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Ella auf Klassenfahrt

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 1: Aufbruch mit Chaos
Ella und ihre Klassenkameraden wollen in den Süden fliegen. Sie haben die Reise bei einem Wettbewerb gewonnen, weil sie das lebendigste Klassenfoto eingeschickt haben. Doch in den Geschichten um Ella läuft selten etwas wie geplant …
»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte Roman der Ella-Reihe des Finnen Timo Parvela. Das Buch erscheint auf Deutsch am 27. Juli im Carl Hanser Verlag. Wir drucken die Geschichte schon in den nächsten zehn Wochen vorab in der KinderZEIT

Ich heiße Ella. Ich bin in der zweiten Klasse. Meine Klasse ist sehr nett, und unser Lehrer ist auch sehr nett. Nur neulich auf dem Flughafen, als wir mit der ganzen Klasse wegfliegen wollten, war er ein bisschen nervös. Daran war wahrscheinlich Pekka schuld. Er verschwand nämlich genau in dem Moment, als wir losrennen wollten, um unseren Flug nicht zu verpassen. Zum Glück konnten wir alle sehen, wohin er verschwand: Pekka fuhr auf einem Laufband durch eine Luke mit schwarzen Fransen. Kurz vorher waren unsere Koffer auf demselben Laufband durch dieselbe Luke gefahren. Und gerade als sein Koffer verschwunden war, fiel Pekka sein Reisepass ein. Wir anderen hielten unsere Pässe natürlich in der Hand. Wir reisten schließlich ins Ausland. Pekka ist unser Klassendussel. »Das Laufband ist nicht für Kinder da, sondern ausschließlich für Gepäck«, sagte eine Flughafentante zu unserem Lehrer. »Nun, dann wissen wir jetzt wenigstens, was der Unterschied zwischen dem Laufband und mir ist«, seufzte unser Lehrer. »Wie bitte?«, fragte die Tante. »Im Unterschied zu dem Laufband bin ich ausschließlich für Kinder da. Und eins davon, ein gewisser Pekka, ist gerade auf dem Laufband durch die Luke verschwunden«, erklärte der Lehrer. »Wie ich schon sagte: Das Laufband ist ausschließlich für Gepäck«, sagte die Flughafentante streng. »Und wohin führt es?«, mischte sich die Frau des Lehrers ins Gespräch. Sie reiste auch mit uns ins Ausland, damit der Lehrer eine Unterstützung hatte. »In die Gepäckhalle. Dort werden die Gepäckstücke sortiert und auf die richtigen Flugzeuge verteilt«, erklärte die Tante. »Und wie wär’s, wenn wir den Vorfall einfach vergessen würden?«, fragte der Lehrer. »Wie viel müsste ich bezahlen, damit sie Pekka in ein Flugzeug nach Indien sortieren?« Das fanden wir alle seltsam, weil wir ja wussten, dass wir keine Reise nach Indien machten. Wir reisten in ein ganz anderes Land. Jetzt in der Aufregung konnte sich nur keiner erinnern, wie es hieß. Auf jeden Fall war es irgendwo weit weg. »Liebling, bitte!«, sagte die Frau des Lehrers.

Die Flughafentante gab dem Lehrer keine Antwort. Stattdessen telefonierte sie. Kurz darauf kam ein Flughafenonkel in Uniform. Die Uniform war sehr schön, und der Onkel machte ein sehr ernstes Gesicht. »Ich höre, wir haben ein Problem«, sagte er. »Machen Sie sich nichts draus, wir haben auch eins«, antwortete der Lehrer. »Die Herrschaften möchten ein Kind mit Namen Pekka als Gepäckstück nach Indien aufgeben«, sagte die Flughafentante. »Ausgeschlossen«, sagte der Onkel. »Gepäck ist Gepäck, und Menschen sind Menschen.« – »Im Unterschied zum Flughafenpersonal«, sagte der Lehrer. »Wie meinen Sie das?«, fragte der Onkel misstrauisch. »Hören Sie, das ist alles ein Missverständnis«, sagte die Frau des Lehrers und schob sich zwischen ihren Mann und den Onkel. Wir fanden es richtig schade, dass wir nie erfuhren, um was für ein Missverständnis es sich handelte. Wir konnten nämlich leider nicht hören, was die Frau des Lehrers außerdem noch sagte, weil der Onkel zur selben Zeit auf seiner Trillerpfeife pfiff. Er pfiff, weil der Lehrer inzwischen auch auf dem Laufband fuhr, das nur für Gepäck da war. »Halt!«, rief der Onkel, aber da war es schon zu spät. Unser Lehrer verschwand in der Luke mit den schwarzen Fransen. »Sind denn jetzt alle verrückt geworden?«, rief die Flughafentante. Inzwischen fuhr nämlich auch der Flughafenonkel mit der schönen Uniform auf dem Laufband, auf dem erst Pekka und dann der Lehrer gefahren waren. Tiina, Hanna, Timo, Mika, unser Klassenrambo und ich warteten gespannt, wann wir fahren durften.
Darum waren wir ein bisschen enttäuscht, als das Laufband plötzlich stehen blieb. »Ich hab’s gewusst«, sagte Mika weinerlich. »Die Karusselle bleiben auch immer genau dann stehen, wenn
ich dran bin.« Mika ist eine alte Heulsuse. Dann war es eine Zeit lang ganz still. Und auf einmal kam erst Pekka, dann der Lehrer und zuletzt der Flughafenonkel aus der Luke mit den Fransen ge­krabbelt. Pekka hielt seinen Reisepass in der Hand, und wir klatschten begeistert Beifall. Ein bisschen mussten wir aber auch lachen. Auf dem Rücken des Lehrers klebte nämlich ein Adressaufkleber.
Er musste von einem Koffer abgegangen sein,
und darauf stand: Kalkutta, Indien. Wir rannten so schnell wir konnten, denn jetzt hatten wir es wirklich eilig.
Während der Lehrer und Pekka auf dem Laufband herumgefahren waren, war unser Flug schon ein paar Mal aufgerufen worden. Und beim letzten Aufruf hatte die Aufruftante gesagt, dass der Flugkapitän jetzt keine Lust mehr habe, auf die Klasse 2 A zu warten. Die Klasse 2 A, das waren wir. Wenn der Verantwortliche für besagte Klasse lieber Gepäck statt Lehrer spielen wolle, solle es dem Kapitän recht sein, sagte die Stimme jetzt, wo wir zum Flugsteig rannten. Das Flugzeug könne sehr gut auch ohne uns fliegen, und man ­müsse sich schon wundern, dass ein Lehrer seine Klasse so wenig im Griff habe. Schüler, sagte die Aufruftante, sollten ihrem Lehrer nicht auf der Nase herumtanzen und auf dem Laufband schon gar nicht. Ihre eigenen Kinder, sagte die Tante, wüssten jedenfalls, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen habe. Roosa und Miia, so hießen ihre Kinder. Roosa spiele Geige, und Miia könne ausgezeichnet Schlittschuh laufen.
Als die Aufruftante fertig war, klatschten alle Flughafentanten und -onkel Beifall. Schade, dass wir es so eilig hatten, sonst hätten wir sie gefragt, ob sie uns Beifall klatschten oder der Aufruftante. »Welcher Flugsteig?«, rief die Frau des Lehrers ganz außer Puste. »Sechs«, antwortete der Lehrer und wedelte mit einem Zettel in seiner Hand. Als wir dort ankamen, wunderten wir uns, dass wir ganz allein waren. »Endspurt!«, rief der Lehrer und stürmte in den Gang, der zum Flugzeug führte. Der Gang war schrecklich lang. Wir überlegten schon, ob er vielleicht gleich bis ins Ausland ging. Aber dann hatte er doch ein Ende, und wir standen vor der Flugzeugtür. Schade war nur, dass sie schon geschlossen war. Dann heulten die Motoren auf, und wir hielten uns die Ohren zu. Das Flugzeug war eindeutig dabei, ohne uns abzufliegen. »Die versuchen abzuhauen!«, rief der Lehrer seiner Frau zu. »Wie bitte?«, rief die Frau des Lehrers zurück. »Das wird ihnen nicht gelingen!«, rief der Lehrer und begann, mit den Fäusten gegen die Flugzeugtür zu trommeln. Aber es kam niemand, um die Tür zu öffnen.

Da zog der Lehrer einen Schuh aus, damit er lauter trommeln konnte, und gerade als er sich duckte, legte das Flugzeug den Rückwärtsgang ein. Das merkte der Lehrer erst gar nicht. Aber als er mit dem Schuh gegen die Tür schlagen wollte, war die Tür verschwunden. Das Flugzeug war inzwischen so weit rückwärts gefahren, dass der Lehrer genau gegen das Fenster des Cockpits schlug.
Cockpit heißt der Platz, wo der Flugkapitän und sein Co-Pilot sitzen, das hatte uns der Lehrer erklärt. Jetzt stolperte er und wäre bestimmt auf die Rollbahn gefallen, wenn er sich nicht im letzten Moment mit der freien Hand am Scheiben­wischer des Flugzeugs festgehalten hätte. Die Beine schlang er links und rechts um die Flugzeugnase. Für sein Alter fanden wir das ganz schön gelenkig. Wir standen am Loch am Ende des langen Ganges und schauten zu, wie das Flugzeug rückwärts fuhr und der Lehrer vorne am Scheibenwischer zappelte. »Lasst mich rein, oder ich schmeiß das Flugzeug um!«, schrie der Lehrer so laut, dass wir ihn trotz des Motorenlärms hören konnten. »Das ist unfair. Der Lehrer fliegt ohne uns«, heulte Mika, während das Flugzeug immer weiter rückwärts fuhr, obwohl der Lehrer mit dem Schuh gegen das Fenster trommelte. »Er hat den Urlaub aber auch am nötigsten«, sagte Hanna. »Glaubt ihr, dass er es so den ganzen Flug über schafft?«, fragte Tiina. »Und wie bringen sie ihm da sein Essen?«, fragte ich.

Er hatte uns nämlich erzählt, dass es unterwegs was zu essen gibt. »Vielleicht gibt’s ja sowieso was Kaltes«, vermutete Timo, der immer alles weiß. »Ich wusste gar nicht, dass Flugzeuge Scheiben­wischer haben«, wunderte sich Pekka, der nie was weiß. Genau da hielt das Flugzeug an. Der Lehrer hielt sich immer noch mit einer Hand am Scheibenwischer fest und trommelte mit dem Schuh in der anderen gegen das Fenster. Wir konnten genau den Flugkapitän und den Co-Piloten hinter der Scheibe sehen. Sie schauten den Lehrer wütend an und wedelten mit den Händen, dass er loslassen solle, aber er schüttelte nur den Kopf. Wir fanden ihn echt toll. Unser Lehrer ließ sich so leicht von niemandem unterkriegen. Er ließ erst los, als der Co-Pilot durch ein Seitenfensterchen mit Scheibenputzmittel spritzte. Da rutschte er erst langsam und dann immer schneller an der Nase des Flugzeuges entlang. Zum Schluss plumpste er mit dem Po auf die Erde. Zum Glück war es ein kleines Flugzeug. Der Schuh, mit dem er getrommelt hatte, blieb an dem Scheibenwischer hängen. Als wir dann alle im Flugzeug saßen, waren wir schrecklich stolz auf unseren Lehrer. Er war ein Held. Er hatte ein richtiges Flugzeug für uns angehalten. Der Flugkapitän war zurückgefahren und hatte uns einsteigen lassen. Sogar den Lehrer, nachdem seine Frau geschworen hatte, dass er eigentlich ganz harmlos und kein bisschen gefährlich sei. »Na schön«, hatte der Flugkapitän gesagt. »Unser Lehrer sagte immer, auch Hartnäckigkeit muss belohnt werden – wenn einer schon kein Talent hat.« Ein bisschen hatten wir auch Mitleid mit dem Lehrer, vor allem weil sie ihm seinen Schuh nicht wieder­gegeben hatten. Den behielten sie auf dem Flughafen als Beweismaterial, falls er später eine Anzeige wegen Gefährdung des Flugverkehrs bekam. Außerdem hatte er sich bei seinem Sturz am Po verletzt. Jedenfalls konnte er nicht mehr sitzen, und beim Start musste er auf allen vieren neben zwei Hunden im Mittelgang stehen. Wir wussten nicht, ob unser Lehrer Hunde mochte. Aber vor allem hofften wir, dass die Hunde unseren Lehrer mochten. »Wo wir hinfliegen, braucht man zum Glück keine Schuhe«, seufzte der Lehrer, als das Flugzeug endlich in der Luft war. »Wenn ich das hier alles ertrage, dann bei dem Gedanken, dass wir bald in samtweichem Sand liegen werden. Föhnwinde streicheln zart unsere sonnengebräunte Haut. Wir lauschen der Stille der Wüste und dem Heulen der Kojoten im Mondschein.« Er hörte sich an, als redete er mit den Hunden. Wir fanden, dass unser Lehrer komisch aussah, wie er da auf allen vieren stand und sein Gesicht ins Fell der beiden Hunde kuschelte. Sein Po stand in die Höhe wie bei einer Ente. »Meine Damen und Herren, mein Name ist Oksanen, ich bin Ihr Käpt’n. Auch im Namen meiner Crew heiße ich Sie herzlich willkommen auf dem Flug nach Kittilä«, verkündete der Flugkapitän durch den Lautsprecher. »Ich wusste gar nicht, dass Kittilä im Ausland ist«, wunderte sich Pekka. Unser Lehrer schwieg. Aber es sah aus, als hätte er plötzlich Tränen in den Augen. Wahrscheinlich reagierte er allergisch auf die Hunde.