Dem starken Wanja ist geweissagt worden, dass er einmal Zar von Russland werden soll. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er sieben Jahre auf einem Ofen liegen. »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler erscheinen demnächst in der neuen ZEIT-Edition »Fantastische Geschichten für junge Leser«. Hier könnt Ihr in das Buch hineinlesen: Wanja hat seinen Ofen verlassen – aber auf dem Weg zur Zarenkrone begegnen ihm viele Gefahren, zum Beispiel die schreckliche Hexe Baba-Jaga …
Den ganzen Sommer lang wanderte Wanja von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt, durch Wälder und Steppen, an Flüssen und Bächen entlang, bei Regen und Hitze, bei Wind und Sonnenschein. Was er zum Leben brauchte, verdiente er sich. Hier half er Weizen schneiden, dort packte er einen wild gewordenen Stier bei den Hörnern und bändigte ihn; bald schleppte er eine Ladung Getreide zur Mühle: alles Arbeiten, die nicht viel Zeit erforderten und ihm doch seine Krautsuppe eintrugen, seinen Brei, seinen täglichen Kanten Schwarzbrot, und manchmal ein Stück Fleisch oder Speck.
Oft musste Wanja zurückdenken an den Ritter Wolok, an die schimmernde Stadt Kiew – und an die Geschichten, die ihm Wolok von den Abenteuern der Helden vom Goldenen Tisch erzählt hatte. Dann wurde ihm schwer ums Herz. Er war stolz auf den Dolch, den Wolok ihm zum Abschied geschenkt hatte; und bisweilen erschien ihm im Traum die Schimmelstute Bjelaja und trug ihn auf ihrem Rücken wie ein Sturmwind.
Viele Leute, mit denen er unterwegs zusammenkam, fragte er nach den Weißen Bergen. Einige meinten, sie hätten schon einmal von ihnen gehört; aber wo sie lagen und wie man dorthin gelangte, das konnte ihm niemand sagen. Der Herbst kam mit Wind und Nebel, mit Krähenschwärmen und dem Geschrei der Wildgänse. Wanja wanderte eine Zeit lang am Rand eines weiten Moores dahin. Der Weg führte an schwarzen Tümpeln vorbei, über schwankende Knüppeldämme, durch struppiges Heidekraut. Die Dörfer hier waren klein und ärmlich, die Böden karg. Unweit des Weges waren zwei alte Leute damit beschäftigt, ein Feld zu pflügen. Der Bauer hatte sich selbst vor den Pflug gespannt. Die Bäuerin, ein verhutzeltes Frauchen, stolperte hinterdrein und drückte das Pflugscheit nieder, so gut es ging.
Wanja schaute den beiden kopfschüttelnd eine Weile zu. Dann stieß er die Lanze aus Eisenholz in den Boden und krempelte sich die Ärmel auf. »He, Großvater!«, rief er. »Ihr beiden mutet euch da ein bisschen viel zu!« Der Alte blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das wäre der erste Acker, Söhnchen, der sich von selbst pflügte«, sagte er. Wanja trat auf ihn zu und griff nach dem Zugseil. »Lass mich den Pflug ziehen«, sagte er. »Ich bin jung, für mich ist das eine Kleinigkeit.«
Der starke Wanja pflügte den alten Leuten das ganze Feld um. Es war Abend geworden, die beiden hatten ihn eingeladen, bei ihnen zu übernachten. »Unsere Hütte«, sagte der Bauer, »ist klein, doch für drei reicht sie allemal.« Die Alte tischte dem starken Wanja einen Borschtsch auf, das ist eine Suppe von roten Rüben, und hinterher eine Schüssel voll Linsenbrei. »Iss du nur, Söhnchen«, sagte sie, »Du hast auf dem Acker für zehn gearbeitet. Was wir dir vorsetzen können, ist dürftig, aber es kommt von Herzen! Gott segne dir’s!