandelf ihnen geschenkt hat. Es ist wunderschön, durch die laue Sommerluft zu gleiten – und dem Besitzer eines Pflaumenbaums gewaltige Angst einzujagen…

Während sie den Wiesenweg entlangrannten, stieß Anthea atemlos hervor: »Ich möchte vorschlagen, dass wir uns mit dem Wünschen abwechseln. Das heißt, es sollte natürlich niemand etwas wünschen, was den anderen nicht gefällt. Seid ihr einverstanden?« – »Wer soll denn den ersten Wunsch haben?«, erkundigte sich Robert. »Wenn ihr nichts dagegen habt, ich«, antwortete Anthea. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht – mein Wunsch sind Flügel.«

Daraufhin schwiegen alle. Sie versuchten, an der Sache einen Haken zu finden, aber das war schwierig, weil schon das Wort »Flügel« jedes Herz in freudiger Erregung schneller flattern ließ. »Nicht übel«, bemerkte Cyril großzügig, und Robert fügte hinzu: »Wirklich, Anthea, manchmal bist du gar nicht so dumm, wie du aussiehst.« – Jane sagte: »Das könnte himmlisch werden, das ist wie ein fantastischer Traum!«

Sie fanden den Sandelf sofort. Anthea sagte: »Ich wünschte, dass wir alle schöne Flügel zum Fliegen bekommen.« Der Sandelf blies sich auf, und im nächsten Augenblick hatte jedes der Kinder ein sonderbares Gefühl an den Schultern, halb war es Schwere, halb war es Leichtigkeit. Das Psammed legte den Kopf auf die Seite und richtete seine Schneckenaugen der Reihe nach auf jeden von ihnen. »Gar nicht so übel«, sagte es verträumt, »aber du, Robert, du bist doch nicht ganz so engelhaft, wie du aussiehst.« Robert wurde rot.

Die Flügel waren gewaltig und prachtvoller, als man sie sich vorstellen kann, denn sie waren sanft und glatt, und jede Feder schmiegte sich ordentlich an die nächste. Und alle Federn schimmerten in zauberhaften Regenbogenfarben. »Aber – können wir denn auch fliegen?«, fragte Jane, die ängstlich von einem Fuß auf den anderen trat. »Pass auf!«, rief Cyril. »Du trittst mir auf die Flügel.« – »Tut das weh?«, erkundigte sich Anthea.

Der Sandelf – Von Edith NesbitDer SandelfIllustration: Sabine Wilharm

Aber sie erhielt keine Antwort, denn Robert hatte seine Schwingen ausgebreitet und war in die Luft gesprungen, und nun stieg er langsam empor. Er sah in seinem Anzug etwas komisch aus, besonders seine Stiefel hingen ziemlich hilflos herab, und sie schienen viel größer zu sein, als wenn er mit ihnen herumlief. Es war den Geschwistern jedoch völlig gleichgültig, wie Robert oder wie sie selbst aussahen. Denn jetzt breiteten sie alle die Flügel aus und stiegen in die Höhe. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, wenn man die Luft am Gesicht entlanggleiten fühlt. Die Schwingen waren unbeschreiblich groß, und die Geschwister mussten in großem Abstand voneinander fliegen, damit sie sich nicht gegenseitig im Wege waren. Aber Kleinigkeiten dieser Art lernt man ja schnell.

Wenn man von oben auf die Felder und Wälder hinabblickt, hat man das Gefühl, auf eine wunderschöne lebendige Landkarte zu schauen, nur dass die bunten Flecken auf dem Papier echte sonnige Wälder und grüne Felder sind. Es war alles in allem atemberaubender und viel zauberhafter als alles andere, was sich die Kinder bisher gewünscht hatten. Sie flatterten und flogen und schwebten auf ihren mächtigen regenbogenfarbenen Schwingen zwischen der grünen Erde und dem blauen Himmel dahin. Sie flogen direkt über Rochester und stoben dann in Richtung Maidstone davon. Allmählich begann ihnen der Magen zu knurren. Das fiel ihnen erstaunlicherweise gerade in dem Moment auf, als sie ziemlich niedrig über einen Obstgarten hinwegflogen, in dessen Bäumen eine frühe Pflaumensorte rot und reif zwischen den Blättern leuchtete.

