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Von Trollen und Drachen

 

Der Mumintroll hat einen kleinen, wundervollen Drachen gefunden. Aber das undankbare Tierchen liebt nicht ihn, sondern den Mumrik

Von Tove Jansson

Der Mumrik saß vor seinem Zelt und bemalte einen Schwimmer aus Kork. Mumin sah ihn an und freute sich sofort wieder über seinen Drachen. »Ächz«, sagte er. »So eine Familie ist manchmal ganz schön lästig.« Der Mumrik grunzte zustimmend, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Eine Weile saßen sie schweigend in freundschaftlichem Einvernehmen nebeneinander. »Apropos gar nichts«, sagte Mumin plötzlich, »bist du auf deinen Reisen mal auf einen Drachen gestoßen?« – »Du meinst also weder Salamander noch Eidechsen oder Krokodile«, sagte der Mumrik nach langem Schweigen. »Du meinst natürlich einen Drachen. Nein. Die gibt’s nicht mehr.« – »Vielleicht«, sagte Mumin langsam, »vielleicht ist noch einer übrig, einer, den jemand in einem Marmeladenglas gefangen hat.« Der Mumrik hob den Kopf, musterte Mumin scharf und sah, dass der vor Begeisterung und Spannung fast platzte. Daher bemerkte er nur ablehnend: »Das glaub ich nicht.«

»Möglicherweise ist er nicht größer als eine Streichholzschachtel und sprüht Feuer«, fuhr Mumin fort und gähnte. »Unmöglich«, sagte der Mumrik, der wusste, wie man eine Überraschung vorbereitet. Sein Freund sah in die Luft hinauf und sagte: »Ein Drache aus echtem Gold mit klitzekleinen grünen Tatzen, einer, der unglaublich anhänglich werden kann und überall hinter einem herläuft.« Und dann sprang Mumin auf und schrie: »Ich bin’s, ich hab ihn gefunden! Ich hab einen kleinen Drachen gefunden, der nur mir gehört!« Während sie zum Haus hinaufwanderten, spielte der Mumrik die ganze Skala von Misstrauen, Staunen und Bewunderung durch. Er war perfekt.

Sie stiegen die Treppe nach oben und traten in die Dachkammer. Das wassergefüllte Glas stand noch auf dem Tisch, aber der Drache war verschwunden. Mumin schaute unterm Bett nach, er kroch durchs ganze Zimmer und lockte: »Mein kleiner Freund… Mein kleiner Hotti-Hotti-Hotti, mein tüchtiger kleiner Butzel…« – »Du«, sagte der Mumrik, »er sitzt auf dem Vorhang.« Der Drache saß tatsächlich oben auf der Gardinenstange. »Wie ist er denn dort raufgekommen?«, rief Mumin ängstlich aus. »Wenn er jetzt runterfällt… Verhalte dich ganz ruhig. Sag nichts…« Er zerrte das Bettzeug aus dem Bett und breitete es unterm Fenster aus. Dann nahm er das Schmetterlingsnetz des Hemuls und hielt es dem Drachen vor die Nase. »Hüpf rein!«, flüsterte er. »Schön langsam…« – »Du machst ihm Angst«, sagte der Mumrik. Der Drache fauchte. Er hieb die Zähne ins Schmetterlingsnetz und brummte wie ein Motor. Und plötzlich flatterte er ins Zimmer hinaus und fing an, oben unter der Decke im Kreis herumzufliegen.

Von Trollen und Drachen – Von Tove JanssonKinderzeit AudioIllustration: Erhard Dietl


»Er fliegt, er fliegt!«, schrie Mumin. »Mein Drache fliegt!« – »Na klar«, sagte der Mumrik. »Hör mit dem Gehopse auf. Bleib ganz ruhig.« Auf einmal hielt der Drache mitten unter der Zimmerdecke an. Dann tauchte er im Sturzflug nach unten, biss Mumin ins Ohr, flog weiter und ließ sich auf der Schulter des Mumriks nieder. »So ein kleiner Gauner«, sagte der Mumrik verblüfft. »Er ist ganz heiß. Was macht er?« – »Er hat dich gern«, sagte Mumin.
Am Nachmittag kam das Snorkfräulein von ihrem Besuch bei der Oma der kleinen My zurück und erfuhr als Allererstes, dass Mumin einen Drachen gefunden hatte. Der Drache saß neben Mumins Tasse auf dem Kaffeetisch. Bis auf den Mumrik hatte er schon alle gebissen, und jedes Mal, wenn er sich ärgerte, sengte er irgendwo ein Loch hinein. »Ach, ist der niedlich!«, rief das Snorkfräulein aus. »Wie heißt er denn?« – »Wie soll er schon heißen«, murmelte Mumin. »Ist ja bloß ein Drache.« Vorsichtig ließ er seine Pfote über die Tischdecke kriechen, bis sie eines der vergoldeten Beinchen berührte. Schwups fuhr der Drache herum und versprühte eine kleine Rauchwolke. »Nein, wie süß!«, schrie das Snorkfräulein. Der Drache rückte näher an den Mumrik heran. An der Stelle, wo er gesessen hatte, war ein rundes braunes Loch in der Tischdecke.

