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Der Sandelf (Folge Nr. 10)

 

Auf dem Kriegspfad!
Der SandelfIllustration: Sabine Friedrichson
Nach dem Abenteuer mit den Flügeln hatten sich die Kinder eigentlich nach einer ruhigen Zeit gesehnt. Natürlich vergeblich! Denn ohne zu überlegen hat Cyril beim Frühstück einen Wunsch getan, dessen Erfüllung ihn und die Geschwister in echte Gefahr bringt.

Wenn Cyril nicht gerade Der letzte Mohikaner gelesen hätte, wäre der nächste Tag wohl friedlicher verlaufen. Die Geschichte geisterte noch beim Frühstück durch seinen Kopf, und als er sich die dritte Tasse Tee eingoss, sagte er träumerisch: »Ich wünschte, es gäbe in England Indianer – keine richtig großen, wisst ihr, lieber kleine, die ungefähr so groß sind wie wir, damit wir mit ihnen kämpfen könnten.«

Niemand stimmte zu, und keiner maß dieser Bemerkung eine Bedeutung zu. Aber etwas später liefen sie in die Sandkuhle und wünschten sich hundert Pfund in Zwei-Schilling-Stücken mit dem Kopf der Königin Victoria drauf, um allen Irrtümern vorzubeugen. Das war der Wunsch, der ihnen als ein wirklich vernünftiger Wunsch vorgeschwebt hatte. Und da stellten sie fest, dass es wieder passiert war. Denn das Psammed war noch sehr ärgerlich und müde und sagte nur: »Stört mich nicht immer wieder! Ihr habt euren Wunsch doch schon.«

Der Sandelf – Von Edith NesbitDer SandelfIllustration: Sabine Wilharm

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Cyril. »Erinnerst du dich vielleicht an gestern?«, fragte der Sandelf noch unwirscher. »Du hast mich darum gebeten, dass ihr euch etwas wünschen könntet, wo immer ihr auch gerade seid, und du hast dir heute früh schon etwas gewünscht. Du hast es auch bekommen.« – »Ach, wirklich?«, fragte Robert. »Was war das denn?« – »Das habt ihr vergessen?«, fragte das Psammed, das schon wieder dabei war, sich einzuscharren. »Macht nichts, ihr werdet es schon früh genug merken. Ich wünsche euch viel Vergnügen dabei. Ihr habt euch wieder etwas Schönes eingebrockt.« – »Irgendwie tun wir das immer«, bekannte Jane betrübt.

Sonderbarerweise konnte sich wirklich keiner von ihnen daran erinnern, dass sie sich an diesem Morgen schon etwas gewünscht hatten. Auf den Satz mit den Indianern hatte niemand geachtet. Es war ein sehr unruhiger Vormittag. Jeder versuchte sich krampfhaft darauf zu besinnen, was er sich gewünscht haben könnte, und weil es keinem gelang, hatten alle das Gefühl, dass in der nächsten Sekunde etwas Entsetzliches passieren müsste. Das zerrte an ihren Nerven. Durch die Bemerkung des Psammed wussten sie ganz genau, dass sie sich etwas Ärgeres als sonst gewünscht haben mussten, und sie verbrachten Stunden in lähmender Ungewissheit. Erst kurz vorm Mittagessen stolperte Jane über Der letzte Mohikaner, der aufgeschlagen auf dem Fußboden lag, und als Anthea das Buch aufgehoben hatte, schrie sie: »Ich hab’s!«, und setzte sich niedergeschmettert auf den Teppich.

»Oh, Jane, wie schrecklich! Er hat sich Indianer gewünscht! Cyril, beim Frühstück, weißt du noch? Er hat gesagt: ›Ich wünschte, es gäbe in England Indianer‹, und jetzt sind sie da, und wahrscheinlich ziehen sie schon durchs Land und skalpieren Leute.« – »Vielleicht bleiben sie in Nordengland«, sagte Jane beschwichtigend. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Leuten, die so weit weg waren, wirklich wehtun würde, skalpiert zu werden.

