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Rattentanz

 

Der schlaue Kater Maurice hat sich mit einer Gruppe besonderer Ratten zusammengetan. Ihre merkwürdigen Namen wie »Sardinen« oder »Gekochter Schinken« haben sie von Konservendosen. Gemeinsam mit Maurice und einem Jungen überfallen die Ratten Menschenstädte und täuschen eine Plage vor. »Maurice, der Kater« von Terry Pratchett erscheint demnächst in der neuen ZEIT Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«. Hier könnt Ihr schon mal hineinschnuppern

Kinderzeit
© Mauricio Duenas/AFP/Getty Images

Der Junge, das Mädchen und Maurice hielten sich in einer großen Küche auf. Allerdings fehlte etwas: Lebensmittel. Das Mädchen ging zu einem Metallkasten in der Ecke und tastete nach dem Bindfaden um seinen Hals. Wie sich herausstellte, hing ein großer Schlüssel daran. »Heute kann man niemandem trauen«, sagte sie. »Und die Ratten stehlen hundertmal so viel, wie sie fressen.« – »Das glaube ich nicht«, sagte der Junge. »Höchstens zehnmal so viel.« – »Weißt du ganz plötzlich alles über Ratten?«, fragte das Mädchen und schloss den Kasten auf. »Nicht ganz plötzlich. Ich hab’s gelernt, als… Au! Das hat wirklich wehgetan!« – »Tut mir leid«, sagte Maurice. »Ich habe dich rein zufällig gekratzt.« Er versuchte, ein Gesicht zu schneiden, das so viel bedeutete wie: Sei kein Vollidiot. Als Katze fiel ihm das sehr schwer.

Das Mädchen warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Hier ist Milch, außerdem zwei Fischköpfe«, sagte sie. »Klingt gut«, erwiderte Maurice. »Was ist mit deinem Menschen?« – »Mit ihm? Er isst praktisch alles.« »Wir haben Brot und Würstchen«, sagte das Mädchen. »Außerdem liegt da noch ein Stück Käse, aber es ist ziemlich alt.« – »Ich glaube nicht, dass wir deine Nahrungsmittel essen sollten, wenn sie so knapp sind«, sagte der Junge. »Oh, mein Vater sagt, es wirft ein schlechtes Licht auf die Stadt, wenn wir nicht gastfreundlich sind. Er ist der Bürgermeister.« – »Er ist die Regierung?«, fragte der Junge. Das Mädchen starrte ihn an. »Ich denke schon«, sagte sie. »Eigentlich macht der Stadtrat die Gesetze. Mein Vater verwaltet nur alles und streitet mit jedem. Er sagt, wir sollten nicht mehr bekommen als die anderen Leute, um in diesen schwierigen Zeiten Solidarität zu zeigen. Es war schon schlimm genug, dass keine Touristen mehr kamen – die Ratten haben alles noch schlimmer gemacht.«

Rattentanz – Von Terry PratchettKinderzeit AudioIllustration: Erhard Dietl

Das Mädchen nahm zwei Untertassen aus der Anrichte. »Mein Vater sagt, wenn wir alle vernünftig sind, gibt es genug«, fuhr sie fort. »Ich bin ganz seiner Meinung. Aber ich denke, wenn man Solidarität gezeigt hat, sollte was extra gestattet sein. Wie dem auch sei… Du bist also wirklich eine magische Katze?«, fragte das Mädchen und schüttete Milch in eine Untertasse. Sie floss nicht, sondern quoll, aber Maurice war eine Straßenkatze und trank selbst Milch, die wegzukriechen versuchte. »Oh, ja, genau, magisch«, sagte er. Für zwei Fischköpfe war er bereit, alles für jeden zu sein. »Gehörtest wahrscheinlich einer Hexe, mit einem Namen wie Griselda«, sagte das Mädchen und legte die Fischköpfe auf die andere Untertasse. »Ja, stimmt, Griselda«, erwiderte Maurice, ohne den Kopf zu heben. »Wohnte wahrscheinlich in einem Pfefferkuchenhaus im Wald.« »Ja, stimmt.«

