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Der Froschkönig

 

© Rolf Rettich mit freunlicher Genehmigung des Oettinger Verlages
© Rolf Rettich mit freundlicher Genehmigung des Oettinger Verlages

Die niederländische Autorin Annie M. G. Schmidt (1911 bis 1995) hat aus dem bekannten Märchen der Brüder Grimm eine spannende neue Vorlesegeschichte gemacht
Vor langer Zeit lebte einmal eine Prinzessin, die war so schön, dass sogar die Hunde auf der Straße den Atem anhielten, wenn sie vorüberging. Leider wusste auch die Prinzessin selbst sehr gut, wie schön sie war. Jeden Tag saß sie neun Stunden vor dem Spiegel und guckte und guckte, bis es jedermann übel davon wurde. Die Zeit, die übrig blieb, benutzte sie, um sich umzuziehen. Immer wieder ließ sie sich neue Sachen machen, und sie hatte doch schon hundertsiebenunddreißig Kleider und zwölfhundertachtundsiebzig Hüte. Es war schrecklich, und ihre Eltern machten sich große Sorgen. »Das Kind ist viel zu eitel«, sagte der König. »Wir müssen etwas dagegen tun.«
Er stieg hinauf und trat in das Zimmer seiner Tochter. Sie saß wieder vor dem Spiegel, umgeben von lauter grünen Hüten. »Sitzt du schon wieder vor dem Spiegel?«, fragte der König. »Ich will mir ein schönes grünes Hütchen aussuchen«, sagte die Prinzessin. »Aber von keinem gefällt mir das Grün.« – »Kind«, sagte der König, »jetzt hör endlich mal auf, Hüte aufzuprobieren. Du solltest lieber Klavier üben.« – »Keine Zeit«, sagte die Prinzessin. »Zuerst die Hüte!« Da wurde der König wütend. Er packte den Spiegel und schmetterte ihn auf den Fußboden, dass er zerbrach. »So!«, rief er. »Und jetzt gehst du raus an die frische Luft. Du gehst im Wald spazieren und kommst erst in einer Stunde wieder nach Hause. Marsch! Raus!«

