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Vom Krebs, der mit dem Meer spielte

 

Als der älteste Zauberer die Welt schuf, lehrte er jedes Tier ein Spiel. Nur der Krebs dachte nicht daran, sich an die Regeln zu halten

Von Rudyard Kipling
VorlesegeschichteIllustration: Erhard Dietl

Vor den herrlichen und längst vergangenen Zeiten, mein allerliebster Liebling, lag die Zeit der ersten Anfänge; und das war in den Tagen, in denen der älteste Zauberer alles fertig machte. Zuerst machte er die Erde fertig; dann machte er das Meer fertig; und dann sagte er allen Tieren, sie könnten herauskommen und spielen. Und die Tiere sagten: »Ältester Zauberer, was sollen wir spielen?« Und er sagte: »Ich zeige es euch.« Er nahm sich den Elefanten vor und sagte: »Spielt, ein Elefant zu sein«, und alles, was es an Elefanten gab, spielte. Er nahm sich den Biber vor und sagte: »Spielt, ein Biber zu sein«, und alles, was es an Bibern gab, spielte. Er nahm sich die Kuh vor und sagte: »Spielt, eine Kuh zu sein«, und alles, was es an Kühen gab, spielte. Er nahm sich die Schildkröte vor und sagte: »Spielt, eine Schildkröte zu sein«, und alles, was es an Schildkröten gab, spielte. Nacheinander nahm er sich alle Tiere vor und sagte ihnen, was sie spielen sollten.

Aber gegen Abend, wenn alle Welt und alles darin unruhig und müde wird, kam der Mensch (mit seiner eigenen kleinen Tochter) und sagte: »Was ist das für ein Spiel, ältester Zauberer?« Und der älteste Zauberer sagte: »Ha, Sohn von Adam, das ist das Spiel des ersten Anfangs; aber du bist zu weise dafür.« Der Mensch machte eine ehrerbietige Geste und sagte: »Ja, ich bin zu weise für dieses Spiel; aber sieh zu, dass du mir alle Tiere gehorsam machst.« Während die beiden miteinander redeten, lief Pau Amma, der Krebs, der als Nächster drangewesen wäre, seitwärts davon und ins Meer und sagte sich: Ich will allein im tiefen Wasser spielen, und ich will diesem Sohn Adams nie gehorchen. Niemand sah ihn weglaufen außer der kleinen Tochter des Menschen. Das Spiel ging weiter, bis alle Tiere ihre Anweisungen bekommen hatten. Da wischte sich der älteste Zauberer den Staub von den Händen und ging durch die Welt, weil er sehen wollte, wie die Tiere spielten. Er ging nach Norden und traf alles, was es an Elefanten gab. Der Elefant grub die Stoßzähne in saubere Erde und trampelte mit den Füßen.

Vom Krebs, der mit dem Meer spielte – Von Rudyard KiplingKinderzeit AudioIllustration: Erhard Dietl

»Kun?«, sagte alles, was es an Elefanten gab, und das sollte heißen: »Ist es so recht?« – »Payah kun«, sagte der älteste Zauberer, und das hieß: »Ja, so ist es recht.« Und er hauchte auf die großen Felsen und Erdklumpen, die der Elefant hochgeworfen hatte, und sie wurden zu den Bergen des Himalaya. Er ging nach Osten und traf alles, was es an Kühen gab. Die Kuh graste auf der Wiese, die für sie gemacht worden war, und sie schlang die Zunge um einen ganzen Wald auf einmal und schluckte ihn. »Kun?«, sagte alles, was es an Kühen gab. »Payah kun«, sagte der älteste Zauberer. Und er hauchte auf den kahlen Fleck, wo sie gegrast hatte, und auf die Stelle, wo sie sich gesetzt hatte, und daraus wurde zum einen die große Indische Wüste und zum anderen die Wüste Sahara.

