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Der Sandelf (Folge Nr. 9)

 

Alarm im Pfarrhaus!

Cyril, Anthea, Robert und Jane sitzen auf dem Dach des Kirchturms fest. Ihr gellender Hilfeschrei ruft den Pfarrer und den Wildhüter auf den Plan: Nette Leute, aber niemand, dem man das Problem mit dem Sandelfen erklären könnte…

Illustration: Sabine Friedrichson

Du meine Güte«, sagte der Pfarrer. »Andreas, hol die Stall-Laterne. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn wir noch einen Mann aus dem Dorf holten.« – »Damit ich unterwegs dann die ganze Bande, die vermutlich dahintersteckt, auf dem Hals habe! Nein, Sir, wenn das keine Falle ist, will ich Otto heißen! Der Vetter von der Köchin ist gerade da. Er ist Wildhüter, Sir, und daran gewöhnt, mit verdächtigen Typen umzugehen. Und er hat sein Gewehr bei sich!«

»Hallo, hallo!«, rief Cyril vom Kirchturm herab. »Kommen Sie doch, und lassen Sie uns raus!« – »Und ob wir kommen«, antwortete Andreas. »Ich hol nur die Polizei und ein Gewehr.« – »Andreas«, rügte der Pfarrer, »das ist nicht die Wahrheit.« – »Aber doch fast, Sir. Für solche wie die gibt’s da keinen Unterschied.«

Andreas holte also die Laterne und den Vetter der Köchin herbei, und die Frau des Pfarrers flehte alle an, sehr, sehr vorsichtig zu sein. Sie stolperten über den Friedhof, denn es war unterdessen stockfinster geworden, und sie unterhielten sich im Gehen. Der Pfarrer war davon überzeugt, dass ein Wahnsinniger auf dem Kirchturm saß, und zwar derjenige, der den verrückten Brief geschrieben und die kalte Zunge und alles andere gestohlen hatte. Andreas hielt das Ganze für eine Falle. Nur der Vetter der Köchin behielt die Ruhe.

»Viel Geschrei und nichts dahinter«, brummte er. »Gefährliche Kerle sind stiller.«

Der Sandelf – Von Edith NesbitDer SandelfIllustration: Sabine Wilharm

Er hatte überhaupt keine Angst, aber er besaß schließlich auch eine Waffe. Er wurde daher gebeten, als Erster die ausgetretenen, dunklen Stufen im Kirchturm hinaufzusteigen. So übernahm er denn die Führung mit der Laterne in der einen und dem Gewehr in der anderen Hand. Andreas ging als Zweiter. Später behauptete er, das hätte er getan, weil er tapferer als sein Herr sei, aber in Wirklichkeit fürchtete er, in eine Falle zu geraten. Er mochte nicht als Letzter gehen, weil er Angst hatte, dass sich jemand leise in der Dunkelheit anschleichen und ihn bei den Beinen packen könnte. Sie tappten die kleine Wendeltreppe immer höher hinauf, dann hatten sie den Glockenboden erreicht, auf den die Glockenseile herabpendelten, deren Handgriffe weich und pelzig waren wie riesige Raupen. Und weiter ging es die nächste Wendeltreppe in die Turmspitze hinauf. Dort hingen die großen Glocken. Danach folgte eine Leiter mit breiten Tritten und schließlich eine steinerne Stiege, die auf eine kleine Tür zuführte. Diese Tür war von der Treppenseite her durch einen Riegel verschlossen.

Der Vetter der Köchin, der Wildhüter, schlug gegen die Tür und sagte: »Hallo, Sie da!«

Die Geschwister auf der anderen Seite der Tür klammerten sich zitternd vor Angst aneinander. Vom vielen Schreien waren sie ganz heiser geworden und konnten kaum mehr sprechen. Cyril schaffte es, eine Antwort zu krächzen: »Hallo, Sie da!« – »Wie sind Sie da raufgekommen?« Es hatte keinen Zweck, »Wir sind geflogen« zu sagen, und deshalb antwortete Cyril: »Als wir oben waren, haben wir gemerkt, dass die Tür verschlossen war, und da konnten wir nicht wieder hinunter. Lassen Sie uns bitte heraus!«

