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Ella auf Klassenfahrt (8)

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 8: Die Monsterflugmaschine

Ella und ihre Klasse wollten eigentlich in den Süden reisen, landen aber im verschneiten Lappland. Dort kommt die Gruppe bei den Eltern des Lehrers unter. Langlaufen und Schnitzen machen den Kindern zwar Spaß, doch bald wird ihnen klar: Der Vater ihres Lehrers ist offenbar der Weihnachtsmann. Und ihr Lehrer, so scheint es, soll sein Nachfolger werden – mit Ella und den anderen Kindern als Wichtel. Der Lehrer will genauso fort wie seine Schüler. Aber alle Fluchtversuche sind bisher gescheitert. Nun tauchen auch noch Diebe auf …Diebe!«, schrie Hanna, als sie erwachte. Sie hatte recht. Aus unserer Hütte waren in der Nacht alle Bettlaken verschwunden. »Diebe!«, hörten wir Mika aus einer der Jungenhütten schreien. Er hatte auch recht. Aus ihrer Hütte waren in der Nacht sämtliche Vorhangstangen verschwunden. Wir fragten uns, wer so gemein war, dass er zukünftigen Wichteln Bettlaken und Vorhangstangen klaute. »Das kann nur ein Feind des Weihnachtsmanns gewesen sein«, sagte Timo. »Oder die Konkurrenz«, schlug Hanna vor. »Wer ist denn die Konkurrenz des Weihnachtsmanns?«, wunderte sich Mika. »Väterchen Frost aus Russland«, wusste Hanna. »Und Robin Hood, der Rächer der Armen aus dem Wald von Nottingham«, wusste Timo. »Was haben die wohl mit den Sachen vor?«, fragte ich. »Väterchen Frost verteilt die Bettlaken an arme russische Kinder«, erklärte Hanna. »Und Robin Hood gibt die Vorhangstangen auch den Armen«, erklärte Timo. »Ich hab’s gewusst«, sagte Mika. »Sogar die Armen bekommen was, nur ich nicht.« Bei uns waren in der Nacht Sachen verschwunden, aber der Sand unter dem Fenster der Lehrerhütte war mehr geworden. Einen Moment lang fürchteten wir schon, dass der Lehrer und seine Frau in der Nacht den Tunnel zu Ende gegraben hatten und ohne uns geflohen waren. Dann sahen wir zu unserer Erleichterung, wie der Lehrer das Fenster öffnete und eine neue Schaufel Sand auf den Haufen kippte. Der Sandhaufen war schon so hoch, dass wir nach dem Frühstück Schnee darauf schaufeln und eine Rodelbahn bauen konnten. »Schlitten stehen immer hinterm Haus«, sagte Timo, der alles weiß. Leider war es dann nur einer. Aber wenn man mal dran war, schaffte man es damit bis hinter den Schuppen – den, in dem das alte Moped des Lehrers stand und an dessen Tür der Weihnachtsmann ein großes Schloss gehängt hatte. Den Weihnachtsmann hatten wir an dem Morgen noch nicht gesehen, aber jetzt kam er gestiefelt. »Hört mal«, sagte er, »aus meinem Motorschlitten ist über Nacht das Benzin verschwunden. Ihr habt nicht zufällig was gesehen?« Wir hatten natürlich nichts gesehen. Dann sah der Weihnachtsmann unsere Rodelbahn. »Na, da seid ihr aber fleißig gewesen«, sagte er. »Und das habt ihr alles selbst hierher geschaufelt?« Wir sagten nichts, weil man nicht lügen soll. Und den Lehrer wollten wir auch nicht verraten. Von dem Tunnel hing schließlich unser zukünftiges Leben ab. »Du liebe Güte, ihr habt ja nur einen einzigen Schlitten!«, sagte der Weihnachtsmann, als wir nichts sagten. Dann rannte er hinter den Schuppen. Wir fanden, dass er ganz schön flink war für seine tausend Jahre. Als der Weihnachtsmann zurückkam, rollte er einen großen Reifen vor sich her. Dann ging er zurück zum Schuppen und holte einen zweiten. Und einen dritten und vierten. Die Rodelreifen schlitterten super und kreiselten wild um sich selbst. Wir rutschten bis auf den See und hatten so einen Spaß, dass wir schon überlegten, ob wir dem Weihnachtsmann was von dem Tunnel des Lehrers erzählen sollten. Ein paar von uns wollten nämlich lieber bleiben, jeden Tag Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade essen und Reifen rodeln. Wir berieten gerade, was wir machen sollten, als der Weihnachtsmann verkündete, dass er jetzt auch mal die Rodelbahn runterfahren wolle. »Aufgepasst, jetzt seht ihr, wie ein Champion rodelt!