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Ein schrecklicher Tag

 

Warum, oh warum muss der Homsa immer seinen dummen kleinen Bruder hüten? Und warum verstehen seine Eltern so überhaupt gar nichts von Geschichten?

Von Tove Jansson

Der zweitkleinste Homsa kroch am Zaun entlang. Manchmal blieb er regungslos liegen und beobachtete den Feind zwischen den Zaunlatten hindurch. Sein kleiner Bruder kroch hinterher. Als der Homsa beim Gemüsebeet angelangt war, legte er sich auf den Bauch und schlängelte sich durch den Salat. Der Feind hatte Kundschafter ausgesandt, die waren überall. »Ich werd ganz schwarz«, sagte der kleine Bruder. »Sei still«, flüsterte der Homsa, »wenn dir dein Leben lieb ist. Was glaubst du wohl, was man in einem Mangrovensumpf wird? Blau?« – »Das hier ist Salat«, sagte der kleine Bruder.

»Wenn du so weitermachst, wirst du bestimmt bald erwachsen«, sagte der Homsa. »Dann wirst du genau wie Mama und Papa, und das geschieht dir gerade recht. Dann siehst und hörst du ganz normal, und damit meine ich, dass du weder siehst noch hörst, und dann ist es aus mit dir.« – »Oho«, sagte der kleine Bruder und fing an, Erde zu essen. »Die ist vergiftet«, bemerkte der Homsa. »Und jetzt haben sie uns erblickt, das haben wir dir zu verdanken.«

Zwei Kundschafter sausten auf sie herab, doch der Homsa tötete sie schnell. Keuchend rutschte er in den Graben und blieb dort sitzen. Er lauschte, dass ihm die Ohren bebten. Die anderen Kundschafter verhielten sich still, kamen aber sachte durch das Gras angekrochen. Durchs Präriegras.

»Hör mal«, sagte der kleine Bruder vom oberen Grabenrand herunter. »Ich will nach Hause.« – »Du kommst wahrscheinlich nie mehr nach Hause«, sagte sein Bruder düster. »Deine Gebeine werden in der Prärie ruhen, bis sie weiß sind, Mama und Papa werden weinen, bis sie ertrinken, und das alles führt zu nichts und weniger als gar nichts.« Der kleine Bruder fing an zu schreien.

Ein schrecklicher Tag – Von Tove JanssonKinderzeit AudioIllustration: Erhard Dietl

Der Homsa hörte, dass dies ein Schrei war, der lange andauern würde. Daher ließ er seinen kleinen Bruder in Ruhe und kroch weiter. Er dachte wutentbrannt: Wenn es nur keine kleinen Brüder gäbe! Die müssten groß auf die Welt kommen oder gar nicht. Die müssten so lange in einer Schublade gehalten werden, bis sie was kapieren.

Der Graben war nass. Der Homsa beschloss, den Südpol zu entdecken, und stapfte platschend weiter. Mit der Zeit wurde er sehr müde, weil Proviant und Wasser zu Ende gingen und er leider von einem Eisbären gebissen worden war. Schließlich verkroch sich der Graben in der Erde, und der Homsa besaß den Südpol ganz für sich alleine. Inzwischen war er im Moor angelangt. Das Moor war grau und dunkelgrün, ab und zu glänzte schwarzes Wasser auf, und es roch nach Moder.

»Das Moor ist verboten«, dachte der Homsa laut. »Spätnachts fährt hier der große Geisterwagen. Man hört ihn in weiter Ferne heranrollen, aber man weiß nicht, wer ihn lenkt… Nein! Hilfe!«, rief der Homsa aus. Plötzlich bekam er Angst. Sie fing unten im Bauch an und stieg langsam nach oben. Noch vor einer Minute hatte es keinen Wagen gegeben, niemand hatte je etwas davon gehört. Dann hatte er ihn gedacht, und schon war er da.

»Ich glaube«, sagte der Homsa, »ich bin lieber ein Homsa, der seit zehn Jahren auf der Suche nach seiner Heimat ist.« Er erschnupperte die Richtung und machte sich auf den Weg. Während er ging, dachte er an Schlammschlangen und lebendige Pilze, die hinter einem herkriechen – so lange, bis sie tatsächlich aus dem Moos heraufwuchsen. Die könnten einen kleinen Bruder mit einem einzigen Schnapp auffressen, dachte er betrübt. Vielleicht haben sie das ja schon getan. Ich befürchte das Schlimmste.