Er ging nach Westen und traf alles, was es an Bibern gab. Der Biber baute einen Biberdamm über die Mündungen breiter Flüsse, die für ihn gemacht worden waren. »Kun?«, sagte alles, was es an Bibern gab. »Payah kun«, sagte der älteste Zauberer. Und er hauchte auf die umgestürzten Bäume und die Seen, und sie wurden zum Sumpfgebiet der Everglades in Florida. Und dann traf der älteste Zauberer den Menschen und sagte: »Ha! Sohn von Adam, sind dir alle Tiere gehorsam?« – »Ja«, sagte der Mensch. – »Gehorcht dir die Erde?« – »Ja«, sagte der Mensch. – »Gehorcht dir das Meer?« – »Nein«, sagte der Mensch. »Einmal am Tag und einmal in der Nacht strömt das Meer den Fluss hinauf und schwemmt das Süßwasser in den Wald hinein, sodass mein Haus nass wird; einmal am Tag und einmal in der Nacht strömt es den Fluss hinunter und zieht alles Wasser mit sich, sodass nichts übrig bleibt als Schlamm. Hast du ihm dieses Spiel befohlen?«

Nein«, sagte der älteste Zauberer. »Das ist ein neues und ein schlechtes Spiel.« – »Schau!«, sagte der Mensch, und gerade da strömte das Meer in die Mündung des Flusses und drängte ihn zurück, bis er meilenweit die dunklen Wälder und das Haus des Menschen überschwemmte. »Da stimmt etwas nicht. Mach dein Boot bereit, wir wollen mal sehen, wer mit dem Meer spielt«, sagte der älteste Zauberer. Sie stiegen ins Kanu, die kleine Tochter kam mit, der Mensch hatte seinen Kris dabei – einen gebogenen Dolch, dessen Klinge sich wellte wie eine Flamme –, und sie fuhren hinaus auf den Fluss. Dann strömte das Meer zurück, und das Kanu wurde zur Flussmündung hinausgezogen, an Selangor, Malakka und Singapur vorbei bis zur Insel Bintang, als hinge es an einer Schnur. Da stand der älteste Zauberer auf und rief: »Tiere, Vögel und Fische, wer von euch spielt mit dem Meer?«

Da sagten alle Tiere, Vögel und Fische zusammen: »Ältester Zauberer, wir spielen, was du uns beigebracht hast. Aber keiner von uns spielt mit dem Meer.« Da hob die kleine Tochter ihre Arme mit den hübschen Muschelarmbändern und sagte: »O ältester Zauberer! Am allerersten Anfang hat mein Vater mit dir geredet, und die Tiere haben ihre Spiele gelernt, und da ist ein Tier ganz unartig ins Meer gelaufen, bevor du ihm sein Spiel beigebracht hast.« – Der älteste Zauberer sagte: »Wie weise doch kleine Kinder sind, die sehen und schweigen! Was war das für ein Tier?« Die kleine Tochter sagte: »Es war rund und war flach; und seine Augen standen auf Stielen; es ist seitwärts gegangen – so; und es trug einen starken Panzer auf dem Rücken.« Der älteste Zauberer sagte: »Jetzt weiß ich, wohin Pau Amma gegangen ist. Gib mir das Paddel!« Er nahm das Paddel; aber er brauchte es nicht, denn das Wasser strömte stetig an allen Inseln vorbei, bis sie an die Stelle kamen, die Pusat Tasek genannt wird – das Herz des Meeres.

Dort ist die große Höhle, die hinunter zum Herz der Welt führt, und in dieser Höhle wächst der Wunderbaum Pauh Janggi, der die magischen Zwillingsnüsse trägt. Der Zauberer steckte den Arm bis zur Schulter ins tiefe Wasser, und unter den Wurzeln des Wunderbaums berührte er den Rücken von Pau Amma, dem Krebs. Pau Amma sank tiefer unter der Berührung, und das Meer stieg wie Wasser in einem Becken, wenn du die Hand hineinsteckst. »Ah!«, sagte der älteste Zauberer. »Jetzt weiß ich, wer mit dem Meer gespielt hat.« Und er rief: »Was machst du, Pau Amma?« Tief unten antwortete Pau Amma: »Einmal am Tag und einmal in der Nacht gehe ich aus und suche Nahrung. Einmal am Tag und einmal in der Nacht kehre ich zurück. Lass mich in Ruhe.«

Da sagte der älteste Zauberer: »Hör zu, Pau Amma. Wenn du aus deiner Höhle gehst, strömen die Fluten des Meeres hinunter zu Pusat Tasek, und alle Buchten aller Inseln liegen trocken, und die kleinen Fische sterben. Wenn du zurückkommst und in Pusat Tasek sitzt, steigen die Fluten des Meeres, die Hälfte der kleinen Inseln und das Haus des Menschen werden überschwemmt.« Da lachte Pau Amma in der Tiefe und sagte: »Ich wusste gar nicht, dass ich so wichtig bin. Von nun an gehe ich siebenmal am Tag aus, dann kommt das Wasser nie zur Ruhe.« Der älteste Zauberer sagte: »Ich kann dich nicht zu dem Spiel zwingen, zu dem du bestimmt bist, Pau Amma, weil du mir am allerersten Anfang entwischt bist; aber wenn du dich nicht fürchtest, dann komm herauf, und wir reden darüber.«

