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Ella auf Klassenfahrt (7)

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 7: Schlittenfahrt und Tunnelbau
Ella und ihre Klasse wollten eine Reise in den Süden machen, landen aber im verschneiten Lappland. Dort nehmen sie die Eltern des Lehrers auf. Für die Kinder ist schnell klar: Der Vater ihres Lehrers ist der Weihnachtsmann. Und ihr Lehrer soll offenbar der neue Weihnachtsmann werden und in Lappland
bleiben – mit Ella und den anderen Kindern als Wichtel. Ihr Lehrer scheint das so wenig zu wollen wie
seine Schüler. Während die Kinder in der Wichtelschule schnitzen lernen und Briefe mit Hilferufen schreiben, schmiedet ihr Lehrer immer neue Fluchtpläne. Ob Rentiere helfen können?
Erst dachten wir, der Wecker klingelt. »Ausschalten!«, rief Hanna. Das Klingeln hörte gar nicht mehr auf. Im Gegenteil, es wurde immer lauter. Wenn das ein Wecker sein sollte, musste es einer sein, in dem wir drinsaßen. Aber wir saßen natürlich nicht in einem Wecker. Wir lagen ganz normal in der Mädchenhütte in unseren Betten. Es war Morgen, und draußen klingelte jemand oder etwas so laut, dass die Wände zitterten. Also standen wir auf und rannten nach draußen. Draußen standen Rentiere. Es waren um die zwanzig, und sie waren verschieden groß, und jedes sah anders aus. Die einen hatten ein großes Geweih, andere hatten gar keins, aber alle waren vor einen Schlitten gespannt. Als wir uns richtig angezogen hatten und zum zweiten Mal aus der Hütte gerannt kamen, war auch der Lehrer da. Er sprach gerade mit einem Rentier. Es war dasselbe Rentier, das wir auf unserem Mopedausflug in der Kurve gesehen hatten. Dasselbe, aus dessen Geweih der Weihnachtsmann und seine Frau Tiina und Hanna befreit hatten. Mit genau dem Rentier sprach der Lehrer und zeigte aufgeregt in Richtung Straße. Wir wunderten uns, was er dem Rentier alles zu sagen hatte. Und wir wunderten uns noch mehr, als er dem Rentier mit einem Bündel Geldscheine vor der Nase herumfuchtelte. Es war dasselbe Bündel, das wir schon am Flughafen gesehen hatten, und wir erinnerten uns, dass es ausländische Geldscheine waren, Dirham oder so. Vielleicht wollte sie das Rentier deshalb nicht haben. Und der Mann, der jetzt hinter dem Rentier vorkam, wollte sie scheinbar auch nicht. Timo begriff natürlich als Erster, dass der Lehrer sich die ganze Zeit nicht mit dem Rentier, sondern mit dem Mann unterhalten hatte. Der hatte sich nur auf der anderen Seite des Rentiers gebückt und das Geschirr des Schlittens festgemacht. Das war ziemlich komisch, fanden wir. Aber noch komischer fanden wir, dass das Rentier ganz ruhig das Bündel Geldscheine fraß, während der Lehrer immer weiter auf den Mann dahinter einredete. »Liebling«, sagte die Frau des Lehrers, die inzwischen auch herausgekommen war, »du planst doch wohl nicht wieder irgendwelche Dummheiten?« – »Natürlich nicht. Man wird sich ja wohl noch mit netten Leuten unterhalten dürfen«, verteidigte sich der Lehrer und tätschelte dem Rentier den Rücken. »Die Rentiere würden es sowieso nicht bis zu uns nach Hause schaffen«, sagte die Frau des Lehrers. »Ganz abgesehen davon, dass im Süden kaum noch ein Fitzelchen Schnee liegt.« – »Da magst du recht haben«, seufzte der Lehrer traurig.