»Ob der wohl auch in Wachstuchdecken Löcher brennt?«, fragte die Muminmutter. »Wie nichts!«, erklärte die kleine My. »Wenn er größer ist, brennt er das ganze Haus ab. Passt nur auf!« Sie grapschte nach einem Stück Kuchen, worauf der Drache wie eine goldene Furie auf sie losflog und ihr in die Pfote biss. »Du Satansbraten!«, schrie My und gab dem Drachen einen Klatsch mit der Serviette. »Wenn du so was sagst, kommst du nicht in den Himmel«, fing die Mymla sofort an, doch Mumin unterbrach sie und rief: »Der Drache konnte nichts dafür! Er hat geglaubt, du willst die Fliege aufessen, die auf dem Kuchen saß.« – »Du mit deinem Drachen!«, schrie My: »Übrigens ist es nicht dein Drache, er gehört dem Mumrik, der ist der Einzige, den er gern hat!«

Kurz wurde es ganz still. »Was schnatterst du da«, sagte der Mumrik und stand auf. »Noch ein, zwei Stunden, dann weiß er, wer sein Herrchen ist. Na. Hau ab. Flieg zu Herrchen.« Doch der Drache, der auf die Schulter des Mumriks geflogen war, klammerte sich mit allen sechs Tatzen fest. Der Mumrik nahm das Geschöpf zwischen zwei Finger und steckte es unter die Kaffeehaube. Dann ging er in den Garten. »Da erstickt er ja«, sagte Mumin und lüftete die Haube ein wenig. Wie ein Blitz war der Drache draußen. Er flog ans Fenster, setzte sich hin, legte die Pfoten an die Scheibe und starrte hinter dem Mumrik her. Nach einer Weile fing er an zu jammern, und die Goldfarbe wurde grau bis an die Schwanzspitze. »Drachen«, sagte der Muminvater plötzlich, »verschwanden vor ungefähr siebzig Jahren aus dem allgemeinen Bewusstsein. Ich hab im Konversationslexikon nachgeschlagen. Die Art, die sich am längsten hielt, war die emotionale Sorte mit starker Verbrennung. Sie ändern nie ihre Meinung…« – »Danke für den Kaffee«, sagte Mumin und stand auf. »Schatz, sollen wir deinen Drachen auf der Veranda lassen?«, fragte die Muminmutter. »Oder nimmst du ihn mit zu dir?« Mumin sagte nichts. Er trat an die Tür und öffnete sie. Ein kurzes Auffunkeln, und der Drache war draußen. Das Snorkfräulein rief: »Nicht doch! Ich hab ihn mir noch nicht mal ordentlich anschauen können!« – »Du kannst ja zum Mumrik gehen und dir den Drachen dort angucken«, sagte Mumin grimmig. »Mein Schatz«, sagte die Muminmutter besorgt. »Mein kleiner Mumintroll.«

Der Mumrik hatte kaum seine Angelrute herausgeholt, als der Drache angesaust kam und sich auf seinem Schoß niederließ. Er krümmte sich vor Entzücken, weil er wieder beim Mumrik war. »Na, dann gut Nacht!«, sagte der Mumrik und wischte das kleine Flatterwesen weg. »Husch. Fort mit dir. Flieg nach Hause!« Aber er wusste natürlich, dass das keinen Sinn hatte. Der Drache würde niemals wegfliegen. Und wenn er sich recht erinnerte, konnte so ein Drache hundert Jahre alt werden. Bekümmert musterte der Mumrik das kleine glänzende Wesen, das sich hingebungsvoll vor ihm aufspielte. »Natürlich bist du hübsch«, sagte er. »Natürlich wäre es schön, dich zu besitzen. Aber, weißt du, Mumin…« Der Drache gähnte. Er flog auf den Hut des Mumriks und rollte sich zum Schlafen zusammen. Der Mumrik seufzte und warf die Angelleine aus. Der neue Schwimmer dümpelte blank und leuchtend rot in der Strömung. Der Mumrik wusste, dass Mumin heute keine Lust hatte, zu angeln. Sollte doch die Morra den ganzen Schlamassel holen…

