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Ella auf Klassenfahrt (5)

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 5: Auf der Flucht
Der Skiunterricht endet für Ella und ihre Mitschüler mit kalten Füßen und einem verzweifelten Lehrer. Doch wer vor dem Weihnachtsmann fliehen will, muss Einsatz zeigen …

Wir waren ganz schön verschwitzt, bis wir die Skier wieder den Hang hinaufgeschleppt hatten. Aber am meisten schwitzte der Lehrer. Seine Skier waren bis fast in die Mitte des Sees geschlittert, und er musste sich durch den Tiefschnee kämpfen, um sie zurückzuholen. Langlaufen war ein anstrengender Sport. Der Lehrer war schon erschöpft, obwohl wir noch nicht mal richtig angefangen hatten. »Regel Nummer eins«, schnaufte er: »Auf Hügeln und an Hängen niemals die Skier in den Schnee legen. Sie können nämlich runterrutschen.« Danach erklärte der Lehrer, wie man seine Skischuhe an den Skiern festmacht. Es hörte sich ganz einfach an: Man musste nur den Schuh auf die Bindung stellen und drücken, bis man ein Klicken hörte. Während der Lehrer seine Schuhe an seinen Skiern festmachte, machten wir unsere Schuhe an unseren Skiern fest. »Fertig«, sagte der Lehrer. Da sahen wir, dass der Lehrer seine Füße in den Schuhen hatte, und wunderten uns. Wir hatten unsere Schuhe nämlich ausgezogen und sie ohne Füße an den Skiern festgemacht. Dass die Füße in den Schuhen drin sein sollten, hatte der Lehrer nicht gesagt. »Das muss alles ein Albtraum sein«, stöhnte der Lehrer und schlug die Hände vor die Augen. Das hätte er nicht tun sollen, denn dazu musste er die Skistöcke loslassen und rutschte rückwärts den Hang hinunter. Wir waren überrascht, aber trotzdem waren wir schneller als beim ersten Mal: Wir ließen unsere Skier fast zur selben Zeit den Hang hinuntersausen. Timos Skier und Skischuhe gewannen. Tiinas wurden Zweite und Mikas Dritte. Der Lehrer stürzte auf halber Strecke und wurde Letzter. Er war kaum zu sehen, so tief steckte er in einem Schneehaufen. Zum Glück schauten oben die Skispitzen heraus, sodass die Frau des Lehrers wusste, wo sie graben musste. Danach gingen wir schnell nach drinnen, um uns aufzuwärmen. Unsere Füße waren auf einmal eiskalt. Als später der Weihnachtsmann zurückkam, wunderte er sich nicht schlecht, dass er uns im Haus fand, wo er unsere Skier und Skischuhe gerade noch auf dem See gesehen hatte. »Habt ihr denn schon genug?«, fragte er den Lehrer. Aber der antwortete nicht. Er legte mehr Holz in den Kamin und schwieg. Es waren flache Holzstücke. »Die guten Skier!«, seufzte der Weihnachtsmann und schüttelte traurig den Kopf.
Nach dem Mittagessen ging der Weihnachtsmann Mittagsschlaf halten und der Lehrer wahrscheinlich seinen Tunnel graben. Jetzt konnte ich den Jungs endlich erklären, was hier eigentlich vor sich ging. »Der Lehrer hat uns absichtlich hierher gebracht. Er hat uns dem Weihnachtsmann als Wichtel verkauft. Wir bleiben klein, aber wir werden tausend Jahre alt«, erklärte ich. »Und uns allen wächst ein Bart«, fügte Hanna hinzu. »Klasse«, sagte Timo. »Find ich okay«, sagte der Rambo. »Mir wächst bestimmt keiner«, schmollte Mika. »Mit Schnurrbart und allem?«, fragte Pekka. »Ihr habt nicht verstanden«, sagte Hanna. »Uns Mädchen wächst auch ein Bart.« – »Klasse«, sagte Timo. »Find ich okay«, sagte der Rambo. »Eure werden bestimmt länger als meiner«, schmollte Mika. »Und ihr kriegt auch welche mit Schnurrbart?«, fragte Pekka. »Kapiert ihr nicht? Wir bleiben hier und dürfen nie wieder nach Hause, außer vielleicht an Weihnachten, um in die Fenster zu schauen«, versuchte ich den Jungs zu erklären. »Klasse«, sagte Timo. »Find ich okay«, sagte der Rambo. »Ich bin bestimmt zu klein, um in die Fenster zu schauen«, schmollte Mika. »Ob der Weihnachtsmann uns wohl dafür bezahlt?«, fragte Pekka. »Ich geb’s auf«, sagte ich. »Das war’s dann wohl«, seufzte Hanna. »Warten wir also, bis sie uns die Wichtelsachen anziehen und uns fröhliche Wichtellieder singen lassen.« – »Wichtellieder?«, sagte Timo erschrocken. »Singen?«, sagte Mika weinerlich. »Ich geb jedem eins auf die Nase, der mich fröhliche Lieder singen lassen will«, sagte der Rambo. Es war klar, dass wir abhauen mussten, wenn wir Mädchen keine Bärte kriegen und die Jungs nicht fröh­liche Lieder singen wollten.
»Moment mal!«, sagte Timo. »Ich versteh eins nicht: Warum will der Lehrer mit uns fliehen, wenn er uns erst absichtlich hierher gebracht hat?« – »Weil er das Langlaufen hasst«, wusste Hanna. »Stimmt«, sagte Timo, der alles weiß. »Wahrscheinlich hat ihn der Weihnachtsmann erpresst«, fuhr er fort. »Er hat gedroht, dass er ihm und seiner Frau und seinem Kind keine Geschenke bringt, wenn er ihm keine Wichtel liefert.« Genau! So machte alles Sinn. Unser Lehrer war so ein guter und mitfühlender Mensch, dass er bereit war, mit uns zu fliehen, obwohl er und seine Familie vielleicht nie wieder Weihnachtsgeschenke bekommen würden. Wir fanden den Gedanken schrecklich, dass der Weihnachtsmann zu seinem eigenen Kind derart gemein sein konnte. »Wie nennt man eigentlich das Enkelkind des Weihnachtsmanns?«, fragte Hanna irgendwann. »Christkind«, wusste Timo.

