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Das Mädchen, das seinen Namen verloren hatte

 

© Rolf Rettich
© Rolf Rettich

Die Geschichte von einer geheimnisvollen Tür, einem traurigen Mädchen und einem neunmalklugen Hasen

Von Annie M. G. Schmidt

Jeden Sonntag, wenn Tom mit seinem Vater in die Kirche ging, wanderten sie an einer hohen Mauer entlang. In dieser Mauer war eine Tür. »Wohin führt die Tür?«, fragte Tom. »Aber, mein Junge«, sagte sein Vater, »hier ist doch gar keine Tür.«
Tom aber sah die Tür ganz deutlich, und eines Tages, als sein Vater mit dem Küster schwatzte, ließ Tom die Hand des Vaters los und ging hindurch.
Er tastete sich durch einen langen, dunklen Gang, bis er an eine weitere Tür kam. Als er sie öffnete, stand er in einem Zimmer. Am Tisch saß ein Mädchen. Ihr gegenüber saß ein großer Hase. Er schlug die Beine übereinander und rauchte eine Zigarette, die in einer langen Zigarettenspitze steckte. Sie spielten eine Partie Schach.
»Guten Morgen«, sagte Tom. »Guten Morgen«, sagte der Hase. »Nimm dir einen Stuhl und setz dich hin.« Tom setzte sich und sah das Mädchen an. Sie hatte traurige Augen, und Tom fragte: »Wie heißt du?« Das Mädchen fing an zu weinen. Sie stand schluchzend auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Du Nichtsnutz«, sagte der Hase. »Warum musst du gerade das fragen?« – »Ich, eh – ich konnte doch nicht wissen, dass sie weinen würde«, sagte Tom. »Ich hab sie doch bloß nach ihrem Namen gefragt.«
»Das ist es ja gerade«, sagte der Hase. »Sie hat ihren Namen verloren. Und wenn sie ihn nicht wiederfindet, muss sie hier bleiben und Schach spielen bis in alle Ewigkeit. Wir warten darauf, dass sie angerufen wird.« Und der Hase wies mit seiner Zigarettenspitze auf das Telefon in der Ecke.
»Und wer soll sie anrufen?«, fragte Tom. »Das wissen wir nicht«, sagte der Hase. »Wir hoffen, dass eines Tages das Telefon klingeln und jemand sie mit ihrem Namen anreden wird. Wenn das geschieht, ist sie erlöst.« – »Ich will ihr gerne helfen«, stammelte Tom. »Soll ich vielleicht …?«
»Du hast sie zum Weinen gebracht«, unterbrach der Hase ihn mürrisch. »Jetzt weint sie fünfunddreißig Stunden lang. Nichtsnutz! Verschwinde!«
Tom verließ schweigend das Zimmer, ging durch den langen Gang, machte die Tür auf und stand draußen im strahlenden Sonnenschein. Sein Vater schwatzte immer noch mit dem Küster, er hatte Tom gar nicht vermisst, und sie gingen zusammen in die Kirche.
Aber Tom konnte das Mädchen nicht vergessen. Ich darf nicht mehr zu ihr gehen, dachte er, doch ich muss versuchen, hinter ihren Namen zu kommen. Und dann muss ich sie anrufen. Und muss sie dabei mit ihrem Namen anreden. Aber wie soll ich diesen Namen jemals finden? Vielleicht heißt sie Mariechen oder Gertraud oder Ramona … Woher soll ich das je erfahren? Nachdenklich ging er durch den Garten hinter dem Haus und entdeckte eine Kletterrose an der Scheune, eine wunderschöne rote Rose. Ein kleines Holztäfelchen steckte daneben, und darauf stand: Carmelita. Das war der Name der Rose. Vielleicht heißt sie Carmelita, dachte Tom. Sie sah wie eine Rose aus. Ich rufe sie an und sage Carmelita zu ihr. Er ging in den Flur, wo das Telefon stand. Und dort neben dem Kleiderständer auf einem Schemel saß der Hase. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und rauchte eine Zigarette, die in einer langen Zigarettenspitze steckte. Der Hase sah Tom nachdenklich an und sagte: »Die Nummer ist sieben Mal die Null.« – »Oh«, sagte Tom verblüfft und fing an zu drehen. Als er bei der dritten Null war, sagte der Hase beiläufig: »Aber Carmelita heißt sie nicht.« – »Oh«, sagte Tom noch einmal und legte den Hörer auf die Gabel. Er stützte den Kopf in die Hände und seufzte. »Und wie heißt sie dann?«, fragte er. Aber als er aufschaute, war der Hase verschwunden.

