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Die seltsame Jungfer Bock

 

© Rolf Rettich
© Rolf Rettich

Warum Bürgermeister immer auf alte Damen hören sollten! Eine fantastische Vorlesegeschichte

Von Annie M. G. Schmidt

Der Bürgermeister saß in seinem Arbeitszimmer. Er drückte auf den Klingelknopf und sagte zum Bürodiener: »Wie viel Personen sitzen denn noch im Wartezimmer?« – »Nur eine, Herr Bürgermeister«, sagte der Bürodiener. »Eine alte Dame. Allerdings, ob Dame …«, fügte er hinzu. »Wieso: ob Dame?«, fragte der Bürgermeister. »Sie sieht nicht so sehr nach Dame aus«, sagte der Bürodiener. Die Dame, die nicht so sehr nach Dame aussah, trat ein. Ihr graues Haar sah so aus, als ob gerade eine Taube darin gebrütet hätte. »Ich bin Jungfer Bock«, sagte sie. »Und man will mich zwingen, mein Haus zu verlassen.« – »Na, na«, sagte der Bürgermeister freundlich, »In dieser Stadt wird niemand aus dem Haus gesetzt.« – »Ach, wirklich?«, sagte Jungfer Bock. »Nein«, sagte der Bürgermeister.
»Ich wohne in der Stoofstraße«, sagte die alte Dame. »Ach so, das ist dann ein besonderer Fall«, sagte der Bürgermeister. »Diese ganze Straße wird abgerissen, weil da ein großes Hotel gebaut werden soll. Tja, daran ist nun nichts zu ändern. Das ist Gemeindepolitik.« – »Und wo soll ich wohnen?«, fragte Jungfer Bock. »Sie bekommen eine andere Wohnung zugewiesen«, sagte der Bürgermeister. »In einem modernen Hochhaus.« – »Ich will aber nicht in eine andere Gegend«, sagte Jungfer Bock energisch. »Ich wohne schon seit vierzig Jahren in der Stoofstraße.« – »Tja«, sagte der Bürgermeister. Er spürte plötzlich, wie müde er war. Dreizehn Menschen hatte er an diesem Morgen angehört, und alle hatten sie etwas von ihm gewollt. Er seufzte. »Sehen Sie, werte Jungfer Bock, es ist sehr unvernünftig von Ihnen, dass Sie nicht in eine moderne Etagenwohnung wollen.« – » Lieber würde ich in einem Mauseloch wohnen«, sagte die Dame. »Gut«, sagte der Bürgermeister. »Dann gehen Sie meinetwegen in ein Mauseloch. Guten Morgen.«
Es blieb still. Jungfer Bock kniff die Augen zusammen und sah den Bürgermeister lange an. Sie sieht wie eine Hexe aus, dachte der Bürgermeister. »Hören Sie mal«, sagte er, »das mit dem Mauseloch, das war natürlich nur ein Scherz …« Aber Jungfer Bock stand auf und ging zur Tür. Sie hatte ein Kleid an, das über und über mit Fledermäusen bedruckt war, und auf ihrem Rücken hing ein Spinngewebe. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Ich glaube, es ist besser, dass Sie ein Mauseloch suchen. Nicht für mich, sondern für sich selbst.« Damit zog sie die Tür hinter sich zu, und der Bürgermeister war allein.
»Puh«, sagte der Bürgermeister. »Ein sonderbares Geschöpf.« Er wandte sich um und wollte zu seinem Sessel zurückkehren. Aber der kurze Weg vom Fenster bis zum Sessel war so fürchterlich lang geworden. Der Bürgermeister konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er fiel nach vorn und kroch auf Händen und Füßen weiter. Händen? Es waren Pfötchen. Der arme Bürgermeister sah sich ratlos um, und sein Blick fiel auf den Spiegel: eine Maus! Er hatte sich in eine Maus verwandelt.