Er begann zu rennen. Mein armer kleiner Bruder, dachte der Homsa. Wenn die Schlammschlangen ihn erwischen, hab ich keinen kleinen Bruder mehr, dann bin ich der Kleinste… Er schluchzte und rannte, durchs Gartentor, am Holzschuppen vorbei die Treppe hinauf und schrie: »Mama! Papa! Mein kleiner Bruder ist aufgefressen worden!«

Die Homsamutter war groß und besorgt, sie ängstigte sich ständig. Jetzt fuhr sie hoch und rief: »Was? Wie? Wo ist dein kleiner Bruder? Hast du nicht auf ihn aufgepasst!?« – »Ach«, sagte der Homsa und beruhigte sich allmählich, »er ist im Moor in ein Schlammloch gefallen. Und dann ist fast sofort eine Schlammschlange aus ihrer Höhle gekrochen und hat ihm die Nase abgebissen. Ich bin außer mir, aber was soll man machen? Schlammschlangen sind viel zahlreicher als kleine Brüder.«

Eine Schlange!?«, schrie die Mutter. Doch der Vater sagte: »Beruhige dich. Er flunkert bloß.« Und der Homsavater schaute rasch auf den Hof hinaus, und da saß der kleine Bruder und aß Sand. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass man nicht flunkern darf«, schalt der Vater, und die Mutter weinte ein bisschen und sagte: »Sollte man ihn nicht besser verhauen?« – »Vermutlich«, sagte der Vater, »aber das ist mir jetzt gerade zu viel. Er soll nur zugeben, dass es hässlich ist, zu flunkern.« – »Ich hab überhaupt nicht geflunkert«, wandte der Homsa ein. »Du hast gesagt, dein kleiner Bruder sei aufgefressen worden, obwohl das gar nicht stimmt«, erklärte der Vater.

»Na, ist doch prima!«, sagte der Homsa. »Seid ihr da nicht froh? Ich bin unheimlich froh und erleichtert. Wisst ihr, diese Schlammschlangen können einfach jeden auffressen, mit einem einzigen Schnapp.« – »Ach du liebe Zeit«, sagte die Mutter. – »Also ist alles gut gegangen«, fasste der Homsa fröhlich zusammen. »Gibt es heute Abend einen Nachtisch?« Da wurde der Homsavater ärgerlich: »Heute kriegst du überhaupt kein Abendessen, bevor du nicht einsiehst, dass man nicht flunkern darf.« – »Aber ist doch klar, dass man das nicht darf«, sagte der Homsa verblüfft. – »Da siehst du’s«, sagte die Homsamutter. »Lass den Kleinen essen.« – »Oh nein«, sagte der Homsavater. »Wenn ich gesagt habe, er kriegt kein Abendessen, dann kriegt er kein Abendessen.« Der arme Vater bildete sich nämlich ein, dass der Homsa ihm nie mehr glauben würde, wenn er sein Wort zurücknähme.

Also musste der Homsa bei Sonnenuntergang ins Bett. Er war sehr verbittert über seine Eltern. Natürlich hatten sie sich schon oft schlecht benommen, aber noch nie so wie heute Abend. Der Homsa beschloss, davonzulaufen. Er hatte sie plötzlich herzlich satt, und dass sie nicht in der Lage waren, zu verstehen, was wichtig oder gefährlich war, fand er sehr lästig. »Ich würde sie gern mal Aug in Auge mit einem Hotomomb sehen«, murmelte der Homsa, während er die Treppe nach unten schlich. »Oder mit einer Schlammschlange. Ich kann ihnen ja mal eine schicken. Aber mit Glasdeckel, schließlich will ich ja doch nicht, dass sie gefressen werden.«

Der Homsa ging zurück zu dem verbotenen Moor, um sich selbst zu beweisen, dass er selbstständig war. Inzwischen war das Moor blau, beinahe schwarz, und der Himmel grün. Tief unten am Horizont lief ein leuchtend gelbes Band aus Sonnenuntergang und machte das Moor entsetzlich groß und traurig. »Ich flunkere nicht«, sagte der Homsa und ging platschend weiter. »Alles ist echt. Der Feind und der Hotomomb, die Schlammschlangen und der Geisterwagen. Die sind genauso wirklich wie zum Beispiel die Nachbarn und der Gärtner.« Und dann blieb der Homsa stehen und lauschte. Irgendwo hinten im Moor rollte der Geisterwagen los, er knirschte und knarrte und fuhr immer schneller. »Warum hast du ihn dir auch vorgestellt!«, sagte sich der Homsa. Die Grasbüschel gaben unter seinen Pfoten nach, schwarze Wasserlöcher starrten wie Augen aus dem Riedgras, und der Schlamm kroch zwischen seinen Zehen hoch.

»Denk bloß nicht an die Schlammschlangen«, sagte der Homsa und musste sofort an sie denken, »Wenn ich doch nur so wäre wie mein dicker, kleiner Bruder«, rief der Homsa verzweifelt aus. »Der denkt mit dem Bauch und isst Sägemehl und Sand und Erde. Einmal hat er versucht, einen aufgeblasenen Ballon aufzuessen. Wenn ihm das gelungen wäre, hätten wir ihn nie wiedergesehen.« Dieser Gedanke verzauberte den Homsa so sehr, dass er stehen blieb. Ein kleiner, dicker Bruder, der in die Luft hinaufsegelte.