Und er wäre nicht Maurice gewesen, wenn er nicht etwas erfunden hätte: »Allerdings war es ein Knäckebrothaus, denn sie machte eine Schlankheitskur, die alte Griselda.« Das Mädchen wirkte einige Sekunden verwirrt. »So sollte es nicht sein«, sagte sie. »Entschuldigung, habe mich geirrt, war tatsächlich ein Pfefferkuchenhaus«, fügte Maurice hastig hinzu. Wer einem zu essen gab, hatte recht. »Und bestimmt hatte sie große Warzen.« – »Verehrtes Fräulein…« Maurice versuchte, ganz ehrlich zu wirken. »Einige der Warzen waren mit so viel Persönlichkeit ausgestattet, dass sie eigene Freunde hatten. Äh…wie heißt du?«

»Versprichst du, nicht zu lachen?« – »Versprochen.« Vielleicht gab es weitere Fischköpfe. »Ich heiße…Malizia. Lachst du?«, fragte Malizia in drohendem Tonfall. »Nein«, erwiderte Maurice verwundert. »Findest du den Namen nicht komisch?« Maurice dachte über die ihm bekannten Namen nach: Gekochter Schinken, Gefährliche Bohnen, Sardinen… »Klingt nach einem ganz gewöhnlichen Namen«, sagte er. Malizia bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Jungen zu.

»Hast du auch einen Namen?«, fragte sie. »Du bist nicht zufällig der Sohn eines Königs?« »Ich glaube, ich heiße Keith«, sagte der Junge. »Keith ist kein vielversprechender Anfang für einen Namen«, sagte Malizia. »Er deutet auf nichts Geheimnisvolles hin. Ist das wirklich dein richtiger Name?« – »Es ist der Name, den man mir gegeben hat.« – »Ja, das klingt schon besser. Ein leichter Hinweis auf etwas Geheimnisvolles«, sagte Malizia. »Gerade genug, um Spannung zu schaffen. Ich nehme an, man hat dich kurz nach deiner Geburt entführt. Wahrscheinlich bist du der rechtmäßige König irgendeines Landes, aber sie fanden jemanden, der dir ähnelt, und daraufhin hat man dich vertauscht. In dem Fall hast du wahrscheinlich ein magisches Schwert bei dir, das aber nicht magisch aussieht und sich erst als solches erweist, wenn für dich die Zeit gekommen ist. Wahrscheinlich hat man dich vor einer Tür gefunden.« – »Das stimmt«, bestätigte Keith. »Siehst du? Ich habe immer recht!«, sagte Malizia.

Maurice hatte den dumm aussehenden Jungen noch nie von sich selbst sprechen gehört. »Davon hast du mir nie erzählt«, sagte Maurice vorwurfsvoll. »Ist es wichtig?«, fragte Keith. »Wahrscheinlich lag neben dir im Korb auch ein magisches Schwert oder eine Krone«, sagte Malizia. »Ich glaube nicht«, sagte Keith. »Nur ich und eine Decke lagen im Korb. Und ein Zettel.« – »Ein Zettel? Das ist wichtig!« – »Darauf stand: ›Neunzehn halbe Liter Milch und ein Erdbeerjoghurt‹«, sagte Keith. »Warum neunzehn halbe Liter Milch?« – »Es war die Gilde der Musiker«, sagte Keith. »Sie ist ziemlich groß. Über den Erdbeerjoghurt weiß ich nicht näher Bescheid.« – »Ein ausgesetztes Waisenkind, das ist gut«, fand Malizia. »Ein Prinz kann nur zu einem König werden, aber eine Waise kann alles sein. Hat man dich auch geschlagen und in einen Keller gesperrt?« »Ich glaube nicht«, sagte Keith und sah Malizia verwundert an. »Alle in der Gilde erwiesen sich als sehr freundlich. Sie lehrten mich viel.« – »Wir haben hier ebenfalls Gilden«, sagte Malizia. »Sie machen Jungen zu Tischlern und Steinmetzen.« – »Die Gilde lehrte mich Musik«, erklärte Keith. »Ich bin ein Musiker. Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt selbst, seit ich sechs bin.« – »Aha! Geheimnisvolles Waisenkind, sonderbares Talent, in Not aufgewachsen… Allmählich nimmt alles Gestalt an«, sagte Malizia. »Der Erdbeerjoghurt ist wahrscheinlich nicht so wichtig. Wäre dein Leben anders verlaufen, wenn er Bananengeschmack gehabt hätte? Welche Art von Musik spielst du denn?« – »Welche Art?«, wiederholte Keith. »Es gibt nur Musik. Überall, wenn man richtig hinhört.«