«, rief der Weihnachtsmann. »Wusstet ihr übrigens, dass ich 1952 Olympiasieger im Reifenrodeln war? Von Helsinki bin ich übers zugefrorene Meer bis rüber nach Estland geschlittert.« – »Aber die Olympischen Spiele von 1952 waren doch Sommerspiele«, sagte Hanna. »Stimmt genau. Das macht das Ganze umso merkwürdiger, findet ihr nicht?«, sagte der Weihnachtsmann. Dann rodelte er los. Er hatte nicht übertrieben: Er war wirklich ein Rodelchampion. Und er hatte Mut. Keiner von uns hatte sich getraut, genau von vorn gegen die Schuppenwand zu brettern, aber der Weihnachtsmann traute sich. Der Reifen prallte von der Wand zurück, stellte sich auf, und statt zu schlittern, rollte er jetzt. Er rollte erst ein Stück aufs Haus zu und von da auf die Straße. Wir kannten den Weg, denn wir waren ihn schon hinter dem Moped hergefahren. Wir wussten auch, dass er bald steil bergab gehen würde, aber wir machten uns keine Sorgen. Für einen Rodelchampion war das bestimmt kein Problem. Wie geschickt der Weihnachtsmann war, konnte man schon daran erkennen, dass er die ganze Zeit in dem rollenden Reifen stecken blieb. Und die ganze Zeit juchzte der Weihnachtsmann, als hätte er dabei einen Riesenspaß. Wir hörten ihn noch, als das Brummen eines Busses näherkam. Als Nächstes sahen wir dann den Bus und staunten, wie gut der Weihnachtsmann im Ausweichen war. Dann sahen wir nur noch den Bus, und der Weihnachtsmann verschwand hinter der Kurve. Der Bus kam genau in unsere Richtung, und wir liefen ihm winkend entgegen. Außer uns war auch niemand da, um die Leute zu begrüßen: Der Lehrer grub an seinem Tunnel, seine Frau war mit der Frau des Weihnachtsmanns langlaufen, und wann der Weihnachtsmann von seinem Rodelausflug zurückkam, konnte man nicht wissen. »Hallo, wie geht’s?«, sagte der Mann, der als Erster aus dem Bus stieg. Nach ihm kamen ungefähr dreißig andere. Sie hatten alle eine Kamera dabei und knipsten wie die Wilden. »Einheimische – die haben wahrscheinlich noch nie Ausländer gesehen«, flüsterte Pekka, der sich vorgedrängt hatte, über die Schulter. »Wir suchen den Weihnachtsmann«, erklärte der Mann. »Der wohnt hier«, verriet Pekka, bevor wir ihn hindern konnten. »Dann sind wir hier am Korvatunturi?«, fragte der Mann. »Ja«, sagte Pekka, obwohl das gar nicht stimmte. »Und welches von den Fjälls ist es genau?«, fragte der Mann. »Das hier«, sagte Pekka und zeigte auf den Sandhaufen des Lehrers. Vielleicht war ihm inzwischen aufgegangen, dass er nicht alles verraten durfte. »Oh!«, sagte der Mann, und alle anderen klatschten und knipsten Fotos von dem Hügel. »Und wo sind die Wichtel?«, fragte der Mann. »Äh … hier«, sagte Pekka, dem doch nichts aufgegangen war, und zeigte auf uns. »Oh!«, sagte der Mann, und alle anderen klatschten wieder und knipsten Fotos von uns. »Frag ihn, ob er mein Kinn befühlen möchte«, sagte Hanna, aber Pekka hatte keine Zeit dazu, weil der Mann schon die nächste Frage stellte. »Und … wo ist der Weihnachtsmann?« Auf diese Frage musste Pekka zum Glück nicht antworten, denn genau in dem Moment kam der Weihnachtsmann zurück. Der Rückweg hatte wahrscheinlich so lange gedauert, weil sein Hinterteil noch in dem Reifen steckte.