Sie schwebten auf der Stelle. Ich kann nicht erklären, wie man das macht. Ihr müsst es euch wie Wassertreten vorstellen; Habichte können es ganz ausgezeichnet. »Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn man Flügel hat«, sagte Cyril, obwohl noch niemand etwas gesagt hatte. »Findest du wirklich?«, fragte Jane keck. »Wenn man Flügel hat, ist man doch ein Vogel, und bei Vögeln sagt kein Mensch etwas, wenn sie gegen die Zehn Gebote verstoßen. Das heißt, manche Leute haben vielleicht einiges dagegen, aber Vögel machen schließlich immer so etwas, und Schelte kriegen sie nie.«

Es war wirklich gar nicht so einfach, sich auf dem Pflaumenbaum niederzulassen, denn die Regenbogenflügel waren ungeheuer groß. Aber irgendwie schafften sie es, und die Pflaumen waren wahrhaftig köstlich süß und saftig. Sie griffen zu, bis sie so viele Pflaumen gefuttert hatten, wie sie vertragen konnten. Da entdeckten sie einen stämmigen Mann, der so aussah, als ob ihm die Pflaumenbäume gehörten. Er kam mit einem Knüppel durch die Obstgartentür gerannt, und wie auf Befehl befreiten alle auf einmal ihre Schwingen aus dem Gewirr der Pflaumenzweige und flogen auf.

Der Mann blieb mit offenem Munde wie angewurzelt stehen. Er hatte gesehen, dass die Zweige seiner Obstbäume auf und nieder tanzten, und er war sofort aus dem Haus geschossen, denn die Dorfjungen hatten ihm im Laufe des vergangenen Sommers beigebracht, dass man Pflaumen gut bewachen muss. Als er nun die Regenbogenschwingen aus dem Pflaumenbaum emporschlagen sah, dachte er, er hätte den Verstand verloren. Anthea beobachtete, wie sein Mund langsam aufklappte und dann offen blieb und wie sich sein Gesicht nach und nach mit grünen und violetten Flecken überzog, sie rief laut:

»Sie brauchen keine Angst zu haben!« Schnell suchte sie in ihrer Schürzentasche nach einem durchbohrten Dreipennystück, das sie sich als Glücksbringer an einem Band um den Hals hatte hängen wollen. Dann schwebte sie einmal um den unglückseligen Pflaumenbaumbesitzer herum und sagte dabei: »Wir haben ein paar von Ihren Pflaumen gegessen, wir haben das eigentlich nicht für einen Diebstahl gehalten, aber jetzt bin ich doch unsicher geworden. Nehmen Sie deshalb dieses Geld als Bezahlung.«

Sie stieß zu dem schreckensstarren Pflaumenbaumbesitzer hinab, ließ die Münze in seine Jackentasche gleiten und war mit ein paar raschen Flügelschlägen wieder bei ihren Geschwistern. Der Bauer saß wie hingeschmettert auf seinem Rasen.

»Gott bewahre mich«, stammelte er, »das muss ja wohl das sein, was die Doktors Halluzinationen nennen. Aber dies hier ist eine Münze«, er zog sie aus der Tasche und biss darauf, »und die ist völlig echt und wirklich. Ja, ab heute will ich ein besserer Mensch werden. So ein Erlebnis zeigt einem das Leben in einem ganz neuen Licht. Ich bin nur froh, dass es bloß Flügel sind, mit denen ich es zu tun habe. Ich sehe immer noch lieber Vögel, die es gar nicht gibt und die es auch gar nicht geben kann, selbst wenn sie so tun, als ob sie sprechen könnten, als andere Sachen, von denen ich lieber gar nicht reden will.«

Er stand schwerfällig und ächzend auf und ging ins Haus. Und er behandelte seine Frau den Tag über so liebevoll, dass sie sich ganz glücklich fühlte und insgeheim dachte: Was mag denn nur über diesen Mann gekommen sein? Dann machte sie sich ein bisschen zurecht und band sich eine blaue Schleife um den Kragen, und damit sah sie so hübsch aus, dass er noch netter zu ihr wurde.