»Wie viele seid ihr denn?«, erkundigte sich der Wildhüter. »Nur vier«, antwortete Cyril. »Seid ihr bewaffnet?« – »Ob wir was sind?« – »Ich hab mein Gewehr griffbereit – also keine faulen Tricks«, sagte der Wildhüter. »Wenn wir die Tür aufmachen, versprecht ihr dann, friedlich herunterzukommen und keine Geschichten zu machen?« – »Ja – o ja!«, riefen die Geschwister durcheinander. »Gott steh mir bei«, murmelte der Pfarrer. »Da war ohne Zweifel eine weibliche Stimme darunter.«

»Soll ich die Tür aufmachen, Sir?«, fragte der Wildhüter. Andreas wich ein paar Stufen nach unten zurück, »um den anderen Platz zu machen«, wie er später behauptete. »Ja«, befahl der Pfarrer, »machen Sie die Tür auf. Bitte, denken Sie daran«, setzte er durch das Schlüsselloch hinzu, »dass wir zu Ihrer Befreiung herbeigeeilt sind. Ich hoffe, Sie halten Ihr Versprechen und vermeiden jede Gewalt.« – »Wie fest der Riegel sitzt«, bemerkte der Wildhüter. »Da möchte man glauben, der ist seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr benutzt worden.« Mit dieser Bemerkung traf er den Nagel auf den Kopf.

Nachdem der Riegel zurückgezogen war, sprach der Wildhüter mit tiefer Stimme eine letzte Warnung durchs Schlüsselloch. »Ich mache nicht auf«, sagte er, »bevor ihr nicht in die äußerste Ecke des Turms zurückgegangen seid. Und wenn sich nur einer von euch nähert, dann schieße ich. Jetzt!«

»Wir sind alle in der Ecke auf der anderen Seite«, antworteten die Stimmen. Der Wildhüter war überaus zufrieden mit sich und hielt sich für einen kühnen und gescheiten Mann. Als er aber die Tür aufstieß, auf die Plattform hinaustrat und das volle Licht der Stall-Laterne auf das Grüppchen der Verzweifelten fallen ließ, die sich im entferntesten Winkel des Umganges gegen eine Turmzinne drängten, da ließ er den Lauf sinken, und die Laterne fiel ihm fast aus der Hand.

»Gott bewahre mich!«, rief er. »Das sind ja nur ein paar Kinder!«

Jetzt näherte sich der Pfarrer. »Wie seid ihr hierhergekommen?«, fragte er streng. »Gesteht es mir auf der Stelle!« – »Ach, nehmen Sie uns doch bitte mit runter«, flehte Jane und klammerte sich an seinen Rock. »Dann erzählen wir Ihnen alles, was Sie hören wollen. Sie werden uns zwar doch nicht glauben, aber das spielt gar keine Rolle. Oh, nehmen Sie uns bitte mit hinunter!«

So wurden sie also hinuntergeführt. Es ist alles andere als ein Vergnügen, einen fremden Kirchturm im Dunkeln hinabzusteigen, selbst wenn der Wildhüter einem hilft. Allerdings musste Cyril der Siphonflasche wegen auf alle Hilfe verzichten. Die Flasche war so furchtbar glatt und schwierig zu verbergen. Mitten auf der Leiter verlor er sie fast. Er erwischte sie zwar noch eben am Griff, aber dabei trat er fast ins Leere. Als sie den Fuß der Wendeltreppe erreicht hatten und auf den Platz vor der Kirchentür hinaustraten, zitterte er am ganzen Leibe und war totenbleich.

Plötzlich packte der Wildhüter Cyril und Robert am Arm. »Sie können die Mädchen übernehmen, Sir!«, rief er. »Sie und Andreas werden schon mit ihnen fertig.« – »Lassen Sie mich los!«, sagte Cyril. »Wir laufen schon nicht weg. Und Ihrer alten Kirche haben wir auch nichts getan. Lassen Sie mich los!« – »Ihr kommt schön mit«, sagte der Wildhüter, und Cyril wagte nicht, ihm heftig zu widersprechen, weil der Siphon schon wieder ins Rutschen geriet.