Die schöne Prinzessin senkte den Kopf. Sie war sehr erschrocken und wagte nicht, ungehorsam zu sein. Sie ging also in den Wald, bis sie an einen verborgenen Weiher kam. »Hei«, rief die Prinzessin, »Wasser! Nun habe ich wieder einen Spiegel.« Sie beugte sich hinunter, um ihr Bild im Wasser zu sehen, aber die Frösche waren so unruhig, dass die Oberfläche sich kräuselte.
»Was für eine Menge Frösche!«, rief die Prinzessin. »Und alle grün. So ein schönes Grün. So einen Hut will ich haben.« Und sie rannte nach Hause, wo sie auf einen Reitknecht traf. »Geh sofort zum Weiher«, keuchte die Prinzessin atemlos. »Fang alle Frösche dort. Ich bestelle den Hutmacher, der soll mir einen Hut aus den Häuten machen.« Der Stallknecht nahm ein großes Netz und ging zum Weiher. Aber als er ankam, hatten alle Frösche sich unter den Wasserpflanzen versteckt. Nur einer war noch da. Es war der Herrscher der Frösche, der Froschkönig. »Was willst du?«, fragte der Froschkönig barsch. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Reitknecht höflich und nahm die Mütze ab, »ich hab den Auftrag von der Prinzessin, alle Frösche zu fangen.« – »Und was will die Prinzessin mit meinen Fröschen?«, fragte der Froschkönig. »Sie will, mit Verlaub, einen Hut davon machen lassen«, sagte der Reitknecht. »Wirklich?«, fragte der Froschkönig. »Also gut, junger Mann, sie hat den Hut bereits. Er sitzt ihr ein bisschen tief über den Ohren, aber das schadet nichts. Geh nach Haus und bestell ihr Grüße vom Froschkönig. Guten Tag.« Ein wenig bange und bestürzt ging der Reitknecht in den Palast zurück. Dort fand er die königliche Familie in großer Aufregung. Irgendwas war mit der Prinzessin geschehen. Etwas Entsetzliches. Ihr Körper war unverändert geblieben. Sie hatte noch dieselbe schöne Gestalt, aber ihr Kopf war ein Froschkopf geworden. Ein großer, grüner Froschkopf. Es war ein gräulicher Anblick. »Das hat der Froschkönig getan, das hat der Froschkönig getan!«, rief der Reitknecht, aber niemand hörte auf ihn, und er ging wieder in seinen Stall; der Hof aber war in großem Aufruhr. Man holte den Arzt und den Hofadvokaten und den Hautspezialisten, aber die schüttelten alle drei den Kopf und sagten, da sei nichts zu machen. »Sie werden sich damit abfinden müssen«, sagten sie zum König. »Mich mit einem Froschkopf abfinden! Niemals!«, zeterte der König. »Vielleicht können wir sie ein bisschen hübscher machen«, sagte die Königin. »Mit einer Perücke und ein bisschen Puder kann man viel erreichen.« Die Hoffriseure wurden alle herbeizitiert. Sie setzten der Prinzessin eine Perücke auf den kahlen Schädel, sie machten ihr grünes Gesicht weiß mit Puder und versuchten, ihren Mund rot anzumalen. Sie verbrauchten einen ganzen Lippenstift, denn so ein Froschmaul ist breit. Als sie fertig waren, hielten sie der Prinzessin einen Spiegel vor. Sie warf einen Blick hinein und stieß einen Entsetzensschrei aus. Es war aber auch wirklich abscheulich. Sie sah aus wie der verrückteste Clown der ganzen Welt. »Immerhin ist es besser als all das Grün«, sagte die Königin, aber die Prinzessin riss sich los und lief in ihr Zimmer, zog die Perücke vom Kopf und wischte sich die Farbe vom Gesicht. Dann floh sie durch die Hintertür hinaus.
»Wer war das, mit dem du gesprochen hast?«, fragte sie den Reitknecht. »Der Herrscher der Frösche«, stammelte er. »Er nennt sich Froschkönig. Sie haben noch ein bisschen Farbe am Maul.« Die Prinzessin sah ihn traurig an. »Verzeihung, am Mund«, sagte der Reitknecht und wurde rot vor Verlegenheit, aber sie war schon fort. Sie ging in den Wald, beugte sich über den Weiher und rief: »Froschkönig!« Aber es kam keine Antwort. Alle Frösche hielten sich verborgen. »Mach mich bitte wieder richtig, lieber Froschkönig«, flehte die Prinzessin. Keine Antwort. »Dann mach mich ganz zum Frosch«, schluchzte die Prinzessin. »Lieber ein ganzer Frosch als ein halbes Mädchen.« So jammerte sie am Rande des Weihers, aber nicht ein einziges Geräusch war zu hören, und da es im Weiher so ruhig blieb, konnte sie sich nun ganz deutlich darin sehen: ein großer, dicker, grüner Froschkopf. Seufzend wandte sie sich um und ging weiter. Sie wollte nicht wieder nach Hause zurückkehren. Und so lief sie, bis sie in die Stadt kam. Dort trat sie in einen Bäckerladen und bat um ein Brötchen, aber der Bäcker fuhr zurück, und die Bäckersfrau kam mit dem Teppichklopfer, um sie wegzujagen.
»Darf ich dann vielleicht hier Dienstmagd werden und die allerschmutzigste Arbeit tun?«, fragte die Prinzessin. »Danke schön«, sagte die Bäckersfrau. »Keine Frösche in meiner Küche.« Überall wurde die arme Froschprinzessin weggejagt, und sie sah immer hässlicher aus, denn ihr Kleid wurde schmutzig und bekam Risse. Endlich gelangte sie in ein anderes Land, ging zum königlichen Palast und fragte an der Hintertür, ob man vielleicht Arbeit für sie hätte. »Ich will alles tun«, sagte sie. »Ich könnte Mist karren oder in einer Ecke wollene Socken stricken.« – »Mein liebes Froschfräulein«, sagte der Oberpersonalchef, der sie anhörte, »wir haben hier keinen Mist, und wollene Socken tragen wir auch nicht. Es tut mir leid.« Betrübt drehte sich die Prinzessin um und wollte weitergehen, da rief der Mann sie zurück und flüsterte: »Warte, ich wüsste doch vielleicht etwas für dich. Der Königssohn, der hier lebt, ist blind, und man muss ihm den ganzen Tag vorlesen. Du hast eine schöne Stimme, und er kann dich ja nicht sehen.« So kam die Froschprinzessin in den Palast zu dem blinden Prinzen. Er wohnte in einem Turmzimmer voller Märchenbücher, die sie ihm vorlesen musste.

