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Der letzte Drache der Welt

 

Kennt ihr die Mumintrolle? Sie wohnen in einem behaglichen Haus in den finnischen Wäldern und erleben die sonderbarsten Abenteuer

Von Tove Jansson

Mumins
© Tove Jansson

An einem Donnerstag gegen Ende der Hundstage fing Mumin einen kleinen Drachen in der großen Mulde mit dem braunen Wasser, rechts vom Hängemattenbaum des Muminvaters. Natürlich hatte er nicht vorgehabt, einen Drachen zu fangen. Er hatte bloß versucht, ein paar von diesen Kleinkrebslern zu erwischen, die im Bodenschlamm umherwuselten, weil er untersuchen wollte, wie sie ihre Beine beim Schwimmen bewegten und ob sie tatsächlich rückwärts schwammen. Aber als er sein Marmeladenglas schnell aus dem Wasser zog, befand sich etwas ganz anderes darin. »Bei meinem ewigen Schwanz«, flüsterte Mumin andächtig. Er hielt das Glas mit beiden Pfoten und starrte es an. Der Drache war nicht größer als eine Streichholzschachtel und schwamm mit anmutigen Flügelbewegungen im Wasser hin und her. Seine durchsichtigen Flügel waren ähnlich schön geformt wie die Flossen eines Goldfisches. Aber so üppig vergoldet wie dieser Miniaturdrache war kein Goldfisch der Welt. Er funkelte vor Gold, seine Schuppen glänzten golden in der Sonne, sein Köpfchen war leuchtend grün, und seine Augen glitzerten gelb wie Zitronen. Die sechs vergoldeten Beine endeten in je einer kleinen grünen Pfote, und auch die Schwanzspitze schimmerte goldgrün. Er war wundervoll. Mumin schraubte den Deckel zu (in dem Luftlöcher waren) und stellte das Glas vorsichtig ins Moos. Dann legte er sich auf den Bauch und betrachtete den Drachen aus der Nähe. Der Drache schwamm nah an die Glaswand und öffnete seinen kleinen Rachen, der voller winzig kleiner weißer Zähnchen war. Er ärgert sich, dachte Mumin. Er ärgert sich, obwohl er so winzig ist. Was soll ich bloß tun, damit er mich gern hat… Und was frisst er wohl? Was frisst so ein Drache… Bekümmert und aufgeregt hob er das Glas wieder auf und machte sich auf den Heimweg. Er ging sehr vorsichtig, damit der Drache nicht an die Glaswände stieß. Der Drache war ja so unglaublich klein und zerbrechlich. »Ich werde für dich sorgen und dich lieb haben«, flüsterte Mumin. »Nachts darfst du auf meinem Kopfkissen schlafen. Und wenn du größer geworden bist und gelernt hast, mich gern zu haben, darfst du mit mir im Meer schwimmen…«
Der Muminvater hackte in seinem Tabaksbeet. Natürlich könnte man den Drachen zeigen. Aber vielleicht doch lieber nicht. Noch nicht. Besser, man behielt ihn ein paar Tage für sich, bis er sich an einen gewöhnt hatte. So könnte er ein Geheimnis bleiben, während man auf das Schönste von allem wartete – ihn dem Mumrik zu zeigen. Mumin drückte das Marmeladenglas fest an sich und ging möglichst gleichgültig auf die Hintertreppe zu. Die andern hielten sich irgendwo vor der Veranda auf. Im selben Moment, als Mumin ins Haus schlüpfte, tauchte die kleine My hinterm Wasserfass auf und schrie neugierig: »Was hast du da?« – »Nichts«, sagte Mumin. »Ein Marmeladenglas«, sagte My und reckte den Hals. »Was ist da drin? Warum versteckst du es?« Mumin stürzte die Treppe nach oben und in sein Zimmer. Er stellte das Glas auf dem Tisch ab, das Wasser schwappte heftig, und der Drache hatte die Flügel um den Kopf gelegt und war zu einem Ball zusammengeschnurrt. Jetzt faltete er sich langsam auseinander und zeigte die Zähne.

Der letzte Drache der Welt – Von Tove JanssonKinderzeit AudioIllustration: Erhard Dietl


»Das soll nie mehr vorkommen«, versprach Mumin. »Bitte entschuldige vielmals.« Er schraubte den Deckel ab, damit der Drache sich ein wenig umschauen konnte, und ging dann zur Tür und schob den Riegel vor. Bei My konnte man nie wissen. Als er zurückkam, war der Drache aus dem Wasser gekrochen und saß auf dem Rand des Glases. Mumin streckte vorsichtig eine Pfote aus, um ihn zu streicheln. Da sperrte der Drache seinen Rachen auf und stieß eine kleine Rauchwolke aus. Eine rote Zunge fuhr wie eine Flamme heraus und genauso schnell wieder zurück. »Au«, sagte Mumin, er hatte sich nämlich verbrannt. Er bewunderte den Drachen mehr denn je. »Du bist wohl ein ganz Böser, was?«, fragte er leise. »Du bist wohl ganz schrecklich grausam und grässlich, was? Oh, du mein süßes, liebes kleines Drachilein!« Der Drache schnaubte.