Der Weihnachtsmann saß schweigend in seinem Schaukelstuhl und starrte ins Kaminfeuer. Sein Sohn, unser Lehrer, saß neben ihm auf einem Hocker und schwieg auch. Wir saßen um den Tisch, und die Frau des Weihnachtsmanns zeigte uns Fotos aus der Zeit, als unser Lehrer noch klein war. »Als Baby hast du ausgesehen wie ein rosa Schweinchen«, sagte die Frau des Lehrers. Der Lehrer stocherte mit dem Schürhaken im Feuer und sagte nichts. »Die guten Skier!«, seufzte der Weihnachtsmann. »Verbrennt der die guten Skier …« Wir sahen, wie der Lehrer einen Augenblick zögerte. »Jawohl«, sagte er dann mit fester Stimme. »Die guten Skier!«, seufzte der Weihnachtsmann wieder. »Ins Feuer geschmissen …« – »So gut waren sie nicht«, sagte der Lehrer. »Es waren Olympiaskier. Ich hab sie dir zu Weihnachten geschenkt«, sagte der Weihnachtsmann. »Und ich hab sie nie gemocht«, sagte der Lehrer. Wir wunderten uns, dass der Weihnachtsmann seinem Sohn etwas geschenkt hatte, was dem nicht gefiel. Uns hatte der Weihnachtsmann immer Geschenke gebracht, die wir mochten. Außer Mika natürlich, der immer nur weiche Päckchen bekam. »Aber du hast doch das Langlaufen so geliebt«, sagte der Weihnachtsmann. »Ich hab langlaufen immer gehasst«, sagte der Lehrer. »Du hast mir nur nie zugehört.« – »Unsinn!«, sagte der Weihnachtsmann. »Jeder liebt das Langlaufen. Für morgen kannst du meine Skier haben. Während ihr lauft, fahr ich dir neue kaufen.« – »Paps, ich will nicht langlaufen«, sagte der Lehrer. Seine Stimme hörte sich jetzt fast wütend an. »Ich werde langsam alt«, sagte der Weihnachtsmann ernst. »Wenn du in meine Fußstapfen treten und hier weitermachen willst, dann musst du langlaufen, da beißt keine Maus keinen Faden ab.« Der Lehrer schaute mit flehendem Blick zu seiner Frau, und sie nickte ihm aufmunternd zu. »Ich möchte aber nicht in deine Fußstapfen treten«, sagte der Lehrer. »Ihr wolltet hierher ziehen, ich nicht. Ich bin Lehrer. Ich mag meine Arbeit, und ich denke nicht daran, jemals etwas anderes zu machen.« – »So, so. Sieht ganz so aus, als wäre morgen ausgezeichnetes Langlaufwetter«, sagte der Weihnachtsmann, als hätte er dem Lehrer gar nicht zugehört. Dann stand er ächzend auf, streckte sich und ging schlafen. Der Lehrer blieb sitzen und stocherte im Feuer. Er sah auf einmal geschrumpft aus. Wenn man ihn anschaute, sah er seinem Vater erstaunlich ähnlich …Und da kapierten wir endlich: So wie wir Wichtel werden sollten, so sollte der Lehrer Weihnachtsmann werden. Der Lehrer hatte uns doch nicht nach Lappland gebracht, um uns dem Weihnachtsmann zu verkaufen. Der Weihnachtsmann selbst hatte uns irgendwie hierher gelockt wie eine Spinne in ihr Netz. Es ging um einen Generationswechsel, wie Timo sagte, der solche Wörter kennt. Der alte Weihnachtsmann, seine Frau und die alten Wichtel wollten sich zur Ruhe setzen, und der neue Weihnachtsmann mit seiner neuen Frau und neuen Wichteln sollten ihre Arbeit übernehmen. Der Lehrer wollte das nur nicht, und wir auch nicht. Und das hieß: Wir mussten dem Lehrer helfen. Und uns selbst natürlich auch.