Sie machte es so gut, und ihre Stimme klang so süß, dass der Prinz keine Stunde mehr ohne sie sein konnte. Sie musste mit ihm am Tisch essen und nachts in einer kleinen Kammer über seinem Zimmer schlafen. »Du bist sicher hübsch. Wie schade, dass ich dich nicht sehen kann«, sagte der Prinz manchmal, und die Froschprinzessin schwieg dazu. Eines Tages, als sie wieder vorlas, hörten sie von draußen einen ungeheuren Lärm. »Was ist denn da los?«, fragte der Prinz. Sie beugte sich aus dem Fenster und rief: »Ach, wie komisch! Zwei Hofdamen haben Krach miteinander. Sie schlagen sich und zerren sich an den Haaren.« – »Wie schade, dass ich das nicht sehen kann«, rief der Prinz. Er hatte Tränen in den Augen. Da bekam die Prinzessin solches Mitleid mit dem Prinzen, dass ihr plötzlich etwas einfiel, und sie fragte, ob sie wohl zwei Tage freihaben könnte. »Zwei Tage?«, rief der Prinz. »Soll ich zwei Tage ohne dich sein?«
»Ich werde noch besser lesen, wenn ich wiederkomme«, sagte die Prinzessin. Sie nahm Abschied und machte sich auf den Weg in ihr eigenes Land, wo sie sofort den Weiher im Walde aufsuchte. »Froschkönig!«, rief sie. »Hier bin ich«, sagte der Froschkönig. Und wahrhaftig, da saß er auf einem großen Blatt. »Du willst mich sicher bitten, dass ich dich wieder schön mache«, sagte er. »Nein, nein«, rief die Prinzessin hastig. »Ich weiß ja, dass Sie das nicht tun. Ich komme wegen des blinden Prinzen in unserm Nachbarland. Können Sie ihn wieder sehend machen?« – »Worrrk«, sagte der Froschkönig. »Das könnte ich wohl, aber hast du daran gedacht, dass es dann für dich nicht gut aussieht? Er wird erschrecken, wenn er dich sieht. Er wird dich wegjagen.« – »Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte die Prinzessin, »aber das ist mir gleich.« – »Also gut«, sagte der Froschkönig. »Geh nur zu ihm zurück. Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Überglücklich eilte die Prinzessin zurück ins Nachbarland. Als sie zum Palast kam, stand ein Lakai auf der Türschwelle und rief: »Es ist ein Wunder geschehen. Der Prinz kann sehen!« – »Wo ist er?«, fragte die Prinzessin. »Im Garten«, sagte der Lakai. »Er schaut sich alle Menschen und Tiere und Blumen an, und gerade haben die Hofdamen wieder Krach miteinander, und er sieht ihnen zu.« – »Schön«, sagte die Prinzessin. Sie schlich die Wendeltreppe hinauf in ihre runde Kammer und machte sich daran, ihre Siebensachen in ein Küchenhandtuch zu schnüren. Als sie fertig war, wollte sie die Treppe wieder hinunterschleichen, um endgültig zu verschwinden. In diesem Augenblick erschien ein Kammerherr und sagte: »Der Prinz wünscht Sie sofort zu sehen.« – »Oh«, sagte die Prinzessin verwirrt. »Er ist in seinem Zimmer«, sagte der Kammerherr. »Er lässt Sie bitten, sofort zu kommen.« – »Sehr wohl«, sagte die Prinzessin. Es bestand keine Möglichkeit, sich heimlich davonzumachen, und darum nahm sie die Scheibengardine von ihrem kleinen Fenster und bedeckte Kopf und Gesicht damit. So trat sie in das Zimmer des Prinzen. »Kommst du endlich«, sagte er. »Warum hast du denn eine Gardine über dem Kopf?«
»Die trage ich immer«, sagte die Prinzessin. »Nimm den Lappen vom Kopf«, sagte er. »Nein«, sagte sie. »Ich befehle es«, sagte der Prinz. Da begriff sie, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Sie nahm die Gardine und zog sie herunter. Es blieb sehr still im Zimmer. Endlich hörte sie den Prinzen tief aufatmen, und er sagte: »So hatte ich es mir nicht vorgestellt.« – »Das dachte ich mir«, sagte die Prinzessin traurig. »Sieh mich an«, sagte er. Sie hob den Kopf und schlug die Augen auf. Sie sah, dass der Prinz sie strahlend anstarrte. »Du bist noch viel schöner, als ich vermutet hatte«, sagte er. »Mach dich nicht lustig über mich«, sagte die Prinzessin. »Ich hab ein Froschgesicht.« – »Glaubst du das wirklich?«, fragte der Prinz. »Schau in meinen Spiegel!« Sie guckte hinein. Zu ihrer Verwunderung sah sie ihr früheres Gesicht. Es war wieder genauso schön, nur viel freundlicher. Das hatte sie dem Froschkönig zu verdanken. Sie heirateten noch im Lauf der Woche und reisten zu ihren Eltern, die überglücklich waren. In den beiden Ländern wurde gefeiert, und am Abend gab es ein Konzert mit tausend Trompeten. Nur der Prinz und die Prinzessin waren nicht dabei. Sie lauschten einem schöneren Konzert. Hand in Hand saßen sie am Weiher und hörten den Fröschen zu.