« Wanja ließ sich den dampfenden Borschtsch und die Linsen schmecken. Das bisschen Pflügen, meinte er, habe ihm wenig ausgemacht. Aber für alte Leute sei es doch wohl eine arge Schinderei. »Reicht’s denn nicht auf ein Pferd?«, fragte er. »Und wenn nicht – warum leiht ihr euch keins bei den Nachbarn?« Das sei leider nicht möglich, sagten die Alten. Es gebe hier, in den Dörfern am Moor, keine Pferde. »Und warum nicht?« »Die Baba-Jaga hat sie alle weggeholt«, sagte der Bauer. »Die Hexe Knochenbein. Sie haust draußen im Moor – und sie reitet zuweilen auf einem alten Backofen aus, der läuft auf vier großen Hühnerpfoten. Wer ihr den Weg kreuzt, dem wirft sie ein Fangeisen um den Hals, zerrt ihn in den Morast und ertränkt ihn.« – »Die Pferde auch?«, fragte Wanja. »Die lässt sie am Leben«, sagte der Alte. »Sie hält sie im Moor gefangen. Es müssen schon mehr als hundert sein.« – »Und findet sich niemand, der ihr das Handwerk legt?« – »Viele haben den Zweikampf mit ihr gewagt. Wer in den Dörfern herumhorcht, dem wird man von manchem tapferen Mann erzählen, den die verfluchte Hexe auf dem Gewissen hat.« Wie der Kampf mit der Baba-Jaga sich denn abspiele, fragte Wanja. »Der Kampf besteht darin«, sagte der Alte, »dass die Baba-Jaga ihrem Gegner das Fangeisen um den Hals wirft. Am Fangeisen hängt eine lange Kette. Gelingt es der Baba-Jaga, dich ins Moor zu zerren, bist du verloren. Wenn du es aber fertigbringst, sie und den Backofen auf das trockene Land zu ziehen – dann hast du sie überwunden, und sie muss tun, was du ihr befiehlst. Aber bisher hat das keiner fertiggebracht; und ich fürchte, so wird es bleiben.«
Das müsse sich erst noch zeigen, erwiderte Wanja in einem Ton, der die beiden aufhorchen ließ. »Um Himmels willen! Du willst doch nicht etwa selbst…« – »Doch«, sagte Wanja. »Ich habe den bösen Och und den Räuber Batur besiegt – und ich hoffe, mit Gottes Hilfe werde ich auch die Baba-Jaga bezwingen. Morgen bin ich am Moor.«
Dabei blieb es. Vor Tau und Tag stand er auf, ging zum Brunnen und wusch sich. Bei der Morgensuppe versuchten die beiden Alten noch einmal, ihn umzustimmen – vergebens. »Ich danke euch, gute Leute, für eure Gastfreundschaft«, sagte Wanja. »Sorgt euch nicht um mich, es wird alles ausgehen, wie es mir bestimmt ist. Wenn die Pferde zurückkommen, wisst ihr, dass ich den Kampf bestanden habe.« Er nahm Abschied und wollte gehen. Aber der Alte hielt ihn zurück und sagte: »Da nichts mehr daran zu ändern ist, dass du hingehst und deinen Kopf wagst, will ich dir etwas anvertrauen: Solltest du wider alles Erwarten den Kampf mit der Baba-Jaga gewinnen, dann zwinge sie, dir den Rappen Waron zu geben, der schneller ist als der Steppenwind, das beste und treueste Ross. Lass dir kein anderes Pferd von ihr aufschwatzen, hörst du – kein anderes!« Wanja dankte dem Bauern für seinen Rat. Dann verließ er die Hütte und schlug den Weg ein, der aus dem Dorf hinausführte an den Rand des Moores.
Dreimal rief Wanja mit lauter Stimme die Baba-Jaga. Beim ersten Mal rührte sich nichts; beim zweiten Mal fegte ein Windstoß über das Moor; beim dritten Mal kam die Hexe auf ihrem Ofen herangeprescht: krummnasig, schiefmäulig, mit fliegenden Röcken und wirr flatterndem Haar. Der Ofen lief auf stämmigen nackten Hühnerbeinen mit langen Krallen. Die Hexe hockte darauf wie ein Reiter. Mit der einen Hand hielt sie die Zügel, in der anderen schwang sie das Fangeisen.