Wir beobachteten staunend, wie er auf Händen und Füßen angehoppelt kam. Sein Hinterteil ragte in den Himmel, und er sah aus wie ein Dromedar mit einem Rettungsring. Die Leute aus dem Bus staunten auch und schauten Pekka fragend an. Der nickte lächelnd. »Das ist der Weihnachtsmann«, sagte er. »Oh!«, sagte der Mann, und wir wunderten uns, dass diesmal niemand klatschte oder Fotos knipste. Stattdessen scheuchte der Mann die anderen eilig in den Bus zurück. Der Weihnachtsmann hatte es inzwischen bis zum Schuppen geschafft und schloss das Vorhängeschloss auf. Er schaute gerade zu uns herüber, als wir es im Schuppen laut krachen hörten. Der Weihnachtsmann stand wie vom Donner gerührt, und die Leute im Bus duckten sich hinter die Sitze. Aus dem Schuppen kam ein lautes Knattern. Der Weihnachtsmann erholte sich als Erster von dem Schreck. Die Leute im Bus tauchten wieder auf und drückten sich die Nasen an den Busfenstern platt. Aus dem Schuppen kam eine Monsterflugmaschine gerollt. Erst kam nur ein drehender Propeller, der wie die Skier aussah, die der Lehrer geschnitzt hatte. Dann kamen riesige Flügel aus Bettlaken, die zwischen ein Metallgerippe gespannt waren. Die Bettlaken sahen aus wie die, die aus unserer Hütte verschwunden waren. Und das Gerippe sah verdächtig so aus, als wäre es aus den Vorhangstangen gemacht, die bei den Jungen verschwunden waren. Als die Maschine ganz aus dem Schuppen herausgerollt war, breitete sie die Flügel zu gewaltigen Dreiecken aus. In dem Moment sahen wir auch den Lehrer: Er saß zwischen den Flügeln und hielt einen Lenker in der Hand, der auch wie eine Vorhangstange aussah. Der Rest der Flugmaschine war aus dem Moped gemacht, und ihr Motor war natürlich auch der aus dem Moped, den der Weihnachtsmann ausgebaut, aber offenbar nicht gut genug versteckt hatte. Wir sahen staunend, wie der Lehrer Gas gab und die Flugmaschine in unsere Richtung fuhr. Wir mussten nicht lange überlegen: Die Maschine fuhr mit dem Benzin aus dem Motorschlitten des Weihnachtsmanns. Wir bewunderten unseren Lehrer. Er war so geschickt. Er war unser Leonardo da Vinci, wie Timo sagte, der sogar wusste, wer Leonardo da Vinci war.

