Von Timo Parvela
Folge 3: Beim Weihnachtsmann
Ella und ihre Klassenkameraden wollen in den Süden reisen. Gelandet sind sie in Lappland, beim Vater des Lehres. Ist er etwa der Weihnachtsmann?
Vor dem Haus des Weihnachtsmanns hing ein buntes Schild, darauf stand: Mattis Klein-Lappland. Es war ein großes, rot gestrichenes Haus, und ein Stück entfernt standen Blockhütten am Ufer eines zugefrorenen Sees. Am gegenüberliegenden Seeufer konnte man ein kleines Dorf erkennen. »Ich dachte, der Weihnachtsmann wohnt am Korvatunturi (Ohrenberg)«, wunderte sich Hanna. »An Weihnachten wohnt er dort«, wusste Timo. »Das hier ist wahrscheinlich sein Sommerferienhaus.« – »Und die Blockhütten?«, fragte Mika. »Hat er bauen lassen, weil seine Wichtel auch mal Sommerferien brauchen«, antwortete Timo. »Aber jetzt ist noch kein Sommer«, sagte ich. »Der Weihnachtsmann hat 364 Tage im Jahr Sommerferien«, erklärte Timo. »Wenn wir hier also nicht am Korvatunturi sind, wie heißt der Ort dann?«, fragte ich. Timo zeigte auf ein kleines Schild neben dem Briefkasten. Darauf stand: Nenäjärvi (Nasensee). »Und wer soll Matti sein?«, fragte Tiina. »Das ist der Deckname des Weihnachtsmanns. Überlegt doch mal, was passieren würde, wenn alle Kinder wüssten, dass der Weihnachtsmann in seinen Ferien hier am Nenäjärvi wohnt. Alle Kinder, die zufällig in die Gegend kämen, würden ihn doch garantiert um Geschenke außer der Reihe bitten«, erklärte Timo. Ohrenfjäll und Nasensee, das passt natürlich gut. Wir nickten. Bestimmt hatte Timo recht. Je mehr wir darüber nachdachten, desto sicherer waren wir uns: Wenn wir wüssten, wo der Weihnachtsmann seine Ferien verbringt, und wir kämen zufällig in die Nähe – klar würden wir ihn auch um Weihnachtsgeschenke außer der Reihe bitten. Wir würden ihm unsere Wunschliste vorbeibringen und ihn bitten, uns die Geschenke schon ein bisschen früher zu bringen. Vielleicht sogar schon im Mai… Natürlich nur, wenn wir wirklich rein zufällig aus irgendeinem Grund in seine Nähe kämen.
Zum Beispiel mit unserem Lehrer, der sich als Weihnachtsmann junior herausstellte… Pekka schaffte es, sich als Erster anzustellen. Wir anderen stellten uns in einer Schlange hinter ihn. Der Weihnachtsmann sah uns freundlich an und tätschelte Pekkas Kopf. »Spricht der Weihnachtsmann eigentlich Finnisch?«, fragte Pekka über die Schulter nach hinten. »Ich denke schon«, sagte der Weihnachtsmann auf Finnisch, aber er sah ein bisschen verwundert aus. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du hier bist«, sagte er dann zu seinem Sohn, der gleichzeitig unser Lehrer war. »Ich auch nicht«, sagte der Lehrer. »Wir müssen den Kindern noch warme Unterwäsche besorgen«, beschloss der Weihnachtsmann. »Auch Schals und Schneestiefel.« – »Ich hab’s gewusst«, schluchzte Mika. »Wieder nur weiche Päckchen.« – »Ich hätte lieber einen Motorschlitten«, sagte Pekka. »Und ich eine neue Barbie«, sagte Hanna. »Ich wünsche mir einen CD-Spieler«, sagte Tiina. »Und ich wünsche mir, dass es auf der ganzen Welt keine Kriege mehr gibt«, sagte Timo, der nicht nur ein Genie, sondern auch ein besonders selbstloser Mensch ist. »Ich versprech dir eins auf die Mütze, wenn ich keine Boxhandschuhe kriege«, sagte der Rambo. »So, und jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich mir wünschen wollte, weil ihr alle so lang gebraucht habt«, sagte Mika. Dann verließ er seinen Platz in der Schlange und fing an zu weinen. »Verstehst du, wovon die reden?«, fragte der Weihnachtsmann seinen Sohn. »Ich verstehe genauso viel wie immer, also so gut wie gar nichts«, sagte der Lehrer. »In jedem Fall: herzlich willkommen!«, sagte der Weihnachtsmann. Wir zwinkerten dem Weihnachtsmann zu. Wir hatten verstanden. Er tat so, als würde er nichts verstehen, weil er das bei anderen Kindern, die zufällig vorbeischauten, auch so machen musste. Aber er konnte auf uns zählen. Wir würden anderen Kindern nichts verraten. Dann sagte der Weihnachtsmann, wir dürften uns Schlafplätze in den Blockhütten aussuchen. Auch der Lehrer und seine Frau durften sich eine Hütte aussuchen. Jetzt nahm der Weihnachtsmann die beiden an den Händen und führte sie in das große rote Haus. Die Wichtel starteten wieder ihre Motorschlitten und fuhren in Richtung des Dorfes am anderen Ufer. »Tschüss! Bis nächste Weihnachten!«, riefen wir, aber die Wichtel hörten uns wahrscheinlich nicht, weil ihre Schlitten so laut brummten. »Glaubt ihr, dass der Weihnachtsmann unsere Geschenke heute Nacht verteilt?«, fragte Hanna hoffnungsvoll. »Kann gut sein. Hört mal, wenn man den Sohn des Weihnachtsmanns Weihnachtsmann junior nennt – wie nennt man wohl die Frau vom Weihnachtsmann junior?«, überlegte ich. »Weihnachtsbraut«, wusste Timo.«