Sie wurden alle in das Arbeitszimmer des Pfarrers geführt, und dann kam die Frau des Pfarrers angestürzt. »Oh, William, bist du heil und gesund?«, rief sie. Robert beeilte sich, ihre Ängste zu vertreiben. »Ja«, antwortete er, »er ist noch heil und gesund. Wir haben ihm nichts getan. Und bitte, wir sind so schrecklich spät dran, zu Hause wird man schon in großer Aufregung sein. Könnten Sie uns wohl in Ihrem Wagen nach Hause fahren lassen?«

»Oder vielleicht ist in der Nähe ein Hotel, wo wir uns einen Wagen mieten könnten«, sagte Anthea. »Martha wird jetzt schon außer sich sein.« Der Pfarrer war, überwältigt von Erregung und Verwunderung, in seinen Sessel gesunken. Cyril hatte sich auch hingesetzt und stützte – wegen des Siphons – die Ellbogen auf die Knie.

»Aber wieso seid ihr denn oben auf dem Kirchturm eingesperrt gewesen?«, fragte der Pfarrer. »Wir sind hinaufgegangen«, antwortete Robert langsam, »und dann sind wir müde geworden und alle eingeschlafen, und als wir aufwachten, haben wir gemerkt, dass die Tür verschlossen war, und da haben wir geschrien.«

»Und wie ihr geschrien habt!«, sagte die Pfarrersfrau. »Ihr habt uns fast um den Verstand gebracht! Ihr solltet euch was schämen!« – »Das tun wir ja auch«, antwortete Jane sanft. »Aber wer hat die Tür denn zugeschlossen?«, erkundigte sich der Pfarrer. »Das wissen wir wirklich nicht«, antwortete Robert, womit er die reine Wahrheit sagte. »Bitte, schicken Sie uns jetzt nach Hause.«

»Nun ja«, murmelte der Pfarrer, »das müssen wir wohl tun. Andreas, spann das Pferd an, du kannst sie nach Hause fahren.« – »Nicht allein, ich denk nicht dran«, murmelte Andreas in seinen Bart. »Und«, fuhr der Pfarrer fort, »lasst euch das eine Lehre sein…« Er redete und redete, und die Kinder hörten ergeben zu.

Nur der Wildhüter hörte nicht zu. Er musterte den unglücklichen Cyril. Er kannte sich gut mit Wilderern aus, und deshalb wusste er auch, wie Leute aussehen, die etwas zu verstecken haben. Der Pfarrer sprach gerade davon, dass Kinder für ihre Eltern ein Segen sein sollten und dass sie ihnen weder Kummer noch Schande bereiten dürften, da platzte der Wildhüter heraus: »Fragen Sie ihn mal, was er unter seiner Jacke hat!«

Da wusste Cyril, dass die Geheimnistuerei ein Ende hatte. Er stand auf, reckte seine Schultern und versuchte, so edel, tapfer und aufrecht wie die Helden in seinen Kinderbüchern auszusehen. Dann zog er die Siphonflasche heraus und sagte: »Na ja, hier ist sie.«

Schweigen breitete sich aus. Weil ihm nichts anderes übrig blieb, setzte Cyril schließlich hinzu: »Ja, wir haben sie aus Ihrer Speisekammer genommen und etwas Hühnerfleisch und Zunge und Brot. Wir waren schrecklich hungrig, aber wir haben wirklich nichts Süßes genommen. Keinen Pudding und keine Marmelade. Und wir haben eine halbe Krone als Bezahlung dagelassen. Und einen Brief haben wir auch hinterlegt. Es tut uns allen furchtbar leid. Mein Vater bezahlt sicher eine Geldbuße oder was Sie wollen. Aber bitte, lassen Sie uns nicht ins Gefängnis werfen. Mutter würde das nicht ertragen. Sie wissen doch, Sie haben es eben selbst gesagt, dass man ihnen keine Schande bereiten soll. Tun Sie uns das bitte nicht an! Weiter wollen wir ja gar nichts. Es tut uns alles schrecklich leid. So.«