Unser Lehrer hatte eine Flugmaschine gebaut, mit der er uns retten würde. Vorausgesetzt natürlich, dass er es bis nach oben in die Luft schaffte. Während die Leute aus dem Bus wie­der Fotos knipsten, machten wir uns zum Einsteigen bereit. Wir sahen zwar, dass die Flugmaschine nur einen Sitzplatz hatte, aber wir nahmen an, dass der Lehrer uns wieder ein Seil zuwerfen würde wie beim letzten Mal. Und diesmal würden wir nicht loslassen! Wir würden dem Weihnachtsmann einen Strich durch seine böse Rechnung machen. Auf Nimmerwiedersehen, Bärte! Auf Nimmerwiedersehen, fröhliche Wichtellieder! Aber dann wunderten wir uns, als der Lehrer plötzlich abbog und nicht mehr in unsere Richtung fuhr. Stattdessen verfolgte er jetzt den Weihnachtsmann, der gerade den Bus erreichte und sich verstecken wollte. Aber die Flugmaschine knatterte hinter ihm her, und wenig später sahen wir ihn wieder hinter dem Bus vorkommen. Der Lehrer war ihm dicht auf den Fersen. Der Propeller der Flugmaschine kam dem Hinterteil des Weihnachtsmanns bedrohlich nahe, aber er konnte sich wieder hinter dem Bus in Sicherheit bringen. Die Leute im Bus verfolgten das Rennen und hasteten von einer Fensterseite zur anderen. So ging das drei Runden lang, und als die vierte anfing, begriffen wir, dass der Lehrer die Flugmaschine gar nicht mehr lenkte. Er zerrte zwar an der Vorhangstange, aber das schien die Monsterflugmaschine nicht zu interessieren. Sie knatterte hinter dem Weihnachtsmann her, wie es ihr passte. Wahrscheinlich wäre das so weitergegangen, bis irgendwann der Tank leer war – wenn der Weihnachtsmann nicht gestolpert wäre. »Ups!«, sagte der Weihnachtsmann. »Plop!«, machte der Reifen, als er sich vom Hinterteil des Weihnachtsmanns löste. »Bumm!«, machte das Flugzeug des Lehrers, als es gegen den Reifen stieß und steil in die Luft geschleudert wurde. Der erste Flug eines Flugzeugs heißt Jungfernflug, wusste Timo. Der Jungfernflug des Lehrers dauerte nicht lange. Er flog nur knapp über den Kopf des Weihnachtsmanns, aber das reichte leider, um den Kurs zu ändern. Statt um den Bus herum wie bisher flog er jetzt auf unseren Rodelhügel zu. Die Flügel klappten auf und ab, der Rumpf erzitterte, und der Motor brüllte, als ginge es um Leben und Tod. Die Monsterflugmaschine fuhr die Rodelbahn hinauf bis ganz nach oben, dort zögerte sie einen kurzen Augenblick – und dann brach sie in Stücke. Als Erstes löste sich der Propeller. Noch einmal heulte der Mopedmotor auf, dann blieb er mit einem letzten Röcheln stehen, und nach all dem Krachen und Brüllen und Brummen herrschte auf einmal Stille. Im Bus war es still, der Weihnachtsmann lag still auf dem Rücken, und wir sahen still vor Staunen, wie die Flugmaschine des Lehrers sich doch noch in die Luft erhob. Die Flugmaschine hatte ein paar Teile vom Moped und so viel Gewicht verloren, dass ein einziger Windstoß die großen Flügel spielend leicht in die Luft hob und über unsere Köpfe hinweg erst über den See und dann die Fjälls auf der anderen Seite hinauftrug. Es war toll, und das Tollste war vielleicht, dass die Maschine im Wind rückwärts flog. Dazu hörten wir die Stimme des Lehrers. Die Stimme wurde immer leiser, und irgendwann hörten wir sie gar nicht mehr. »Wer war das?«, fragte der Mann aus der geöffneten Bustür heraus. »Der Sohn des Weihnachtsmanns«, erklärte Pekka. »Toll!«, sagte der Mann. »Sagt ihm, wir kommen nächstes Jahr wieder.« Die Leute im Bus klatschten, und der Mann stieg aus und gab dem Weihnachtsmann ein dickes Bündel Geldscheine. »Die Einheimischen hier sind wirklich nett«, sagte Pekka. »Ich hab’s gewusst«, schniefte Mika. »Der Lehrer ist nach Hause geflogen und hat uns zurückgelassen.« – »Der Junge kann sagen, was er will: Er hat ein Händchen fürs Geschäft«, sagte der Weihnachtsmann zufrieden. Er pfiff vor sich hin, während er ins Haus ging, um die Flugaufsicht anzurufen, wie er sagte. Die Flugaufsicht passt auf, dass niemand in der Luft herumfliegt, der dort nichts verloren hat, wusste Timo.

Nächste Woche kehrt der Lehrer zwar zurück, scheint aber den Verstand verloren zu haben

»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman des Finnen Timo Parvela. Übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner, illustriert wurde er von Sabine Wilharm. Das Buch ist am 27. Juli im Carl Hanser Verlag erschienen.