Dicht vor Wanja, am Rand des Moores, zügelte sie den Ofen. »Du hast mich gerufen, Bürschlein? Was willst du?« – »Ich will mit dir kämpfen«, erwiderte Wanja tapfer. »Kämpfen?! – Gib acht, was ich mit dir mache!« Eins – zwei warf die Baba-Jaga ihm das Fangeisen um den Hals. Klirrend schnappte es zu, mit eisernem Würgegriff. Wanja fasste sich an die Kehle. »So!«, rief die Baba-Jaga. »Und nun ins Moor mit dir!« Damit wendete sie den Backofen. »Vorwärts, mein Pferdchen, hej!« Sie versuchte den starken Wanja ins Moor zu zerren. »Willst du wohl ziehen, du alter Klepper? Vorwärts!« Die Hexe spornte den Ofen mit Geschrei an. »Hej, hej, hej, hej!« Wanja stützte sich auf die Lanze von Eisenholz. Die Kette war zum Zerreißen angespannt, das Fangeisen würgte ihn halb zu Tode. Keuchend rang er nach Luft. »Alle Heiligen!«, dachte er. »Steht mir bei – wie soll das ein Mensch ertragen…« Er machte sich schwer und stemmte sich mit den Füßen fest in den Boden. Die Hexe schlug wie nicht bei Trost auf den Ofen los. »Noch ein Ruck!«, rief sie. »Hej, hej, hej!«
Wanja spürte, dass es mit seinen Kräften zu Ende ging. In seiner Verzweiflung zog er Woloks Dolch aus dem Gürtel und schleuderte ihn nach dem Backofen. Knirschend bohrte die Klinge sich in die rechte Flanke des Ofens. Blut spritzte aus der Wunde. Der Ofen stieß einen gellenden Schrei aus und bäumte sich auf. Für einen Augenblick verlor die Baba-Jaga die Gewalt über ihn. Diesen Augenblick nützte Wanja zu einem mächtigen Ruck. Der Ofen war nicht gefasst darauf, die Hühnerbeine knickten unter ihm weg, er verlor den Halt. Wanja schleifte den Backofen samt der Baba-Jaga auf das feste Land. Kaum war das geschehen, da öffnete sich das Fangeisen und klirrte zu Boden.
Wanja trat auf die Hexe zu. »Nun – wer hat wen besiegt?« Die Baba-Jaga stieg vom Ofen, aschfahl im Gesicht vor Wut. Sie knirschte mit ihren langen Pferdezähnen, sie fauchte wie eine böse Katze. Sie hatte den Kampf verloren – und basta. »Was verlangst du von mir?« Wanja sagte fest und mit lauter Stimme: »Den Bauern ihre Pferde – und mir den Rappen Waron: Das verlange ich!« Die Hexe wich einen Schritt zurück, sie duckte sich wie zum Sprung. »Was du verlangst, soll geschehen«, krächzte sie. »Lass uns zu mir nach Hause reiten, auf meinem Ofenpferdchen ist für uns beide Platz.«
Auf dem Backofen ritten die Baba-Jaga und der starke Wanja über das weite Moor, dass der Schlamm spritzte und der Wind ihnen um die Ohren pfiff. Weit draußen im Moor stand die Hütte der Baba-Jaga: ein schiefes, schludriges Häuschen mit blinden Fenstern und schimmligen Balken, das Strohdach an vielen Stellen durchgefault. »Da wären wir – brrr, mein Öfchen!« Links von der Hütte begann ein langer, fast mannshoher Bretterzaun. Als Wanja darüber hinwegblickte, sah er auf eine Pferdekoppel. Dort grasten mit hängenden Köpfen die von der Baba-Jaga auf den Dörfern zusammengestohlenen Pferde – alle gut im Futter, soweit sich das aus der Ferne erkennen ließ, aber krank vor Heimweh. »Schick sie in ihre Dörfer zurück!«, befahl Wanja. »Und wehe dir, wenn auch nur eines zu Schaden kommt!« Die Hexe murmelte etwas in einer fremden, unverständlichen Sprache und fuchtelte mit den Händen. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Wanja fasste sich an die Ohren, die Alte kicherte. »Um Vergebung, falls ich den Herrn erschreckt habe.« Im Bretterzaun hatte sich auf den Pfiff hin ein Tor geöffnet. Die Pferde der Bauern kamen herbeigetrottet und schauten. »Lauft, gute Pferdchen!«, rief der starke Wanja. »Seht ihr nicht, dass ihr frei seid?« Nun begriffen die Bauernpferde. Freudig stürmten sie aus der Koppel, mit fliegender Mähne und wehendem Schweif. Nach allen Richtungen stoben sie davon, ein jedes zurück in sein Heimatdorf. Und keines sank auch nur einen Fingerbreit im Morast ein, dafür hatte die Hexe mit ihren Zaubersprüchen gesorgt.