Wir Mädchen lagen in unseren Betten und hatten Mitleid mit dem Lehrer. Er hatte gesagt, dass er Lehrer bleiben wollte. Aber was, wenn er sich tief drinnen trotzdem langsam, aber sicher in den neuen Weihnachtsmann verwandelte? Natürlich hatten die beiden Berufe etwas gemeinsam: Man musste Kinder mögen. Aber das war es dann auch schon. Sonst arbeitete der eine bei Tag und der andere am Abend und bei Nacht. Der eine blieb meistens am selben Fleck, und der andere war in der ganzen Welt unterwegs. Da war es schwer, wenn man sich für eins von beiden entscheiden musste. Unser Lehrer tat uns richtig leid.
Am Morgen klopfte jemand schon vor Sonnenaufgang an die Tür unserer Hütte. Es war der Lehrer. Er wollte, dass wir uns anzogen und schnell nach draußen kamen. Kurz darauf standen wir im Schnee und blinzelten mit schläfrigen Augen in die Runde. Der Lehrer hatte unsere Skier vom See geholt und sagte, wir sollten sie schnell unterschnallen. Wir wunderten uns natürlich. Am Abend hatte er noch selbst gesagt, dass er langlaufen hasste. Wir schauten uns an und zuckten die Achseln, während er im Schuppen verschwand. Als er wieder herauskam, hatten wir unsere Skier angeschnallt, und diesmal war alles gut gegangen. Unsere Füße waren in den Schuhen, wie es sich gehörte. Der Lehrer schob ein Moped. »Liebling, was ist das?«, fragte seine Frau und schaute das rostige Ding mit sorgenvoller Miene an. »Mein altes Moped. Ich hab’s vom Geld von meinem ersten Ferienjob bezahlt«, erzählte der Lehrer stolz. Wir versuchten zu raten, was der Sohn des Weihnachtsmanns wohl für einen Ferienjob gehabt haben könnte. Wir hatten noch keine Antwort gefunden, als der Lehrer auch noch ein dickes Seil aus dem Schuppen brachte. »Liebling, was hast du vor?«, fragte seine Frau mit noch sorgenvollerer Miene. »Abhauen. Wir fliehen«, sagte der Lehrer und befestigte ein Ende des Seils am Gepäckträger des Mopeds. Wir atmeten erleichtert auf. Der Lehrer war eindeutig noch unser Lehrer und kein angehender Weihnachtsmann. »Ist das nicht gefährlich?«, fragte seine Frau, während der Lehrer das Seil hinter dem Moped im Schnee auslegte. »Nicht so gefährlich wie hierbleiben«, sagte der Lehrer. Dann wandte er sich an uns und sagte: »Also dann, haltet euch gut an dem Seil fest!« Durch den Wald über dem See drangen schon die ersten Sonnenstrahlen, als wir uns in einer langen Schlange hinter dem Moped aufstellten und einer nach dem andern das Seil ergriffen. Die Frau des Lehrers saß auf dem Gepäckträger hinter dem Lehrer.