»Nein«, widersprach Anthea. »Das Psammed hat gesagt, dass wir uns was Schönes eingebrockt hätten, und das bedeutet, dass sie hierher kommen. Stell dir vor, wenn sie nun den Kleinen skalpieren!« – »Vielleicht würde das Skalpieren bei Sonnenuntergang wieder rückgängig gemacht«, sagte Jane, aber ihre Stimme klang nicht mehr so hoffnungsvoll. »Bestimmt nicht!«, widersprach Anthea. »Die Dinge, die durch die Wünsche entstehen, vergehen nicht. Das siehst du an den fünfzehn Schilling. Jane, ich werde jetzt etwas kaputt machen, und du musst mir außerdem alles Geld geben, was du besitzt. Die Indianer kommen hierher, begreifst du das nicht? Das hat das grässliche Psammed doch ganz deutlich gesagt. Du weißt sicher schon, was ich vorhabe. Los jetzt!«

Jane begriff gar nichts. Aber sie folgte ihrer Schwester gehorsam in das Schlafzimmer der Mutter. Anthea nahm den schweren Wasserkrug vom Waschtisch. Das Keramikmuster mit Störchen und langen Gräsern, das ihn zierte, sollte Anthea nie vergessen. Sie trug den Krug ins Badezimmer und leerte ihn vorsichtig in die Badewanne aus. Dann trug sie ihn ins Schlafzimmer zurück und ließ ihn auf den Boden fallen. Ihr wisst: Wenn man aus Versehen etwas fallen lässt, dann gibt es tausend Scherben. Wenn man dagegen etwas mit Absicht hinwirft, dann verhält es sich anders. Anthea ließ den Krug dreimal fallen, aber er dachte nicht daran, kaputtzugehen. Schließlich musste sie den Stiefelknecht des Vaters nehmen und den Krug damit in Stücke schlagen. Als Nächstes brach sie ihre Spardose mit dem Feuerhaken auf. Jane verkündete natürlich, dass man das nicht dürfe, aber Anthea presste die Lippen zusammen und sagte: »Red keinen Unsinn, es geht um Leben und Tod.«

Viel war ohnehin nicht in der Sparbüchse, nur sieben Schilling und vier Pence, aber die Schwestern hatten insgesamt noch vier Schilling außerdem, sodass sie alles in allem elf Schilling besaßen. Anthea knotete das Geld in einen Zipfel ihres Taschentuches. »Komm mit, Jane«, sagte sie und lief zum Bauernhof hinunter. Sie wusste, dass der Bauer am Nachmittag nach Rochester fuhr. Sie hatten nämlich verabredet, dass er sie mitnehmen sollte. Aber das war noch in jener glücklichen Zeit gewesen, als sie glaubten, vom Psammed die hundert Pfund in Zwei-Schilling-Stücken bekommen zu können. Sie hatten dem Bauern für die Fahrt zwei Schilling für jedes Kind angeboten. Jetzt erklärte ihm Anthea, dass sie nicht fahren könnten. Ob er wohl stattdessen Martha und das Baby mitnehmen würde? Er stimmte zu, aber er war nicht sehr begeistert, dass er jetzt nur eine halbe Krone statt acht Schilling bekam.

Danach rannten die Mädchen wieder nach Hause. Anthea holte eine kleine Dose aus ihrer Eckschublade und machte sich auf die Suche nach Martha, die gerade den Tisch deckte und nicht die allerbeste Laune hatte. »Hör mal«, begann Anthea, »ich hab den Wasserkrug aus Mutters Schlafzimmer zerbrochen.« – »Typisch, immer Flausen im Kopf«, sagte Martha und stellte ein Salzfass mit energischem Schwung auf den Tisch. »Sei nicht böse, liebe Martha«, bat Anthea, »ich habe genug Geld, um einen neuen zu kaufen. Wenn du nur so lieb wärst und ihn für uns besorgtest! Deine Cousinen haben doch ein Porzellangeschäft, nicht wahr? Ich möchte so schrecklich gern, dass du heute noch gehst, falls Mutter morgen nach Hause kommt. Du weißt ja, sie hat doch gesagt, dass sie vielleicht schon morgen kommt.«