Ich fürchte mich nicht«, sagte Pau Amma und stieg im Mondlicht an die Meeresoberfläche. Niemand auf der Welt war so groß wie Pau Amma – denn er war der Königskrebs aller Krebse. Als er durch die Zweige des Wunderbaums stieg, riss er eine der großen Zwillingsfrüchte ab – die magischen doppelkernigen Nüsse, die den Menschen Jugend schenken. Die kleine Tochter sah sie neben dem Kanu auf dem Wasser tanzen, fischte sie heraus und löste mit ihrer kleinen goldenen Schere die weichen Kerne heraus. »Jetzt«, sagte der Zauberer, »zeige, dass du wirklich wichtig bist, Pau Amma, und zaubere.« Pau Amma rollte die Augen und zappelte mit den Beinen, doch er konnte nur das Meer aufwühlen, weil er zwar ein Königskrebs, aber nichts anderes als ein Krebs war, und der älteste Zauberer lachte. »Letzten Endes bist du doch nicht so wichtig, Pau Amma«, sagte er. »Lass es mich mal versuchen«, und er zauberte mit der linken Hand und siehe da, Pau Ammas harter, blaugrünschwarzer Panzer fiel ab, wie die Schale von einer Kokosnuss fällt, und Pau Amma war ganz weich – weich wie die kleinen Krebse, die du manchmal am Strand siehst, allerliebster Liebling

Da kannst du sehen, wie wichtig du bist«, sagte der älteste Zauberer. Pau Amma erwiderte: »Ich schäme mich. Gib mir meinen harten Panzer wieder, und lass mich zurück zu Pusat Tasek, dann komme ich nur noch einmal am Tag und einmal in der Nacht heraus und suche mir etwas zu fressen.« Der älteste Zauberer sagte: »Nein, Pau Amma, ich gebe dir deinen Panzer nicht wieder, denn dann wirst du größer und stolzer werden und dein Versprechen vergessen und wieder mit dem Meer spielen.« Da sagte Pau Amma: »Was soll ich machen? Ich bin so groß, dass ich mich nur in Pusat Tasek verstecken kann. Wenn ich mich anderswo sehen lasse, weich, wie ich jetzt bin, fressen mich die großen und die kleinen Haie. Und wenn ich zu Pusat Tasek gehe, weich, wie ich jetzt bin, dann geschieht mir zwar nichts, aber auf Nahrungssuche kann ich nicht gehen, also muss ich sterben.«

Dann strampelte er mit den Beinen und klagte und jammerte. »Hör zu, Pau Amma«, sagte der älteste Zauberer. »Ich kann dich nicht zu dem Spiel zwingen, zu dem du bestimmt bist, weil du mir am allerersten Anfang entwischt bist; doch wenn du willst, kann ich jeden Stein und jedes Loch und jedes Algenbüschel in allen Meeren zu einem so sicheren Versteck für dich und deine Kinder und Kindeskinder machen, wie Pusat Tasek es ist.«

Da sagte Pau Amma: »Das ist gut, aber ich will noch nicht. Schau, da ist dieser Mensch, der am allerersten Anfang mit dir geredet hat. Hätte er nicht deine Aufmerksamkeit beansprucht, hätte ich mich nicht gelangweilt und wäre nicht davongelaufen, und das alles wäre nie geschehen. Was will er für mich tun?« Der Mensch sagte: »Wenn du willst, mache ich einen Zauber, damit du und deine Kinder sich im tiefen Wasser so wohl fühlen wie auf der trockenen Erde – dann könnt ihr euch auf dem Land und im Meer verstecken.«