Die Stunden vergingen. Der kleine Drache flog davon, schnappte sich ein paar Fliegen und kehrte zum Schlafen auf den Hut zurück. Der Mumrik zog fünf Plötzen heraus und einen Aal, den er gleich wieder ins Wasser ließ, weil er so schrecklich zappelte. Gegen Abend kam ein Boot flussabwärts gefahren. Ein jüngerer Hemul saß am Ruder. »Beißen sie an?«, fragte er. »Es geht«, sagte der Mumrik. »Fährst du weit fort?« – »Einigermaßen«, sagte der Hemul. »Wirf mir die Fangleine zu, dann kriegst du Fische von mir«, sagte der Mumrik. »Du musst sie auf der Glut rösten. So schmecken sie am besten.« – »Und was willst du dafür haben?«, fragte der Hemul. Der Mumrik lachte und nahm den Hut ab, auf dem der schlafende kleine Drache lag. »Hör jetzt gut zu«, sagte er. »Den hier, den nimmst du möglichst weit mit und lässt ihn an einem netten Plätzchen frei. Den Hut faltest du so zusammen, dass er wie ein Nest aussieht, und legst ihn unter einen Busch.« – »Das ist ein Drache?«, fragte der Hemul misstrauisch. »Beißt er?« Der Mumrik ging ins Zelt und kam mit seiner Kaffeekanne. Er stopfte ein bisschen Gras in die Kanne und ließ den schlafenden Drachen hineingleiten. Dann schloss er den Deckel und sagte: »Du musst ab und zu ein bisschen Wasser reinleeren. Mach dir nichts draus, wenn die Kanne heiß wird. In zwei, drei Tagen machst du, was ich gesagt habe.« – »Für fünf Plötzen ganz schön viel«, sagte der Hemul. Das Boot begann mit der Strömung davonzugleiten.

Vergiss die Sache mit dem Hut nicht!«, rief der Mumrik über den Fluss. »Für meinen Hut hat er eine Schwäche.« – »Ja, ja, ja«, sagte der Hemul und verschwand hinter der Flussbiegung. Na, der wird sicher ordentlich gezwickt, dachte der Mumrik. Und eigentlich geschieht ihm das gerade recht. Mumin kam erst nach Sonnenuntergang vorbei. »Hallo«, sagte der Mumrik. »Hallo, hallo«, antwortete Mumin. »Hast du was gefangen?« – »Es geht so«, sagte der Mumrik. »Willst du dich nicht setzen?« – »Bin bloß zufällig vorbeigekommen«, murmelte Mumin. Dann schwiegen beide. Aber es war ein ganz neues Schweigen, irgendwie peinlich und verdreht. Schließlich fragte Mumin in die Luft hinaus: »Und? Leuchtet er im Dunkeln?« – »Wer denn?« – »Der Drache natürlich.« – »Das weiß ich wirklich nicht«, sagte der Mumrik. »Geh nach Hause und schau nach.« – »Aber ich hab ihn rausgelassen!«, rief Mumin aus. »Ist er nicht zu dir geflogen?« – »Nö, ist er nicht«, sagte der Mumrik und zündete seine Pfeife an. »Diese kleinen Drachen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Mal dies, mal das, und kaum sehen sie eine dicke Fliege, vergessen sie alles. So ist das nun mal mit Drachen, weißt du. Auf die ist kein Verlass.« Mumin schwieg lange. Dann setzte er sich ins Gras und sagte: »Da kannst du recht haben. War wohl gut, dass er davongeflogen ist. Ja. Vielleicht war das so am besten. Du, sag mal: dieser neue Schwimmer. Das Rot, das sieht gut aus im Wasser, finde ich.« – »Ziemlich«, stimmte der Mumrik zu. »Ich mach dir auch so einen. Denn du kommst morgen doch zum Angeln, oder?« – »Natürlich«, sagte Mumin.

Die »Geschichten aus dem Mumintal« erscheinen im Herbst in der neuen ZEIT Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/jungeleser