Zuerst passierte gar nichts. Nur das Seil straffte sich, und das Moped fuhr auf der Stelle und bespritzte uns von oben bis unten mit Schnee. Aber dann, gerade als der Weihnachtsmann vor die Tür trat, gab es einen Ruck im Seil, und es ging los. Als wir am Weihnachtsmann vorbeisausten, winkte ihm der Lehrer siegessicher zu, aber das hätte er lieber nicht tun sollen. Pekka verstand das nämlich so, dass er auch winken sollte. Er winkte mit beiden Händen, und dazu musste er natürlich das Seil loslassen. Und als er das Seil losließ, blieb er natürlich stehen. Und alle, die hinter ihm kamen, fuhren auf ihn drauf. Am Ende lagen sie alle miteinander auf einem großen Haufen im Schnee. Nur der Rambo, Timo, ich, Hanna, Tiina und Mika hingen noch am Seil, als der Lehrer auf die Straße einbog. Als wir zurückschauten, sahen wir, wie der Weihnachtsmann sich am Kopf kratzte, während seine Frau den andern aus dem Schnee half.

Auf der Straße fuhr das Moped richtig schnell. Es hatte jetzt natürlich auch weniger zu ziehen. Auf beiden Seiten gab es hohe Schneewälle. Wenn was schiefging, würden wir wenigstens weich landen. Dann ging es auf einmal steil bergab, und wir merkten, dass wir schneller wurden als das Moped. Der Lehrer gab Gas wie wild, aber das nutzte nichts. Wir holten ihn langsam, aber sicher ein. Wir waren schon so schnell, dass uns die Augen tränten und keiner mehr was sehen konnte. Daran lag es wahrscheinlich auch, dass Mika, der als Letzter am Seil hing, den Buckel nicht sah und drüberfuhr. Wir anderen sahen nur seinen Schneeanzug durch die Luft segeln, als er im hohen Bogen über den Schneewall neben der Straße flog. »Ich hab’s gewusst!«, hörten wir Mika schreien, bevor er irgendwo hinter dem Wall im Tiefschnee landete. »Fliegen um die Zeit noch Kraniche?«, rief die Frau des Lehrers. »Ich meine, ich hätte einen fliegen sehen.« Wir waren nur noch fünf am Seil, und das Moped wurde immer schneller. Wir aber auch. Und hinter der nächsten Kurve stand ein Rentier. Es war erst genauso überrascht wie wir, als es uns kommen sah. Dann senkte es den Kopf. »Pass auf, es greift an!«, schrie die Frau des Lehrers. »Ich bin gut im Ausweichen!«, schrie der Lehrer zurück. Und das war er wirklich. Er kurvte sauber um das Rentier herum. Nur Hanna und Tiina schafften es leider nicht. Sie blieben am Geweih des Rentiers hängen. Das sah ziemlich komisch aus, fanden wir andern, aber wir hatten leider keine Zeit, darüber zu lachen. Nur der Rambo, Timo und ich hingen jetzt noch an dem Seil, und auf einmal tat die Frau des Lehrers etwas, womit wir nicht gerechnet hatten: Sie löste das Seil vom Gepäckträger. Für eine Weile fuhren wir noch hinter dem Moped her. Aber dann machte die Straße eine Kurve, und wir fuhren geradeaus weiter, über den Schneewall und dann immer bergauf. Wir waren so schnell, dass wir es bis auf die Spitze des Fjälls schafften. Kurz vor dem Gipfel kam uns ein Skifahrer entgegen, der verwirrt aussah, als wir an ihm vorübersausten. »Das ist die falsche Richtung!«, rief er. Wir blieben lieber oben stehen. Von dort aus konnten wir den Lehrer, seine Frau und das Moped gut sehen. Erst dachten wir, die Frau des Lehrers hätte uns abgehängt, damit sie schneller abhauen konnten. Aber dann sahen wir, dass wir ihr unrecht getan hatten. Sie packte nämlich die Eierwärmermütze des Lehrers und zog sie ihm über die Augen. Ein kurzes Stück fuhr er sogar noch geradeaus, aber dann lenkte er immer weiter nach links, bis die Fahrt im Schneewall neben der Straße endete. In den bohrte sich das Moped so tief, dass hinten nur ein Loch im Schnee übrig blieb. Von unserem Lehrer und seiner Frau schauten oben aus dem Schneewall noch die Köpfe heraus. So fanden der Weihnachtsmann und seine Frau die beiden, als sie mit dem Motorschlitten gefahren kamen. Sie waren uns nämlich gefolgt. Es dauerte eine Weile, bis der Lehrer und seine Frau aus dem Schnee ausgegraben waren, und der Weihnachtsmann und seine Frau mussten schrecklich lachen.

Nächste Woche erfahrt Ihr, was Ella und die anderen Kinder im Wichtelunterricht lernen

»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman von Timo Parvela. Aus dem Finnischen übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner, illustriert wurde er von Sabine Wilharm. Das Buch erscheint am 27. Juli im Carl Hanser Verlag