Und Pau Amma sagte: »Ich will noch nicht. Schau, da ist dieses Mädchen, das mich am allerersten Anfang weglaufen sah. Wenn sie damals etwas gesagt hätte, dann hätte mich der älteste Zauberer zurückgerufen, und das alles wäre nie geschehen. Was will sie für mich tun?« Die kleine Tochter sagte: »Das ist eine gute Nuss, die ich da esse. Wenn du willst, mache ich einen Zauber und gebe dir diese Schere, sehr scharf und hart, damit du und deine Kinder den ganzen Tag Kokosnüsse essen könnt, wenn ihr aus dem Meer an Land kommt. Oder du kannst dir mit der Schere ein eigenes Pusat Tasek graben, wenn kein Stein oder kein Loch in der Nähe ist.« Und Pau Amma sagte: »Ich will noch nicht, denn diese Gaben würden mir nicht helfen, so weich, wie ich bin. Gib mir meinen Panzer zurück, O ältester Zauberer, dann spiele ich dein Spiel.« Der älteste Zauberer sagte: »Für elf Monate im Jahr will ich ihn dir zurückgeben, Pau Amma; doch im zwölften Monat sollst du wieder weich sein, damit du bescheiden bleibst, Pau Amma. Denn ich weiß, wenn du sowohl unter Wasser als auf dem Land laufen kannst, dann wirst du zu frech; und wenn du mit deiner Schere Nüsse knacken und Löcher graben kannst, dann wirst du zu gierig, Pau Amma.«

Da überlegte Pau Amma ein wenig und sagte: »Jetzt will ich. Ich nehme alle Gaben.« Da zauberte der älteste Zauberer mit der rechten Hand, und siehe da, allerliebster Liebling, Pau Amma wurde kleiner und kleiner, bis er nur ein kleiner grüner Krebs war, der neben dem Kanu im Wasser schwamm und mit dünnem Stimmchen rief: »Gib mir die Schere!« Die kleine Tochter nahm ihn in ihre kleine braune Hand und setzte ihn auf den Boden des Kanus und gab ihm die Schere, und er schwenkte sie in seinen kleinen Armen, öffnete sie und schloss sie und schnappte damit und sagte: »Ich kann Nüsse essen. Ich kann Panzer knacken. Ich kann Löcher graben. Ich kann in der trockenen Luft atmen, und ich kann unter jedem Stein ein sicheres Pusat Tasek finden. Ich wusste gar nicht, dass ich so wichtig bin. Kun?« (Ist es so richtig?)

Payah kun«, sagte der älteste Zauberer und lachte und gab ihm seinen Segen. Und der kleine Pau Amma krabbelte über den Rand des Kanus ins Wasser; und er war so winzig, dass er sich unter dem Schatten eines trockenen Blattes auf dem Land oder einer toten Muschel auf dem Meeresgrund hätte verstecken können. »Gut gemacht?«, fragte der älteste Zauberer.

»Ja«, sagte der Mensch. »Aber jetzt müssen wir zurück, und es ist mühsam, so weit zu paddeln. Wenn wir gewartet hätten, bis Pau Amma aus Pusat Tasek gegangen und wieder zurückgekommen wäre, dann hätte uns das Wasser hingetragen.« – »Du bist faul«, sagte der älteste Zauberer, »und deine Kinder sollen faul sein.« – »Wenn ich mein Lebtag faul sein soll«, sagte der Mensch, »dann lass das Meer zweimal am Tag bis in alle Ewigkeit für mich arbeiten. Dann brauche ich nicht zu paddeln.« Und der älteste Zauberer lachte und sagte: »Payah kun.« (Ja, so ist es recht.)

Seit jenem Tag gibt es Ebbe und Flut. Und Pau Amma? Wenn du an den Strand gehst, kannst du sehen, wie Pau Ammas Kinder sich unter jedem Stein und Grasbüschel auf dem Sand kleine Pusat Taseks machen; du kannst sehen, wie sie ihre kleinen Scheren schwenken; und in manchen Teilen der Welt leben sie tatsächlich auf dem trockenen Land und klettern Palmen hinauf und fressen Kokosnüsse, genau wie die kleine Tochter es versprochen hat. Aber einmal im Jahr müssen alle Pau Ammas ihren harten Panzer abschütteln und weich werden – damit sie daran denken, was der älteste Zauberer tun könnte. Deshalb ist es nicht fair, Pau Ammas Kinder zu töten oder zu jagen, nur weil der alte Pau Amma vor sehr langer Zeit einmal dumm und unhöflich gewesen ist.

Die »Geschichten für den allerliebsten Liebling« erscheinen im Herbst in der neuen ZEIT-Edition »Phantastische Geschichten für junge Leser«