Mumin kroch unters Bett und holte seine Nachtkiste hervor, in der ein paar hart gewordene Pfannkuchen, ein halbes Butterbrot und ein Apfel lagen. Er schnitt alles in kleine Stücke, die er rings um den Drachen auf den Tisch legte. Der Drache schnupperte kurz, warf Mumin einen verächtlichen Blick zu und flitzte dann unglaublich flink zum Fensterbrett, wo er eine große, dicke Augustfliege angriff. Die Fliege hörte auf zu summen und fing an zu knirschen. Der Drache hatte sie mit seinen grünen kleinen Tatzen am Genick gepackt und ihr Rauch in die Augen gepustet. Dann machten die weißen kleinen Zähnchen kurz knips, knaps, der Rachen wurde aufgesperrt und nichts wie rein mit der dicken Fliege. Der Drache schluckte und schluckte, leckte sich die Schnauze, kratzte sich hinterm Ohr und guckte Mumin mit einem Auge spöttisch an. »Was du alles kannst!«, rief Mumin aus. »Oh, mein kleiner Bubu-Iubu-dubu.« In diesem Moment schlug die Muminmutter unten auf den Gong, es gab Frühstück. »Jetzt musst du schön brav auf mich warten«, sagte Mumin. »Ich bin so schnell wie möglich wieder da.« Er blieb einen Augenblick stehen und starrte den Drachen sehnsüchtig an, der so gar nicht zärtlich war, dann flüsterte er: »Mein kleiner Freund«, und lief schnell die Treppe nach unten und auf die Veranda hinaus. My hatte ihren Löffel kaum in die Grütze gesteckt, als sie schon anfing: »Es gibt gewisse Leute, die verstecken gewisse Geheimnisse in Einmachgläsern.« – »Halt die Klappe«, sagte Mumin. »Man könnte fast glauben«, fuhr My fort, »dass gewisse Leute Blutegel und Kellerasseln sammeln oder warum nicht besonders große Tausendfüßler, die sich hundertmal in der Minute vermehren.« – »Mutter«, sagte Mumin. »Du weißt, wenn ich irgendwann ein kleines Tier hätte und wenn das mich dann lieb hätte, dann wäre das…« – »Ha, wenn das Wörtchen wenn nicht wär«, sagte My und blubberte in ihr Milchglas. »Was?«, sagte der Muminvater und schaute von der Zeitung auf. »Mumin hat ein neues Tier gefunden«, erklärte die Muminmutter. »Beißt es?« – »Es ist so klein, dass man es gar nicht spürt, wenn es beißt«, murmelte ihr Sohn. »Und wie schnell wird es größer?«, fragte My. »Wann darf man es sehen? Kann es sprechen?«

Mumin antwortete nicht. Jetzt war alles wieder zerstört. Eigentlich müsste es so sein: Zuerst hat man ein Geheimnis, und dann überrascht man die andern damit. Aber wenn man in einer Familie lebt, ist weder das eine noch das andere möglich. Die wissen immer alles von Anfang an, und dann macht überhaupt nichts mehr Spaß. »Ich werde nach dem Essen zum Fluss runtergehen«, sagte Mumin langsam und verächtlich. Verächtlich wie ein Drache. »Mutter, sag ihnen, dass sie mein Zimmer nicht betreten dürfen. Ich übernehme keine Verantwortung für die Folgen.« – »Gut«, sagte die Muminmutter und sah die kleine My an. »Dass mir keiner einen einzigen Fuß in Mumins Zimmer setzt!« Mumin aß würdevoll seine Grütze auf. Dann begab er sich durch den Garten zur Brücke hinunter. Der Mumrik saß vor seinem Zelt und bemalte einen Schwimmer aus Kork. Mumin sah ihn an und freute sich sofort wieder über seinen Drachen. »Ächz«, sagte er. »So eine Familie ist manchmal ganz schön lästig.« Der Mumrik grunzte zustimmend, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Eine Weile saßen sie schweigend in männlichem, freundschaftlichem Einvernehmen nebeneinander. »Apropos gar nichts«, sagte Mumin plötzlich. »Bist du auf deinen Reisen irgendwann mal auf einen richtigen Drachen gestoßen? «

Die »Geschichten aus dem Mumintal« erscheinen im Herbst in der neuen ZEIT Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«