Malizia sah Maurice an. »Ist er immer so?« – »Er hat noch nie so viel von sich erzählt«, erwiderte die Katze. »Bestimmt seid ihr ganz erpicht darauf, alles über mich zu erfahren«, sagte Malizia. »Meine Güte, ja«, sagte Maurice. »Es überrascht euch sicher nicht, dass ich zwei grässliche Stiefschwestern habe«, sagte Malizia. »Und ich muss alle Arbeiten erledigen.« – »Meine Güte, na so was«, sagte Maurice und fragte sich, ob es weitere Fischköpfe gab. Er fragte sich auch, ob sie dies wert waren. »Nun, die meisten Arbeiten«, sagte Malizia. »Ich muss mein eigenes Zimmer aufräumen!« – »Meine Güte.« – »Und es ist fast das kleinste Zimmer.« »Meine Güte.« – »Und die Leute sind unglaublich grausam zu mir. Sollte man von der Tochter des Bürgermeisters erwarten, mindestens einmal pro Woche den Abwasch zu machen?« »Meine Güte.« »Und seht euch nur meine zerrissene und abgetragene Kleidung an!« Maurice sah genauer hin. Mit Kleidung kannte er sich nicht besonders gut aus. Fell reichte ihm. »Hier, genau hier«, sagte Malizia und zeigte auf eine Stelle, die für Maurice genauso aussah wie der Rest des Kleids. »Das musste ich selbst nähen!«

»Meine Gü…« Maurice unterbrach sich. Von dort, wo er saß, sah er die leeren Regale an der Wand, und was noch wichtiger war: Er sah, wie sich Sardinen von einem Riss in der alten Decke abseilte. Er trug einen Rucksack. »Und als ob das noch nicht genug wäre: Ich muss mich jeden Tag für Brot und Wurst anstellen…«, fuhr Malizia fort, aber Maurice hörte ihr jetzt noch weniger zu als vorher. Es muss Sardinen sein, dachte er. Idiot! Von allen Küchen in der Stadt muss er ausgerechnet in dieser auftauchen. Gleich dreht sich das Mädchen um, sieht ihn und schreit.

Sardinen hätte es vermutlich für eine Art Applaus gehalten. Andere Ratten liefen einfach herum, quiekten und brachten Dinge durcheinander. Aber für Sardinen reichte so etwas nicht aus. Er musste immer seine yowoorll-Gesangs- und Tanznummer aufführen! »…und die Ratten stehlen wirklich alles«, sagte Malizia. »Und was sie nicht stehlen, verderben sie. Es ist schrecklich! Der Stadtrat kauft Lebensmittel von anderen Orten, aber niemand hat viel übrig. Deshalb ist das Brot bei uns so teuer.« – »Teuer, wie?«, erwiderte Maurice. »Wir haben es mit Fallen, Hunden, Katzen und Gift versucht, aber die Ratten kommen immer wieder«, sagte das Mädchen. »Und sie sind sehr schlau geworden. Lassen sich kaum noch von den Fallen erwischen.« Hinter Malizia sah sich Sardinen im Zimmer um und gab den Ratten in der Decke dann das Zeichen, den Bindfaden hochzuziehen.