»Wie um Himmels willen seid ihr denn zum Speisekammerfenster hinaufgekommen?«, fragte die Pfarrersfrau. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Cyril mit fester Stimme. »Ist das die volle Wahrheit, die ich da von euch gehört habe?«, erkundigte sich der geistliche Herr. »Nein«, antwortete Jane plötzlich, »es ist zwar alles wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die können wir Ihnen nicht erzählen, und es hat auch gar keinen Zweck, wenn Sie uns danach fragen. O bitte, verzeihen Sie uns, und bringen Sie uns nach Hause!« Sie lief zu der Frau des Pfarrers hinüber und warf sich ihr in die Arme. Die Pfarrersfrau beruhigte sie, und der Wildhüter flüsterte dem Pfarrer hinter der Hand zu: »Die sind in Ordnung, Sir; vermutlich wollen sie einem Freund beistehen. Irgendwer hat sie dazu gebracht, und jetzt wollen sie nicht petzen. Anständige kleine Kerle.«

»Sagt mal«, fragte der Pfarrer freundlich, »wollt ihr jemanden schützen? Hat noch ein anderer mit der Sache zu tun?« – »Ja«, antwortete Anthea, wobei sie an das Psammed dachte, »aber es war nicht seine Schuld.« – »Nun gut, liebe Kinder«, sagte der Pfarrer, »dann wollen wir nicht mehr darüber sprechen. Erklärt mir nur noch, warum ihr so einen sonderbaren Brief geschrieben habt.« – »Ich weiß nicht«, sagte Cyril. »Sehen Sie, Anthea hat das alles nur ganz schnell aufgeschrieben.«

»Nichts mehr davon!«, rief die Pfarrersfrau. »Aber das nächste Mal denkt lieber vorher über die möglichen Folgen nach, ehe ihr anderen Leuten den Aufschnitt wegnehmt. So – vielleicht etwas Kuchen und Milch, bevor ihr aufbrecht?«

Als Andreas kam und sagte, dass er angespannt habe und sich erkundigen wolle, ob er wirklich mutterseelenallein in die Falle hineinfahren müsse, die er von Anfang an genau durchschaut habe, da sah er die Geschwister gemütlich Kuchen essen und Milch trinken und über die Späße des Pfarrers lachen. Jane saß auf dem Schoß der Pfarrersfrau. Der Wildhüter kam ebenfalls herein, um sich zu verabschieden und um zu fragen, ob er mit den Kindern mitfahren könne. Da fiel Andreas ein Stein vom Herzen, denn nun hatte er doch einen Gefährten, der ihn im Notfall beschützen konnte. Er glaubte nämlich immer noch felsenfest an eine Falle. Als der Wagen das weiße Haus der Kinder zwischen der Kalkgrube und der Sandkuhle erreichte, waren die Geschwister zwar sehr müde, aber sie hatten das Gefühl, dass sie und der Wildhüter Freunde fürs Leben geworden waren. Wortlos ließ Andreas die Kinder an der schmiedeeisernen Gartenpforte aus dem Wagen klettern. »Lauft ins Haus«, sagte der Vetter der Pfarrersköchin, »ich marschiere auf Schusters Rappen heim.«

Andreas musste also allein fortfahren, was ihm sehr gegen den Strich ging; der Wildhüter aber, der Vetter der Pfarrersköchin, begleitete die Geschwister zur Haustür und blieb noch eine Weile da, nachdem die Kinder unter Vorwürfen und Ermahnungen ins Bett gescheucht worden waren. Denn er wollte Martha und der Köchin genau erklären, was passiert war. Und diese Erklärung muss so zufriedenstellend ausgefallen sein, dass Martha noch am nächsten Vormittag die Liebenswürdigkeit selbst war. Er tauchte später noch viele Male auf, um Martha zu besuchen und schließlich… Aber das ist eine andere Geschichte, wie Mr. Kipling immer sagt.

Hast du die letzte Folge verpasst? Du findest sie unter hier.

Alarm im Pfarrhaus!

Cyril, Anthea, Robert und Jane sitzen auf dem Dach des Kirchturms fest. Ihr gellender Hilfeschrei ruft den Pfarrer und den Wildhüter auf den Plan: Nette Leute, aber niemand, dem man das Problem mit dem Sandelfen erklären könnte…

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken vorab Auszüge (in der Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt).