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Ella auf Klassenfahrt (2)

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 2: Lappland statt Ausland
Ella und ihre Klassenkameraden wollen in den Süden reisen. Schon beim Abflug ging einiges schief. Nun sitzen die Kinder nicht nur im falschen Flugzeug, ihr Lehrer landet obendrein im
Hundekäfig.
»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte Roman der »Ella«-Reihe des Finnen Timo Parvela,
übersetzt von Anu und Nina Stohner. Das Buch erscheint am 27. Juli im Carl Hanser Verlag. Wir drucken die Geschichte in den nächsten Wochen vorab in der KinderZEIT

Wir mussten alle schrecklich lachen, als wir hör­ten, dass der Lehrer die Nummer falsch abgelesen hatte. Wir waren zum Flugsteig 6 gerannt. Wir hätten aber zum Flugsteig 9 rennen müssen. Und jetzt waren wir auf dem Weg nach Lappland statt ins Ausland. Der Einzige, der darüber überhaupt nicht lachen konnte, war der Lehrer. Er war ganz hinten im Flugzeug. Dort saß er mit den Hunden in einer Extrakabine, die vorne Gitterstäbe hatte. Kurz davor hatte er einen Streit mit der Stewardess gehabt. »Kehren Sie sofort um!«, hatte der Lehrer gesagt. »Ein Flugzeug kann nicht umkehren«, hatte die Stewardess geantwortet. »Dann fliegen Sie eben rückwärts!«, hatte der Lehrer gesagt. »Sagen Sie, was wollen Sie denn eigentlich?«, hatte die Stewardess gefragt. »Ich will gar nichts. Ich will nur nicht nach Kittilä!« – »Dieser Flug geht aber nach Kittilä.« – »Ich verlange, dass Sie sofort umkehren, oder …« – »Oder was?«, hatte die Stewardess gefragt. »Oder ich lasse Sie nachsitzen«, hatte der Lehrer gedroht. »Ich lasse Sie nachsitzen und schreibe dem Flughafen einen blauen Brief, wenn Sie nicht sofort dafür sorgen, dass das Flugzeug ins Ausland fliegt.« Wir hatten gar nicht gewusst, dass Stewardessen so stark sind. Jedenfalls hatte die Stewardess unseren Lehrer gepackt und zu der Extrakabine getragen. Die Hunde waren freiwillig hinterhergetrottet. Die Frau des Lehrers hatte von alldem nichts bemerkt. Sie hatte die ganze Zeit das Heft über die Sicherheitsmaßnahmen im Flugzeug gelesen. In der kleinen Extrakabine redete der Lehrer mit den Hunden. »Na, auch auf dem Weg ins Ausland?«, hörten wir ihn fragen. Uns war es eigentlich egal, ob wir jetzt ins Ausland flogen oder sonst wohin. Hauptsache, wir flogen überhaupt.

Die Reise hatten wir gewonnen. Bei einem Preisausschreiben. Unser Klas­sen­fo­to war zum Foto des Jahres gewählt worden. Und das hatten wir Pekka zu verdanken. Ohne das Wespennest, das er an dem Tag gefunden hatte, wäre das Foto nämlich ein ganz normales Klassenfoto geworden. Komisch eigentlich, dass die Wespen so spät im Herbst noch so munter waren. Wahrscheinlich kam es davon, dass Pekka das Nest auf die Heizung gelegt hatte. »Die Jury beeindruckt die lebhafte Stimmung und die ungewöhnliche Aufstellung der Schüler, die sich sehr positiv von der Steifheit des gewohnten Klassenfotos abhebt«, stand auf der Urkunde. Und außerdem hatten wir die Reise gewonnen. Bitte schön!«, sagte die Stewardess und servierte Brötchen und Limonade. »Die spricht aber gut Finnisch dafür, dass sie aus dem Ausland ist«, sagte Pekka, der wieder gar nichts kapiert hatte. Wir anderen sagten nichts. Wir hatten den Mund voll. Alle außer unserem Lehrer. Dem tätschelte die Stewardess nur durch die Gitter den Kopf. Die Hunde bekamen Hundewürstchen, und wir können uns getäuscht haben, aber gleich darauf knurrte jemand, und es hörte sich an wie der Lehrer. Nach der Landung mussten wir eine Weile auf den Lehrer warten. Auch auf dem Flughafen von Kittilä gab es ein Laufband, und es fuhren viele Koffer vorbei. Dann kam endlich die Extrakabine mit den Hunden und unserem Lehrer. Nach dem Lehrer und den Hunden kam leider nichts mehr. Unser Gepäck war nämlich ins Ausland geflogen. »War ein Extraplatz, zwar ein bisschen teurer, das war’s aber wert«, sagte der Lehrer lächelnd zu dem Flughafenonkel, der ihn aus dem Käfig ließ. »Schönen Dank für die Gesellschaft!«, sagte der Lehrer zu den Hunden und strich seine zerknitterten Kleider glatt. »Und was machen wir jetzt?«, fragte die Frau des Lehrers. Sie sah ein bisschen besorgt aus. Der Flughafen von Kittilä war nicht groß. Eigentlich bestand er nur aus einem Raum mit vielen Fenstern. Aus den Fenstern konnte man sehen, dass Lappland trotz des kleinen Flughafens ein großes Land war. Es lag unheimlich viel Schnee, und in der Ferne sah man weiße Berge. »Fjälls«, korrigierte uns Timo. »In Lappland heißen die Berge Fjälls.« – »Im Ausland ist alles so anders«, staunte Pekka. Wir drückten uns die Nasen an der Fensterscheibe platt und sahen zu, wie alle Reisenden in Busse und Taxis stiegen und davonfuhren. Draußen war es so schön, dass es uns überhaupt nicht mehr leidtat, dass wir ins falsche Flugzeug gestiegen waren. »Wir fliegen mit dem nächsten Flugzeug zurück«, sagte der Lehrer und ging zum Ticketschalter. »Zwanzig Flugtickets zurück in die Zivilisation, bitte! Bei Ihnen kann man doch mit Dirham bezahlen?«, fragte der Lehrer. Er hatte nämlich nur ausländisches Geld. Das hatte er schon vor dem Flug gewechselt. »Darf ich hier endlich meinen Pass vorzeigen?«, fragte Pekka, der dem Lehrer gefolgt war. »Den Rest können Sie behalten«, sagte der Lehrer und legte dem Onkel am Ticketschalter ein dickes Bündel Geldscheine auf die Theke. »Wie sagt man auf Ausländisch: Ich möchte einen Stempel in meinen Pass?«, fragte Pekka. »So leicht werden Sie mich nicht los«, sagte der Lehrer, als der Schalteronkel ihm das Bündel Scheine zurückschob. »Und mich auch nicht!«, sagte Pekka, als der Schalteronkel ihm seinen Pass zurückgab. »Wenn wir nicht fliegen können, dann laufen wir zurück«, beschloss der Lehrer, als der Schalteronkel vor Lachen und Kopfschütteln nichts mehr sagen konnte. »Liebling, vergiss nicht, du hast nur noch einen Schuh«, sagte die Frau des Lehrers. Den anderen hatte er ja nicht wiederbekommen. »Wie wär’s, wenn wir die ganze Bande dem Weihnachtsmann verkaufen? Der wohnt hier oben und braucht immer wieder neue Wichtel. Glaubst du, dass wir für das Geld zwei Flugtickets bekommen würden?«, sagte der Lehrer ganz leise zu seiner Frau. Wir sollten es nicht hören, aber wir hörten es trotzdem. Wir hören alles. »Jetzt beruhige dich doch. Erst mal bringe ich hier alles in Ordnung«, sagte die Frau des Lehrers und drückte ihn aufs Laufband. Wir setzten uns alle neben ihn hin und sahen zu, wie die Frau des Lehrers in einem Büro am anderen Ende des Flughafens verschwand. »Ich habe einen Traum«, begann der Lehrer auf einmal. »Ich träume davon, die Wüste bei Vollmond zu sehen. Ich sitze am Lagerfeuer und lausche der Stille. Der Mond leuchtet, die Kojoten heulen, und der Wind trägt Gerüche aus fernen Ländern heran.« Wir fanden alle, dass der Traum des Lehrers unheimlich romantisch war. Sogar die Jungs hatten auf einmal ein Glitzern in den Augen. Schade nur, dass sein Traum auf dieser Reise nicht wahr werden würde. Natürlich hatten wir selbst auch Träume. »Ich träu­me davon, im Meer zu schwimmen«, sagte Hanna. »Ich träume davon, mit den Einheimischen in zwanzig verschiedenen Sprachen zu sprechen«, sagte Timo. »Ich träume davon, auf einem Kamel zu reiten«, sagte Tiina. »Ich träume von Sonne und warmem Sand«, sagte ich. »Ich träume davon, dass ich wieder zurück nach Hause darf«, sagte Mika weinerlich. »Ich träume nicht so oft«, sagte Pekka. »Ich träume nie und geb jedem traumhaft eins auf die Nase, der was anderes behauptet!«, drohte der Rambo. Wir waren gespannt, was weiter passieren würde, als wir die Frau des Lehrers aus dem Büro kommen sahen. »Gute und schlechte Nachrichten«, sagte sie. »Die guten zuerst«, verlangte der Lehrer. »Ich konnte uns Flugtickets zurück nach Hause besorgen.« – »Jabadabadu!«, sagte der Lehrer. »O nein!«, sagten wir. »Aber der Flug geht erst in einer Woche«, fuhr die Frau des Lehrers fort. »O nein!«, sagte der Lehrer. »Jabadabadu!«, sagten wir. »Es muss einen anderen Weg geben«, sagte der Lehrer. »Und der wäre?«, fragte seine Frau. »Keine Ahnung«, sagte der Lehrer. »Rufst du an, ob wir kommen können, oder ich?«, fragte seine Frau. »Wir verstecken uns im Frachtraum des nächsten Flugzeugs und fliegen als blinde Passagiere zurück«, schlug der Lehrer vor. »Wer von uns beiden anruft, hab ich gefragt«, sagte seine Frau und hob dabei die Augenbrauen. »Ich«, seufzte der Lehrer. Wir warteten, und Timo meinte, ans Warten sollten wir uns besser schon mal gewöhnen. Wenn der Lehrer nämlich keine Unterkunft für uns besorgen konnte, mussten wir es vielleicht die ganze Woche auf dem Flughafen aushalten. Zum Glück war der Schalteronkel von vorhin sehr nett. Als er sich von seinem Lachanfall erholt hatte, schaltete er das Laufband ein. Wir durften alle in eine Fransenluke hinein- und aus einer anderen wieder herausfahren. »Na?«, fragte die Frau des Lehrers, als er zu Ende telefoniert hatte. Der Lehrer nickte stumm. Ein bisschen später stellten wir uns draußen ordentlich in einer Reihe auf. Die Sonne schien, und es war schön warm, obwohl hoher Schnee lag. Das war ein Glück, denn wir waren alle ziemlich leicht gekleidet. Beim Anziehen am Morgen hatten wir ja nicht wissen können, dass wir am Nachmittag in Lappland sein würden. Es war Mai, und im Mai ist dort noch Winter, und dort, wo wir hinfliegen wollten, sollte schon Sommer sein. Trotzdem froren wir nicht, außer vielleicht der Lehrer an dem Fuß, an dem er keinen Schuh anhatte. Über den hatte er eine Plastiktüte gezogen, aber die wärmte bestimmt nicht gut. Wir überlegten, wen der Lehrer wohl angerufen hatte. Auf den warteten wir nämlich. »Wahrscheinlich kommt der Staatspräsident«, sagte Timo. »Bei einer Katastrophe kommt der Staatspräsident persönlich, oder er schickt wenigstens ein Flugzeug, das die Menschen retten soll.«

Timo kennt Wörter wie »Katastrophe«, er ist unser Klassengenie. »Und dem Lehrer schickt er einen neuen Schuh«, setzte Hanna hinzu. Wir fanden es toll, dass der Staatspräsident sich persönlich um uns und den Schuh des Lehrers kümmern wollte. Das war sehr großzügig von unserem Präsidenten. »Und woher soll der Lehrer den Präsidenten eines ausländischen Landes kennen?«, fragte Pekka, aber auf die dumme Frage bekam er keine Antwort, denn auf einmal hörten wir ein Brummen. Erst noch ganz fern, dann kam es immer näher, bis es sich anhörte, als würde sich ein riesiger Hummelschwarm zum Angriff bereitmachen. Aber dann kam das Geräusch gar nicht aus der Luft. Es näherte sich von hinter den Fjälls. Vielleicht hatte der Staatspräsident beschlossen, statt des Flugzeugs tausend Mopeds zu schicken. Tausend Mopeds, die einen riesigen Schlitten mit lauter Essen und warmen Kleidern zogen. Und mit einem Schuh für den Lehrer natürlich. Aber es waren auch keine Mopeds. Wir staunten nicht schlecht, als irgendwann der erste rote Motorschlitten zwischen den Fjälls auftauchte. Dem ersten folgte ein zweiter und ein dritter und ein vierter. Zwanzig rote Motorschlitten waren es am Ende, und hinter jedem hing ein kleiner Anhänger. Den vordersten Schlitten fuhr ein Mann mit einer komischen Mütze. Sie hatte vier Zipfel, die nach allen Seiten abstanden. Der Mann hatte einen langen weißen Bart und trug eine bunte Jacke. Im Vergleich zu ihm waren die anderen Motorschlittenfahrer seltsam klein. »Zwerge«, flüsterte Hanna. »Schnee­witt­chen und die neunzehn Zwerge«, flüsterte ich zurück. »Schneewittchen hat keinen Bart«, brummte Timo, der auch alles über Märchen weiß. »Wichtel«, flüsterte Hanna. »Der Weihnachtsmann mit neunzehn seiner Helferwichtel«, flüsterte ich zurück. »Und warum hat er ganz andere Sachen an als sonst?«, fragte Tiina, die immer alles infrage stellen muss. »Das sind seine Kleider für jeden Tag«, sagte Timo. »Es ist schließlich nicht Weihnachten.« – »Das gilt nicht«, schluchzte Mika. »Da kommt der Weihnachtsmann, und ich hab noch nicht meinen Wunschzettel geschrieben.« – »Von mir kriegt er eins auf die Knolle, wenn er mir nichts bringt«, verkündete der Rambo. »Kennt der Lehrer außer dem ausländischen Präsidenten auch noch den Weihnachtsmann?«, wunderte sich Pekka. Dann hielt der erste Schlitten vor dem Lehrer an, und die neunzehn anderen stoppten in einer Reihe dahinter.

Wir sahen mit leuchtenden Augen zu, wie der Weihnachtsmann in seinen Kleidern für jeden Tag aus seinem Motorschlitten stieg. Er kam uns dünner vor als an Weihnachten. Timo erklärte, das liege daran, dass das Geschenkeverteilen so eine anstrengende Arbeit sei. Da brauche er das ganze Jahr, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Wichtel konnten wir uns leider nicht so genau anschauen, weil sie in ihren Motorschlitten sitzen blieben und Helme trugen. »Das ist ja eine schöne Über­ra­schung!«, rief der Weihnachtsmann und umarmte die Frau des Lehrers. »Die schönste seit Langem!«, antwortete die. Dann schaute der Weihnachtsmann unseren Lehrer an, und unser Lehrer schaute zurück. Sie schauten einander lange in die Augen und sagten kein Wort. »Er überlegt, ob der Lehrer brav gewesen ist«, flüsterte Timo. »Es steht in seinem Buch, aber darin liest er erst im November, vor der großen Reise mit den Geschenken.« Wir hielten den Atem an und hofften, dass der Lehrer wenigstens so brav gewesen war, dass der Weihnachtsmann ihm einen neuen Schuh brachte. Da schlang der Weihnachtsmann plötzlich die Arme um unseren Lehrer und drückte ihn lange und fest. »Willkommen zu Hause, mein Sohn!«, sagte der Weihnachtsmann. »Danke, Paps«, sagte der Lehrer. »Aha«, sagte Pekka, als hätte ausgerechnet er verstanden, was vor sich ging. Wir anderen verstanden es nämlich nicht. »Wie nennt man den Sohn des Weihnachtsmanns?«, fragte Hanna. »Wichtel?«, schlug ich vor. Der Lehrer war viel zu groß für einen Wichtel. Von der Größe hätte er höchstens ein Elf sein können. Wir wussten nur alle, dass Elfen schön sind. Wir hatten schließlich den Herrn der Ringe gesehen. »Wahrscheinlich nennt man den Sohn des Weihnachtsmanns einfach Weihnachtsmann junior«, vermutete Timo. So musste es sein. Schließlich ist Timo unser Klassengenie. Außerdem fanden wir es toll, dass unser Lehrer der Sohn des Weihnachtsmanns war. Dann mussten wir die Schneeanzüge anziehen, die uns die Wichtel mitgebracht hatten, und in die Anhänger steigen. »Ich hab’s gewusst«, sagte Mika. »Immer krieg ich was anzuziehen vom Weihnachtsmann. Immer nur so blöde weiche Päckchen.« Zu allem Unglück war sein Anzug auch noch so groß, dass die Ärmel fast doppelt so lang waren wie seine Arme. Der Weg zum Haus des Weihnachtsmanns war nicht weit. Der Schnee wirbelte hinter den Schlitten auf und glitzerte wie Sternenstaub. Alles war unfassbar weiß und sauber. Der Himmel war strahlend blau, und wir mussten jedes Mal lachen, wenn die Schlitten über einen Schneehügel hüpften.