Traurig verließ er das Haus und irrte durch die Stadt. Von einer Straße zur anderen, bis er wieder an die Kirche kam. Dahinter lag ein vergessener Fried­hof, wo der Efeu über Kreuze und Gedenksteine wucherte. Tom schlenderte an vielen alten Gräbern vorbei und entdeckte einen Stein, auf dem stand: Judith. Elf Jahre.
Vielleicht heißt sie Judith, dachte Tom. Sie ist so traurig und so bleich wie die Steine auf dem Friedhof. Sie muss Judith heißen. Er wollte zum Tor hinaus und nach Hause laufen, um sofort anzurufen, da sah er auf einem der Grabsteine den Hasen sitzen. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß er da und sah ihn an: »Judith heißt sie nicht«, sagte der Hase unwirsch.
Tom ging nach Hause, und in der Nacht konnte er nicht schlafen. Er musste immerfort Mädchennamen aufsagen: Amanda und Rosalinde und Janneken und Majolein und Elisabeth. Und Esther und Godelieve und Mientje. Der Mond schien durchs Fenster, und Tom konnte es nicht mehr aushalten im Bett und ging hinunter ins Wohnzimmer. Es war dunkel, aber der Mond schien auf den kleinen alten Nussbaumschreibtisch seiner Mutter, und es kam Tom so vor, als ob er zwei Hasenohren dahinter verschwinden sähe. Er zog eine der Schubladen auf, und da lag das Notizbuch seiner Mutter. Es war sehr alt, von ganz früher, und er blätterte darin. Dort stand: Halb zwölf Pfarrer zum Kaffeetrinken. Und eine Seite weiter: Gärtner bezahlen – 2,25 Gulden. Seine Mutter hatte da offenbar allerhand aufgeschrieben, was sie nicht vergessen wollte. Das war lange her. Tom wollte das Büchlein schon weglegen, als sein Blick auf eine hastig hingekritzelte Zeile fiel: Tom und Tintje Sirup holen lassen.

Und plötzlich sah Tom es ganz deutlich vor sich: Er war noch klein, und er war mit einem Nachbarskind, das Tintje hieß, zum Einkaufen geschickt worden. Er wusste noch, dass sie zusammen durch die Gassen gegangen waren. Er wusste noch, dass sie zusammen einen kleinen Kramladen betreten hatten, und eine weißhaarige, runzelige Frau hatte hinter dem Ladentisch gestanden … Weiter wusste er nichts mehr. Er war nur sehr glücklich und ging in den Flur, wo das Telefon stand. Er machte kein Licht, denn der Mond schien hell genug. Sieben Mal drehte er die Ziffer Null. »Hallo«, sagte er leise. »Bist du da, Tintje?«
Und eine Stimme sagte durch das Telefon: »Ja, ich bin da, Tom.« – »Soll ich zu dir kommen?«, fragte Tom.
»Ich bin schon hier«, sagte die Stimme. »Guck dich nur um.« Tom blickte auf, und auf dem Schemel saß das Mädchen, das seinen Namen verloren hatte, das Nachbarskind Tintje.
Sie lachte und gab ihm einen Kuss. »Danke«, sagte sie. »Weißt du noch? Die alte Frau in dem Kramladen? Das war eine Hexe, und sie hat mich eingeschlossen und mir meinen Namen abgenommen. Und du hast mir meinen Namen wiedergegeben.«

Sie gingen zusammen hinaus. Der Mond verblasste, und der östliche Himmel wurde blutrot. Die Sonne ging auf, und die Menschen kamen aus den Häusern. »Ach, da ist ja das Mädchen«, riefen sie, »das Mädchen, das so lange weg gewesen ist! Wie heißt du doch gleich, Mädchen?« – »Tintje«, sagte sie. Sie legte Tom den Arm um die Schultern, und sie gingen zusammen an der Mauer bei der Kirche entlang! Sie sahen die Tür, und vor der Tür stand der Hase. Er nahm die Zigarettenspitze aus dem Mund, winkte ihnen freundlich zu und verschwand durch die Tür. Tom wollte ihm nach, aber Tintje rief: »Nicht, Tom! Da ist doch überhaupt keine Tür.« Sie hatte recht. Da war keine Tür.