»Es war also doch eine Hexe«, sagte er. »Was soll ich jetzt nur anfangen?« Da ging die Tür auf, und seine Frau kam herein. »Hermann«, rief sie, »wo bist du denn?« – »Hier«, piepste Hermann. Die Frau Bürgermeister guckte auf den Boden. »Wrrr – grrr – jeh – Hilfe!«, schrie sie und stand im Handumdrehen auf dem Sessel: »Eine Maus!« Die Kinder kamen gerannt, ließen sich auf den Boden fallen und haschten nach der Maus, die mit klopfendem Herzen unter den Schrank flüchtete. »Ich bin euer Vater!«, rief er. »Holt die Falle«, sagte seine Frau. »Wir legen Käse hinein, dann haben wir sie morgen.« Die ganze Nacht saß der Bürgermeister unter dem Schrank. Vielleicht ist es besser, dachte er, wenn ich in die Falle gehe. Freiwillig. Sie werden sie aufheben und mir in die Augen sehen … Und wenn ich auch nicht sprechen kann, vielleicht erkennen sie mich doch. An meinem Verhalten. Der Bürgermeister ging in die Falle.
Am andern Morgen kam seine Tochter Tine, um nach der Falle zu sehen. »Sie sitzt drin«, rief sie. »Oh, was für ein Schätzchen! Was machen wir nun mit ihm?« – »Puh, was für ein Biest«, rief ihre Mutter. »Wir müssen sie ertränken. Wer traut sich, das Tier in der Gracht zu ertränken?« Zum Glück war niemand im Haus, der sich traute. »Da kommt der Briefträger«, sagte die Frau Bürgermeister. »Briefträger, wir haben eine Maus gefangen. Uns graut davor, sie zu ertränken. Würden Sie das für uns tun? Sie bekommen auch eine von den besten Zigarren meines Mannes.« – »Ich rauche nicht«, sagte der Briefträger. »Aber geben Sie mir die Falle.« – »Vielen Dank«, sagte die Frau Bürgermeister.
»Ertränken«, sagte der Briefträger unterwegs. »Nein, ich ertränke keine Tiere. Ich weiß etwas viel Lustigeres: Ich steck dich beim Pfarrer in den Briefkasten. Er behauptet immer, ich brächte ihm seine Post zu spät. Da sind wir schon, hier ist das Pfarrhaus.« Vor der Tür machte er die Falle auf und griff vorsichtig nach der Maus. »Untersteh dich, mich zu beißen«, sagte er. »Ich beiße keine Briefträger«, sagte der Bürgermeister. Und schon rutschte er durch den Briefschlitz. Weil es wirklich nur ein Schlitz war, fiel der Bürgermeister in den Flur. Er rannte so schnell er konnte an der Wand entlang, um ein Loch zu finden, in dem er sich verstecken konnte. Nirgends war ein Spalt, und so entdeckte ihn der Pfarrer. Er schrie nicht, denn er war ein bedachtsamer Mann; er holte die große rote Katze, faltete die Hände und wartete.
Wenn doch nur ein Loch in der Wand wäre …, dachte der Bürgermeister verzweifelt. Und gerade als die Katze sich zum Sprung bereit machte, sah er einen schmalen Spalt, durch den er sich hindurchwinden konnte. Er fiel in eine Vertiefung an der anderen Seite der Wand, wo zwei scharfe Äuglein ihn anstarrten. »Was soll denn das?«, fragte die graue Mäusin, die dort saß. »Verzeihung«, sagte der Bürgermeister, »Sie sind Frau Maus, nicht wahr?« – »Witwe Maus«, sagte sie. »Der Kater hier im Haus ist hinter mir her«, sagte der Bürgermeister. Die Witwe Maus wurde sofort freundlicher. »Der Rote«, seufzte sie. »Er war es, der meinen Mann im vorigen Jahr …« Sie stockte. »Ich verstehe«, sagte der Bürgermeister teilnahmsvoll. »Wohnen Sie hier?« – »Im Haus nebenan«, sagte die Maus. »Ich hab eine entzückende Wohnung. Kommen Sie nur mit, ich zeig sie Ihnen.