Der Weihnachtsmann junior und seine Weihnachtsbraut – wie romantisch!«, seufzte Hanna. Die Frau des Weihnachtsmanns hatte uns ein köstliches Abendessen zubereitet. Wir aßen so viel Braten, Kartoffelbrei und Preiselbeermarmelade, dass uns fast die Bäuche platzten. Aber am meisten aß der Lehrer. Er hatte ja im Flugzeug nur Hundewürstchen bekommen. »Möchtest du noch eine sechste Portion?«, fragte die Frau des Weihnachtsmanns den Lehrer. »Ich kann nicht mehr«, ächzte er. »Wie willst du jemals groß und stark werden, wenn du nicht isst?«, sagte der Weihnachtsmann. »Ich bin schon seit Jahren ausgewachsen«, sagte der Lehrer. Da mussten wir alle lachen. Das sah nämlich jeder, dass der Lehrer noch lange kein ausgewachsener Weihnachtsmann war. Sein Vater hatte einen viel längeren Bart und ein viel schrumpeligeres Gesicht als er. »Wusstet ihr, dass euer Lehrer, als er klein war, ein richtiger Vielfraß war?«, fragte uns die Frau des Weihnachtsmanns. »Mama, bitte fang jetzt nicht davon an!«, sagte der Lehrer. »Der Junge war so rund, dass wir ihn morgens in die Schule rollen konnten«, erzählte der Weihnachtsmann. »Glaubt ihm kein Wort!«, sagte der Lehrer. »Im Sommer haben wir ihn als Boje vermietet. Zu der Zeit wohnten wir noch im Süden am Meer. Das waren Zeiten! Der Junge schwamm fünf Seemeilen vom Ufer entfernt auf den Wellen. Eine Kuhglocke an seinem Hals warnte die Schiffe vor einem Riff. Morgens fuhr ich auf Skiern zu ihm und brachte ihm eine Brotzeit und was zum Lesen. Er war schon damals ein richtiger Bücherwurm«, erzählte der Weihnachtsmann. »Aber im Sommer kann man doch gar nicht Ski laufen«, wunderte sich Hanna. »Stimmt genau. Das macht das Ganze umso merkwürdiger, findet ihr nicht?«, sagte der Weihnachtsmann. »Paps, es reicht jetzt«, sagte der Lehrer.
Er schob seinen Teller weg und sah aus, als wäre er beleidigt. Wir hätten gern mehr über die Kindheit des Lehrers gehört, aber der Weihnachtsmann erzählte leider nichts mehr. Es lag wahrscheinlich daran, dass der Lehrer sich die Finger in die Ohren steckte und sein Lieblingslied von dem Mann sang, der Steine in einem Eimer aufs Dach ziehen will und nachher kriegt er sie alle auf den Kopf. Das Lied ist schrecklich lang, und wir kennen es trotzdem auswendig, weil wir es schon so oft gehört haben. Wir nennen es das Pechvogellied, und er singt es immer, wenn er nichts mehr hören will. Nach dem Essen saßen wir still auf einer langen Bank an der Stubenwand. »Das sind aber mal brave und gut erzogene Kinder«, sagte der Weihnachtsmann. Er selbst saß in seinem Schaukelstuhl beim Kaminfeuer. Wir zwinkerten einander zu. Das sagte er bestimmt, weil er gleich aufstehen und die Geschenke verteilen wollte. »Wenn du nur wüsstest!«, seufzte der Lehrer. »Aber natürlich sind sie das«, sagte seine Frau. »Wo habt ihr eigentlich euren eigenen Nachwuchs gelassen?«, fragte die Frau des Weihnachtsmanns den Lehrer und seine Frau, während sie uns aus einer großen Schüssel Kekse anbot. Unser Lehrer und seine Frau haben nämlich ein kleines Kind. »Meine Eltern kümmern sich, solange wir im Aus… äh… Urlaub sind«, erklärte die Frau des Lehrers. Dann waren alle still, bis nach einer ganzen Weile der Weihnachtsmann sagte: »So, dann wird wohl es langsam Zeit…« Er erhob sich aus dem Schaukelstuhl, stocherte mit dem Schürhaken im Kamin und ging dann durch die Tür am anderen Ende der Stube. Wir warteten. Bald würde er im roten Mantel wieder in der Tür auftauchen und fragen, ob wir denn auch wirklich alle brave Kinder waren. Wir summten leise Weihnachtslieder, um in die richtige Stimmung zu kommen. »So, dann wird es wohl wirklich langsam Zeit …«, sagte die Frau des Weihnachtsmanns und folgte ihm durch die Tür. Wir kamen der Sache immer näher. Und es musste wirklich viele Geschenke geben, wenn die Frau des Weihnachtsmanns ihm tragen helfen musste. Wir warteten gespannt auf das Klopfen an der Tür. Draußen heulte der Wind, und die Wände des alten Holzhauses knackten und knarzten. »Ich möchte nur mal wissen, warum die so still sind«, wunderte sich der Lehrer leise. »Ihr seid bestimmt müde«, sagte seine Frau. »Also Schlafenszeit!«, beschloss der Lehrer. »Morgen ist ein neuer Tag«, sagte seine Frau. »Wenn auch bestimmt kein besserer als heute«, murmelte der Lehrer. Wir machten keinen Mucks. Und dann hörten wir den Weihnachtsmann schnarchen.
Nächste Woche erfahrt Ihr, warum manche Leute Langlaufen schrecklich finden – besonders der Lehrer!
»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman von Timo Parvela. Aus dem Finnischen übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner. Das Buch erscheint am 27. Juli im Carl Hanser Verlag. Wir drucken die Geschichte in 10 Folgen vorab in der KinderZEIT.