»Glaubst du nicht, dies wäre ein geeigneter Zeitpunkt, um geh weg!«, rief Maurice. »Warum schneidest du Grimassen?«, fragte Malizia und starrte ihn an. »Oh…äh, kennst du die Katze, die dauernd grinst? Nun, ich bin eine Katze, die Grimassen schneidet«, sagte Maurice verzweifelt. »Und manchmal rutschen mir einfach so Dinge raus weg geh weg, siehst du, es ist schon wieder passiert, es ist eine Krankheit o nein, mach das nicht, dies ist nicht der richtige Ort, huch, schon wieder…«

Sardinen hatte seinen Strohhut vom Kopf genommen und hielt einen kleinen Spazierstock in der Pfote. Es war eine gute Nummer, das musste selbst Maurice zugeben. In manchen Orten hatte sein Auftritt genügt, um die Menschen in Panik zu versetzen. Sie konnten Ratten in der Sahne hinnehmen, Ratten auf dem Dach und Ratten im Teekessel. Aber Stepp tanzende Ratten – das ging zu weit. Er beobachtete Sardinen etwas zu lange. Malizia drehte sich um und klappte entsetzt den Mund auf, als Sardinen seine Schau abzog. Sie griff nach einer Bratpfanne auf dem Tisch und warf mit großer Zielsicherheit. Doch Sardinen verstand es, solchen Wurfgeschossen auszuweichen. Die Ratten waren daran gewöhnt, dass man Dinge nach ihnen warf. Er lief bereits, als die Pfanne das Zimmer halb durchquert hatte, um hinter der Anrichte zu verschwinden. Eine Sekunde später ertönte ein plötzliches, endgültiges, metallisches…Schnapp!

»Ha!«, rief Malizia, als Maurice und Keith zur Anrichte starrten. »Jetzt gibt es eine Ratte weniger.« – »Es hat Sardinen erwischt«, sagte Keith. »Nein, nein, es war eindeutig eine Ratte«, erwiderte Malizia. »Sardinen laufen wohl kaum selbständig durch eine Küche.« – »Er nannte sich Sardinen, weil er diesen Namen auf einer rostigen alten Büchse sah und ihn für schick hielt«, sagte Maurice. »Er war eine gute Ratte«, sagte Keith. »Er stahl Bücher für mich, als sie mich lesen lehrten.« – »Entschuldige bitte, bist du verrückt?«, fragte Malizia entgeistert. »Es war eine Ratte. Nur eine tote Ratte ist eine gute Ratte.«

»Hallo?«, ertönte da eine leise Stimme hinter der Anrichte. »Sie kann unmöglich überlebt haben!«, brachte Malizia hervor. »Es ist eine riesige Falle!« – »Hört mich irgend jemand? Ah, der Stock biegt sich allmählich durch…«, verkündete die Stimme. »Das ist doch nicht etwa die Ratte, die da spricht?«, fragte Malizia. Maurice spähte hinter die Anrichte. »Ich sehe ihn«, sagte er. »Hat den Stock in die Falle gekeilt, als sie zugeschnappt ist! He, Sardinen, wie geht’s?« – »Gut, Boss«, erwiderte Sardinen im Halbdunkel. »Wenn diese Falle nicht wäre, würde ich sogar sagen, dass alles perfekt ist. Habe ich bereits erwähnt, dass sich der Stock biegt?« – »Ja, das hast du.« – »Inzwischen ist er noch etwas mehr gebogen, Boss.«

Keith ergriff das eine Ende der Anrichte und ächzte leise. »Schwer wie ein Fels!«, sagte er. »Sie ist voller Geschirr«, sagte Malizia. »Aber Ratten sprechen doch nicht wirklich, oder?« – »Aus dem Weg!«, rief Keith. Mit beiden Händen griff er nach der Rückwand der Anrichte, stützte einen Fuß an die Wand und zog. Das Geschirr geriet ins Rutschen, als das große Möbelstück kippte. Keith streckte die Hand nach der Falle aus und ergriff Sardinen. Als er die Ratte hochhob, gab der Stock nach, und die Falle schnappte endgültig zu. Ein Teil des Stocks wirbelte durch die Luft. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Keith. »Nun, Boss, ich kann nur sagen: Zum Glück tragen Ratten keine Unterwäsche… Danke, Boss«, sagte Sardinen.

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