« Der Bürgermeister folgte ihr durch einen dunklen Gang. »Hier ist es«, sagte sie schließlich. Der Bürgermeister sah sich um. Es war eine ziemlich große Höhle. »Hier sind wir dicht unterm Fußboden eines Wohnzimmers, das einem vornehmen Herrn gehört«, sagte die Witwe. »Er isst ausgezeichnet: jeden Tag Brot mit Schinken und Käse. Und der Fußboden ist so voll Ritzen, dass mir die Krumen oft direkt auf den Kopf fallen. Ssst – ich glaube, er kommt gerade nach Hause.« Wirklich waren schwere Schritte zu hören. Die Dielenbretter bogen sich. »Oh, horchen Sie, mein Herr hat Besuch«, sagte die Maus. Der Bürgermeister stellte sich auf den Platz, den sie ihm zeigte, und horchte. Er verstand genau, was der Herr sagte: »Jetzt trinken wir ein Bier und essen ein Stück Wurst.«
Der Bürgermeister war sehr hungrig. Ungeduldig begann er sich durch die Ritze zu arbeiten, um in die Stube zu kommen. »Oh, eine Maus«, sagte der vornehme Herr verwundert. »Und wie sie piepst«, sagte der Besucher. »Warte!« Er stand auf, ergriff seinen Stuhl mit beiden Händen und schlug damit nach dem Bürgermeister. Der Schlag traf, und die arme Maus lag totenstill. »Hopp!«, sagte der Mann, ergriff die tote Maus am Schwanz und schleuderte sie mit einem Schwung zum Fenster hinaus. Da lag der Bürgermeister nun in der Gosse. Aber tot war er nicht, nur bewusstlos. Ein dünnes Rinnsal Gossenwasser floss über ihn, und durch die Kühle kam er zu sich. »Ich hab nicht gewusst, dass ein Mauseleben so traurig ist«, sagte der Bürgermeister. »Traurig und noch viel nervenaufreibender als das Leben eines Bürgermeisters. Und jetzt rieche ich gebratenen Speck. Es kommt von oben. Und ich hab so einen Hunger; ich geh einfach diese Kellertreppe rauf, und es ist mir gleich, wo ich hinkomme.«
Er lief die Treppe hinauf und folgte dem Geruch bis in die kleine Küche. Die war so unordentlich, dass er sich bequem hinter einem Korb Möhren verstecken konnte. Hier bleibe ich vorläufig, dachte der Bürgermeister. Es lebe das Gerümpel! Was für eine herrliche Küche. Aber ich sehe zwei Füße hin und her gehen, Damenfüße. Er hörte eine Schranktür knarren. Da wurde ihm plötzlich eine Schüssel mit ein paar Brocken Speck vor die Nase gestellt. Lieber Himmel, sollte das für mich sein?, dachte der Bürgermeister. Gierig schlang er ein Stückchen Speck hinunter. Dem Bürgermeister wurde davon so schwindlig, dass er die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass er sich mit zwei Händen auf den Rand des Ausgusses stützte. Zwei richtigen, echten Hände.
»Wie nett von Ihnen, Herr Bürgermeister, dass Sie mich mal besuchen«, sagte die Dame, der die Füße gehörten. Der Bürgermeister fuhr herum, und da stand sie. Die Jungfer Bock. »Ist das nicht eine hübsche Wohnung?«, fragte sie. »Und ist es nicht eine nette Straße, in der ich wohne? Sehen Sie nur mal aus dem Fenster! Die Stoofstraße.« Er sah aus dem Fenster. Es war wirklich eine sehr nette Straße. »Ich – eh –, ich war eine Maus …«, sagte er. »Eine Maus?«, fragte Jungfer Bock verblüfft. »Sie sind der Bürgermeister, und Sie sind gekommen, um sich mein Häuschen anzusehen. Es wäre doch schlimm, wenn es abgerissen würde, nicht wahr?« Sie starrte ihn mit ihren scharfen Augen an, und der Bürgermeister fühlte sich so froh, dass er lachen musste. »Natürlich, Jungfer Bock«, sagte er. »Ich denke gar nicht daran, diese Häuser abreißen zu lassen. Sie können ruhig wohnen bleiben.« – »Das wäre also in Ordnung«, sagte sie vergnügt.