Oh nein! Weit draußen im Moor leuchtete ein Fenster. »Da gehst du jetzt hin«, sagte sich der Homsa. »Und nicht rennen, weil du dann Angst kriegst.« Das Haus war rund, also wohnte vermutlich irgendeine Mymla darin. Der Homsa klopfte mehrmals, und als ihm niemand aufmachte, trat er ein.

Drinnen war es warm und gemütlich. Die Lampe stand auf dem Fenstersims, und irgendwo tickte eine Uhr, und oben auf einem Schrank lag eine sehr kleine Mymla auf dem Bauch und guckte ihn an. »Hallo«, sagte der Homsa. »Ich hab mich in letzter Minute gerettet. Schlammschlangen und lebendige Pilze!« Die kleine Mymla musterte ihn. Dann sagte sie: »Ich bin My. Ich hab dich vorhin gesehen. Du hast einen kleinen, dicken Homsa gehütet und dabei die ganze Zeit vor dich hingemurmelt und mit den Pfoten in der Luft gefuchtelt. Haha.« – »Na und«, sagte der Homsa. »Warum hockst du auf dem Schrank? Das ist doof.« – »Für gewisse Leute«, sagte die kleine My gedehnt, »wäre das vielleicht doof, aber für mich ist es die einzige Rettung vor einem grauenvollen Schicksal.«

Sie beugte sich über die Schrankkante und flüsterte: »Die lebendigen Pilze sind schon im Salon.« – »Was?«, fragte der Homsa. »Von hier oben aus sehe ich, dass sie auch draußen vor der Tür sitzen«, fuhr die kleine My fort. »Ich würde dir empfehlen, diesen Teppich vor den Türspalt zu legen. Sonst kriechen sie herein.« – »Stimmt das wirklich?«, fragte der Homsa und bekam einen Kloß in den Hals. »Diese Pilze, die gab’s heute Morgen nämlich noch nicht. Die hab ich erfunden.« – »Soo?«, sagte My herablassend. »Auch die Sorte, die an den Leuten hochklettert und kleben bleibt?« – »Ich weiß nicht«, flüsterte der Homsa zitternd. – »Meine Oma ist schon zugewachsen«, erwähnte die kleine My. »Sie ist da im Salon. Sie sieht wie ein großer grüner Haufen aus, oben gucken nur noch ihre Schnurrhaare raus. Vor die Tür kannst du auch einen Teppich legen. Falls das überhaupt hilft.«

Das Herz des Homsas klopfte, und seine Pfoten waren so steif, dass er es kaum schaffte, die Teppiche zusammenzurollen. Irgendwo im Haus tickte die Uhr weiter. »Dieses Geräusch, das sind die Pilze, die wachsen«, erklärte die kleine My. »Die wachsen, bis die Türen platzen, und dann kommen sie auf dich zugekrochen.« – »Hol mich auf den Schrank rauf!«, schrie der Homsa. »Hier ist kein Platz mehr«, sagte die kleine My.

Es klopfte an die Haustür. »Komisch«, seufzte die kleine My. »Dass sie sich die Mühe machen, anzuklopfen, obwohl sie doch einfach hereinkommen können…« Der Homsa stürzte zum Schrank und versuchte, hochzuklettern. Es klopfte noch einmal. »My! Es klopft!«, rief jemand im Haus. »Ja, ja, ja!«, schrie die kleine My. »Die Tür ist offen. Das da, das war meine Oma«, erklärte sie. »Unglaublich, dass sie immer noch sprechen kann.« Der Homsa starrte die Salontür an. Langsam öffnete sich ein kleiner schwarzer Spalt. Der Homsa schrie und rollte sich unters Sofa. »My«, sagte die Oma, »wie oft habe ich dir gesagt, dass du die Haustür aufmachen sollst, wenn es klopft.«

Die Oma war sehr alt und ärgerlich und hatte ein Nachthemd an. Sie öffnete und sagte: »Guten Abend.« – »Guten Abend«, sagte der Homsavater. »Entschuldigen Sie. Aber haben Sie meinen Sohn gesehen, den zweitkleinsten…« – »Der ist unterm Sofa!«, schrie die kleine My. »Du kannst vorkommen«, sagte der Homsavater. »Ich bin dir nicht böse.« – »So, so, unterm Sofa«, sagte die Oma müde. »Natürlich ist es nett, Besuch zu bekommen, und die kleine My darf ihre Freunde gern einladen. Aber mir wäre es lieber, sie würden tagsüber spielen.« – »Es tut mir schrecklich leid«, sagte der Vater. »Nächstes Mal kommt er bestimmt am Vormittag.«

Der Homsa kroch unterm Sofa hervor. Er sah weder My noch ihre Oma an, sondern ging geradewegs zur Tür. Der Homsa war so gekränkt, dass er fast weinte. »Papa«, sagte er. »Dieses Mädchen… du ahnst gar nicht… Da geh ich nie mehr hin«, fuhr er heftig fort. »Sie flunkert so fürchterlich, dass einem schlecht wird!« – »Das verstehe ich«, sagte der Vater tröstend. Und damit gingen sie nach Hause und aßen den ganzen Nachtisch auf, der noch übrig war.

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