»Aber ihr fahrt doch selber in die Stadt«, unterbrach sie Martha. »Wenn wir den neuen Krug bezahlen müssen, können wir uns das nicht mehr leisten«, antwortete Anthea, »aber wenn du den Kleinen mitnimmst, können wir für dich mitbezahlen. Ach, liebste Martha, fahr doch, ich schenke dir auch diese Dose. Sieh mal, wie hübsch sie ist – echtes Silber, mit Elfenbein und Ebenholz eingelegt, wie König Salomons Tempel.« – »Ja«, sagte Martha, »nein, ich will deine Dose nicht haben, Anthea. Du möchtest doch nur das Lämmchen für heute Nachmittag los sein. Denk nur nicht, dass du mir etwas vormachen kannst.« Damit traf sie den Nagel so genau auf den Kopf, dass Anthea alles am liebsten blindlings und heftig abgestritten hätte. Martha hatte kein Recht, so viel zu wissen. Anthea hielt aber dann doch lieber den Mund. Martha knallte das Brot so wütend auf den Tisch, dass es vom Holzbrett flog. »Ich möchte die Kanne aber gern haben«, sagte Anthea mit ihrer sanftesten Stimme. »Du gehst doch, nicht wahr?«

»Na gut, heute macht es mir nichts aus. Aber ein für alle Mal: Macht keinen Unsinn, wenn ich weg bin. Das wär’s.« – »Der Bauer fährt aber früher, als er eigentlich wollte«, sagte Anthea eifrig, »lauf lieber, und zieh dich um. Ach bitte, zieh doch den schönen roten Rock an, Martha, und nimm den Hut mit den rosa Kornblumen und den gelben Spitzenkragen. Jane deckt schon den Tisch, und ich wasche unterdessen den Kleinen und mache ihn zurecht.«

Während Anthea das widerstrebende Lamm in seine besten Sachen steckte, warf sie von Zeit zu Zeit einen Blick aus dem Fenster. Bis jetzt war noch alles in Ordnung, keine Indianer zu sehen. Als der Kleine und Martha schließlich in der üblichen Aufregung und Hetze verabschiedet waren, stieß Anthea einen tiefen Seufzer aus. »Jetzt ist er in Sicherheit«, sagte sie, warf sich zu Janes Entsetzen auf den Boden und brach in wahre Tränenströme aus.

Jane konnte überhaupt nicht verstehen, wie sich eine Person erst so tapfer aufführen und dann plötzlich zusammenbrechen konnte. Es ist natürlich besser, wenn man nicht zusammenbricht, aber immerhin war Anthea so lange stark geblieben, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte ihren geliebten Kleinen aus der Gefahrenzone gebracht; denn sie war fest davon überzeugt, dass die Rothäute in der Nähe des weißen Hauses auftauchen würden. Das Fuhrwerk des Bauern würde bestimmt nicht vor Sonnenuntergang zurück sein. So konnte sie es sich leisten, ein wenig zu weinen. Sie weinte teils aus Erleichterung, dass sie jetzt weinen durfte, und teils aus Stolz, weil sie das durchgesetzt hatte, was sie sich vorgenommen hatte. Sie weinte etwa drei Minuten lang, und Jane hielt sie betrübt umschlungen und sagte in Abständen von fünf Sekunden: »Wein doch nicht, wein doch nicht!«

Schließlich rieb sich Anthea die Augen so energisch mit dem Schürzenzipfel, dass sie den ganzen Tag lang rot blieben, und machte sich auf, um den Brüdern alles zu erzählen. Aber gerade in diesem Augenblick läutete die Köchin zum Essen. Daher musste sie mit ihrem Bericht noch warten, bis sich alle vom Rinderhaschee genommen hatten. Dann ging die Köchin hinaus, und Anthea berichtete. Es ist jedoch ein Fehler, wenn man eine aufregende Geschichte bei einem guten Essen zum Besten gibt. Es schien irgendetwas an dem Rinderhaschee und den Pellkartoffeln zu sein, was die Vorstellung von Rothäuten unglaubwürdig machte. Die Jungen brachen tatsächlich in Gelächter aus und nannten Anthea einen kleinen Angsthasen.