Dann tätschelte er wieder das Rentier und sagte: »Du darfst das Geld trotzdem behalten.« – »Liebling, du siehst müde aus«, sagte die Frau des Lehrers zärtlich. Und da merkten wir es auch. Er sah schrecklich müde aus. Müde und schmutzig. Jetzt nickte er und leerte seine Taschen aus. Sie waren voller Sand. Wir verstanden. Der Lehrer hatte die ganze Nacht an seinem Tunnel gegraben. Und die Erde war ja noch gefroren. Gefrorene Erde mit einem Esslöffel schaufeln, das musste ganz schön anstrengend sein. »Wie wär’s, wenn du dich ein Weilchen schlafen legst?«, schlug die Frau des Lehrers vor. »Gute Idee«, sagte der Lehrer. Dann kroch er hinter dem Rentier in den Schlitten und kuschelte sich unter die Decken, die darin lagen. »Ich meinte, in dein Bett«, seufzte seine Frau, aber da war es schon zu spät. Der Lehrer schlief tief und fest. Die Rentierschlittenfahrt war dann sehr schön. Wir hatten jeder ein eigenes Rentier, und alle trabten brav in einer Reihe hinter dem Anführertier her, dem mit dem schönen Geweih und dem Schlitten, in dem der Lehrer schlief. Unsere Rentierkarawane zog über weiße Fjälls und tiefe Täler bis zu einem kleinen See. Dort hielt die Karawane zwischen drei kleinen Häusern neben einem großen Indianerzelt. Oder jedenfalls sah es aus wie ein Indianerzelt. Es war nur aus dünnen Baumstämmen gemacht. Oben an der Spitze war eine Öffnung, aus der Rauch aufstieg. »Im Ausland ist alles so anders«, staunte Pekka. »Außer den Rentieren vielleicht.«

Der Lehrer wachte auf, als zwei Hunde ihm das Gesicht leckten. Er freute sich riesig, als er sah, dass es seine alten Bekannten aus dem Flugzeug waren. Die Freude bei den Hunden war aber mindestens genauso groß. »Es sind Spitzenschlittenhunde«, sagte der Rentiermann, dem die Hunde gehörten. Es war der, mit dem der Lehrer sich schon vorhin beim Weihnachtsmann unterhalten hatte. »Spitzenschlittenhunde?«, wiederholte der Lehrer. »Vergiss es, Liebling!«, sagte seine Frau. »Die beiden schaffen es nie im Leben, zwei Erwachsene und eine ganze Schulklasse von hier bis nach Hause zu ziehen. Nicht mal zwei Erwachsene ohne Kinder würden die schaffen. Sie sind ja kaum aus dem Welpenalter heraus.« – »Könnten wir’s nicht wenigstens versuchen? Ich finde sie für ihr Alter schon ziemlich …«, versuchte es der Lehrer, aber da hatte ihn seine Frau schon an der Hand und zog ihn in das große Indianerzelt. Wir gingen hinterher, und drinnen bekamen wir Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade. »Fast so lecker wie in Finnland«, sagte Pekka. Und die Pfannkuchen waren wirklich extralecker. Wir Mädchen überlegten, wie oft Wichtel wohl solche Pfannkuchen bekamen und ob ein kleines Bärtchen vielleicht doch nicht so schlimm war, wie wir erst gedacht hatten. Vielleicht durfte man Wichtelbärte ja auch färben, grün oder rosa oder so. »Arbeiten Sie oft für den Weihnachtsmann?«, fragte Hanna den Rentiermann. »Nein«, sagte er. »Aber die Rentiere gehören dem Weihnachtsmann?«, fragte Tiina. »Nein«, sagte der Rentiermann. »Aber das Wigwam hier gehört ihm?«, fragte ich. »Wir Lappen nennen es Kote«, sagte der Rentiermann. »Wussten Sie, dass der Weihnachtsmann uns gefangen hält?«, fragte Timo. »Nein«, sagte der Rentiermann. »Wussten Sie, dass aus mir ein Wichtel werden soll?«, schniefte Mika. »Nein«, sagte der Rentiermann. »Wussten Sie, dass mir bald ein Bart wächst?«, fragte Hanna. »Nein«, antwortete der Rentiermann. »Wussten Sie, dass wir dauernd fröhliche Lieder singen sollen?«, fragte Mika. »Nein«, sagte der Rentiermann. »Wussten Sie, dass ich jedem eins auf die Mütze gebe, der verlangt, dass ich Wichtellieder singe?«, fragte der Rambo. »Nein«, sagte der Rentiermann. »Sie wissen zwar nicht viel, aber für einen Ausländer sprechen Sie gut Finnisch«, sagte Pekka. Für die restliche Zeit war der Rentiermann sehr schweigsam. Er sah so aus, als grübelte er über irgendetwas nach, und wir fragten uns, worüber jemand wohl nachgrübeln konnte, der überhaupt nichts wusste. Erst als wir nach der Rückfahrt aus dem Schlitten stiegen, sagte der Rentiermann wieder was. »Wusstest du, dass die alle einen an der Waffel haben «, fragte er den Lehrer und zeigte dabei auf uns. »Ja«, sagte der Lehrer. »Und wusstest du, dass mein Vater sich zur Ruhe setzen will und verlangt, dass ich hier weitermache?« – »Ja«, sagte der Rentiermann. »Aber ich möchte Lehrer bleiben. Es ist nicht nur mein Beruf, es ist meine Berufung«, erklärte unser Lehrer. Da schüttelte der Rentiermann den Kopf und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Ich glaube, wir sollten nicht sehen, dass er dem Lehrer dabei einen Zwanzigeuroschein in die Hand drückte. »Dann mach’s mal gut!«, sagte er und stapfte, immer noch den Kopf schüttelnd, davon.
Nach dem Mittagessen saßen wir in einer Reihe auf der langen Bank in der Stube, und die Frau des Lehrers schmierte uns allen das Kinn mit Fettcreme ein. Unsere Kinne waren ganz rot und rau. »Das kommt vom Wind und von der Kälte«, erklärte die Frau des Lehrers, aber wir glaubten ihr natürlich kein Wort. Wir wussten genau, weshalb wir alle ein raues Kinn hatten. Uns wuchsen Bärte. Der Lehrer hatte nicht zu Mittag gegessen. Er war gleich nach unserer Ankunft verschwunden. Oder eigentlich war er nicht wirklich verschwunden, denn wir wussten alle, wohin er gegangen war. Er arbeitete in dem Loch im Fußboden der Lehrerhütte. Der Lehrer hatte jetzt nämlich eine Schaufel. Er hatte sie von den zwanzig Euro gekauft, die er von dem Rentiermann bekommen hatte. Während wir zu Mittag aßen, hatte er sich über den See in den Dorfladen geschlichen, wo sie diese kleinen Klappschaufeln verkauften, die man überall mit hinnehmen kann. Er hatte sich die Schaufel am Bein befestigt und sie unter der Hose nach Hause geschmuggelt. Wir hätten es vielleicht gar nicht gemerkt, wenn die Frau des Weihnachtsmanns ihn nicht darauf angesprochen hätte, als er wieder in die Stube kam. »Seit wann hinkst du denn?«, fragte sie. »Ein Knorpelschaden. Wahrscheinlich vom Sportunterricht«, beruhigte sie der Lehrer. »Nichts hilft besser gegen Knorpelschäden als Langlauf«, mischte sich der Weihnachtsmann ein. »Als ich jung war, waren meine beiden Knie so steif, dass ich mir die Schuhe im Liegen anziehen musste. Vom Langlaufen sind sie dann biegsam geworden. Tausend Kilometer bin ich an einem Tag mit durchgedrückten Knien gelaufen. An Mittsommer war das. Danach waren sie dann gelenkig.«