So hatten die geflügelten Geschwister an diesem Tage eine gute Tat vollbracht. Sie blieb jedoch die einzige, denn wenn man in Schwierigkeiten geraten will, dann braucht man nur Flügel zu haben. Wenn man allerdings in Schwierigkeiten gerät, dann sind Flügel auch das beste Mittel, um ihnen wieder zu entfliehen.

Das erlebten die Geschwister zum Beispiel, als sie ein wenig später ihre Flügel so schmal wie möglich zusammenfalteten und auf eine Bauernhaustür zugingen, um etwas Brot und Käse zu erbitten; denn trotz der Pflaumen verspürten sie bald darauf wieder einen nagenden Hunger. Dabei sprang sie plötzlich ein bissiger Hund an. Wenn die Geschwister vier normale flügellose Kinder gewesen wären, hätte der Hund sicher das braunbestrumpfte Bein von Robert erwischt, der ihm am nächsten gekommen war. Aber beim ersten Knurren erhob sich ein Flügelrauschen, und der Hund blieb unten an seiner Kette zurück, an der er, auf den Hinterpfoten tanzend, so zog und zerrte, als ob auch er davonfliegen wollte.

Sie versuchten es bei einigen anderen Bauern, die keinen Hund hatten, aber die Leute waren so entsetzt, dass sie nur schrille Schreie ausstießen, und nachdem es schließlich fast vier Uhr geworden war und ihre Flügel sich erbärmlich steif und müde anfühlten, ließen sie sich auf der Plattform eines Kirchturms nieder und hielten Kriegsrat.

»Also, es ist unmöglich, dass wir den ganzen Weg ohne einen einzigen Bissen im Magen wieder nach Hause fliegen«, stellte Robert fest. »Aber kein Mensch wird uns etwas zu essen oder zu trinken geben«, sagte Cyril. »Vielleicht tut das der Pfarrer hier«, meinte Anthea. »Wenn er schon über Engel Bescheid weiß…« – »Jeder sieht doch auf den ersten Blick, dass wir keine Engel sind«, widersprach Jane. »Schau dir doch Roberts Stiefel an und den karierten Schlips von Cyril.«

»Na gut«, sagte Cyril mit fester Stimme, »wenn das Land, in dem man sich befindet, einem keine Lebensmittel verkaufen will, dann muss man sie sich eben nehmen. So jedenfalls steht es in allen Kriegsbüchern. Und selbst in anderen Geschichten lässt kein guter Bruder seine kleinen Schwestern mitten im Überfluss verhungern.« – »Überfluss?«, wiederholte Robert, und auch die beiden Schwestern warfen einen flüchtigen Blick auf die kahlen Bleiplatten des Kirchendaches und murmelten: »Mitten in was?«

»Ja«, sagte Cyril mit Nachdruck, »auf der einen Seite des Pfarrhauses ist ein Speisekammerfenster, und in der Kammer hab ich die Vorräte gesehen, Pudding und kaltes Huhn und Zunge und Pasteten und Marmelade. Das Fenster liegt ziemlich hoch, doch mit Flügeln…« – »Es ist aber unrecht«, mahnte Anthea. »Unsinn«, antwortete Cyril. »Es ist nur Mundraub.« – »Wir können trotzdem alles Geld, das wir bei uns haben, zusammenlegen und damit die Sachen bezahlen. Findet ihr nicht auch?«, schlug Anthea vor. »Nicht alles, aber etwas«, meinten die anderen.

Jeder leerte nun seine Taschen auf der Plattform des Turmes aus, wo Besucher aus den letzten einhundertfünfzig Jahren ihren Namen und den namen ihrer Liebsten mit Federmessern ins weiche Blei geritzt hatten. Insgesamt besaßen die Kinder fünf Schilling und siebeneinhalb Pence. Sie einigten sich schließlich auf eine halbe Krone, die sie für einen angemessenen Preis hielten.


Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken Auszüge (in der Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt) vorab.

Hast du die letzte Folge verpasst? Du findest sie hier