»Zufrieden, der Herr?« – »So weit ja«, sagte Wanja. »Nun aber her mit dem Rappen Waron!« Die Hexe buckelte. Mit schiefem Grinsen führte sie Wanja zu einem Stall, darin standen zwei prächtige Pferde: ein Goldfuchs mit langer, geflochtener Mähne und eine herrliche Schimmelstute, in allen Dingen Bjelajas Ebenbild. »Schneeflöckchen ist zu haben«, sagte die Baba-Jaga, »und Goldfüchslein auch…« Wanja klopfte der Schimmelstute den Hals. Zutraulich schmiegte sie ihm den Kopf an die Schulter. »Nun, wie gefallen dir meine Tierchen? Eins davon kannst du mitnehmen.« – »Und der Rappe Waron?«, fragte Wanja. »Ach, der!«, rief die Hexe Knochenbein. »Dort hinten steht er und frisst das Gnadenbrot.«
Halb versteckt hinter einem grauen Vorhang stand ein elender, dürrer Klepper mit Triefaugen und verfilzter Mähne. »Dies soll Waron sein?« – »Du sagst es.« Wanja besah sich den Rappen näher. Was für ein schäbiges Tier! Wanja war drauf und dran, sich für Schneeflöckchen zu entscheiden: Da fiel ihm die Warnung des alten Mannes ein. Wie zufällig streifte sein Blick die Baba-Jaga, und er sah sie grinsen. »Nun?«, drängte die Hexe. »Du hast deine Wahl getroffen?« – »0 ja«, sagte Wanja. Der Rappe Waron war mit einem Strick festgebunden. Wanja löste den Knoten und führte Waron ins Freie. Als sie die Stalltür durchschritten, verwandelte sich die dürre, räudige Schindmähre in ein strahlendes Heldenross. Der Fuchs aber und die Schimmelstute wurden im gleichen Augenblick wieder zu dem, was sie in Wirklichkeit gewesen waren: ein Strohwisch und eine alte Nachtmütze.
Der Baba-Jaga hatte ihre Hexenkunst nichts genützt. Wütend schwang sie sich auf den Backofen und ritt kreischend davon. So groß war ihr Zorn, dass sie Feuer fing. Lichterloh brennend stürzte sie sich mit dem Ofen in einen der schwarzen Moortümpel und versank darin. »Die sind wir los!«, sagte Wanja. »Nun brauchen die Bauern sich nicht mehr vor ihr zu fürchten.« Wohlgefällig betrachtete er den Rappen Waron, dessen Fell in der Sonne glänzte wie schwarze Seide. »Wie stolz du den Kopf hältst, Waron! Und wie feurig du in die Runde blickst!« Das edle Ross trug den starken Wanja auf die Heide hinaus. »Lauf zu, mein Waron!« Da stürmte der Rappe mit Wanja dahin, schneller als der Steppenwind. Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, sahen bloß einen Schatten und spürten den scharfen Luftzug. »Was war das?«, fragten sie. »Will es schon Winter werden? Es scheint, dass der Sturm uns die ersten Schneewolken übers Land treibt.«
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