Im Sommer kann man doch gar nicht Ski laufen«, sagte Hanna. »Stimmt genau. Das macht das Ganze umso merkwürdiger, findet ihr nicht?«, stimmte der Weihnachtsmann ihr zu. »Du mit deinem ewigen Langlaufen!«, seufzte die Frau des Weihnachtsmanns, und der Lehrer lächelte ihr dankbar zu. Dann wurde er plötzlich schrecklich müde. »Ich geh dann mal ein Ründchen schlafen«, sagte er und gähnte, dass wir alle mitgähnen mussten. »Am helllichten Tag?«, sagte die Frau des Weihnachtsmanns besorgt. »Die frische Luft macht müde«, antwortete der Lehrer. Dann ging er aus der Stube, und das war der Moment, wo man die Schaufel sah. Die Spitze schaute nämlich ein Stück weit oben aus dem Hosenbund heraus. »Ob wir uns Sorgen machen müssen?«, fragte die Frau des Weihnachtsmanns den Weihnachtsmann, als sie die Schaufel sah. »Ach was! Der muss nur endlich erwachsen werden«, sagte der Weihnachtsmann. Wir sahen den Lehrer den ganzen Tag nicht mehr, aber wir wussten trotzdem, dass er Fortschritte machte: Als wir abends zu unserer Hütte gingen, sahen wir, dass unter einem Fenster der Lehrerhütte ein Sandhaufen gewachsen war.

Nächste Woche lest Ihr, wie der Lehrer heimlich eine Monsterflugmaschine baut.

»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman von Timo Parvela. Aus dem Finnischen übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner, illustriert wurde er von Sabine Wilharm. Das Buch ist am 27. Juli im Carl Hanser Verlag erschienen.