»Und außerdem«, sagte Cyril, »weiß ich genau, dass, bevor ich von den Indianern sprach, sich Jane für heute schönes Wetter gewünscht hat.« – »Nein, das stimmt nicht«, sagte Jane kurz. »Na, und wenn’s wirklich Indianer sein sollten«, fuhr Cyril fort, »Salz, bitte schön, und Senf auch, ich krieg dies durchgedrehte Fleisch sonst nicht runter – also wenn es wirklich Indianer wären, dann hätten sie die Gegend hier schon längst unsicher gemacht, das weißt du ganz genau.« – »Und warum hat das Psammy dann gesagt, dass wir uns was Schönes eingebrockt hätten?«, erkundigte sich Anthea. Sie war sehr aufgebracht. Sie wusste genau, dass sie mit Geschick und Edelmut gehandelt hatte, und danach trifft es einen hart, wenn man als Angsthase bezeichnet wird. In dem Schweigen, das sich jetzt zwischen den Geschwistern ausbreitete, räumte die Köchin die Essteller fort und brachte den Siruppudding herein. Sobald sie sich wieder zurückgezogen hatte, begann Cyril noch einmal.

»Ich will damit natürlich nicht gesagt haben, dass es nicht ein guter Einfall war, uns Martha und das Lamm für den Nachmittag aus dem Weg zu schaffen. Aber was die Rothäute angeht – du weißt doch allmählich ganz genau, dass die Wünsche fast in der selben Minute erfüllt werden. Wenn wir uns also wirklich Rothäute gewünscht hätten, so wären sie schon lange hier.«

Aber das sind sie ja vermutlich auch«, erwiderte Anthea. »Sie verbergen sich im Unterholz, das weiß doch jedes Kind. Ich finde dich wirklich ganz gemein.« – »Indianer liegen immer auf der Lauer, das stimmt doch, nicht?«, warf Jane ein, die für Frieden sorgen wollte. »Nein, das tun sie nicht«, antwortete Cyril scharf, »und ich bin nicht gemein, sondern ich sage die Wahrheit. Und ich sage dir, es war vollkommen verrückt, den Krug zu zerbrechen und die Spardose zu plündern. Ich glaube, das ist schwerer Diebstahl, und man bekommt…«

»Kannst du nicht damit aufhören?«, fragte Robert. Aber das konnte Cyril nicht. Er hatte das Gefühl, dass er verantwortlich wäre, wenn tatsächlich Indianer auftauchen sollten, deshalb wollte er nicht an sie glauben. Und gerade dieser Versuch, gegen besseres Wissen etwas abzuleugnen, macht einen besonders gereizt und ungerecht.

»Es ist völlig idiotisch«, fuhr er fort, »sich über Indianer zu unterhalten, wenn es einfach auf der Hand liegt, dass Janes Wunsch erfüllt worden ist. Schaut doch nur das schöne Wet… – oh, oha!« Er hatte sich zum Fenster umgewandt und seine Geschwister auch. Cyril erstarrte – das Wort blieb ihm im Halse stecken, und den anderen war ebenfalls nicht danach zumute, das Schweigen zu brechen. Denn dort, zwischen den roten Blättern des wilden Weins, gerade in der Fensterecke, dort kam ein Gesicht zum Vorschein, ein braunes Gesicht mit einer scharfen Nase und einem schmalen Mund und großen, klaren Augen. Es war bunt bemalt, von langen schwarzen Haaren umrahmt, und in diesem Haar steckten Federn. Den Kindern im Esszimmer blieb vor Entsetzen der Mund offen. Der Siruppudding auf ihren Tellern wurde kalt und fest. Sie waren wie gelähmt. Da zog sich das federgeschmückte Haupt plötzlich zurück, und der Zauber war gebrochen. »Da!«, stöhnte Anthea. »Ich hab’s euch doch gesagt!«

Der Siruppudding war nun wirklich ungenießbar geworden.

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken vorab Auszüge (in der Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt).

Hast du die letzte Folge verpasst? Du findest sie unter hier