Von Timo Pavela
Folge 9: Das Heulen der Kojoten
Ella und ihre Klassenkameraden wollten eigentlich in den Süden reisen, landen aber aus Versehen im verschneiten Lappland. Dort kommt die Gruppe bei den Eltern des Lehrers unter. Von Anfang an hegen die Kinder einen Verdacht: Ist der Vater ihres Lehrers etwa der Weihnachtsmann? Und sollen sie womöglich alle Helferwichtel werden, wenn der Lehrer dieses wichtige Amt übernimmt? Doch der Lehrer zeigt keine Neigung, den Beruf zu wechseln – vielmehr unternimmt er einen Fluchtversuch nach dem anderen. Nachdem seine selbst gebastelte Flugmaschine auf einem Parkplatz zerschellt ist, scheint er sich allerdings mit seinem Schicksal abzufinden …Als er zurückkam, war unser Lehrer ein neuer Mensch. Er hatte die ganze Nacht in seiner Flugmaschine gesessen und sich an dem Feuerchen gewärmt, das er nach seinem Absturz mit dem restlichen Benzin gemacht hatte. Er hatte irgendwo in der Einsamkeit gesessen und der Stille gelauscht. »Weißt du noch, wie ich dir von meinem Traum erzählt habe? Vom Vollmond und dem Heulen der Kojoten in der Wildnis?«, fragte er seine Frau. »Liebling, bist du auch ganz bestimmt in Ordnung?«, fragte seine Frau zurück. »Das alles habe ich heute Nacht gefunden: den Vollmond, die Kojoten und die Wildnis. Dabei hatten wir es schon die ganze Zeit vor der Nase«, erklärte der Lehrer. »Liebling, wovon sprichst du?«, fragte seine Frau. »Ich habe die Kojoten gehört. Sie heulten den Vollmond an, und ihre Stimmen schlugen Wunden in die Stille«, sagte der Lehrer versonnen. »Letzte Nacht war der Himmel bewölkt, Kojoten gibt es in Nordafrika, und du hast eine Notlandung auf dem Parkplatz eines Supermarkts gemacht«, erklärte seine Frau und befühlte seine Stirn. »Es kann eben nicht alles perfekt sein«, antwortete der Lehrer. »Man muss sich über das freuen können, was man bekommt, und sich nicht darüber ärgern, was man nicht bekommt.« – »Du hast wahrscheinlich einen Schlag auf den Kopf bekommen«, vermutete seine Frau. »Ich habe ein Geschenk bekommen. Ich habe ein neues Zuhause bekommen und eine neue Aufgabe. Ich habe mein Glück gefunden. Ich bleibe hier!«, jubelte der Lehrer und umarmte seine Frau. Wir waren, ehrlich gesagt, ein bisschen verwirrt. Wir freuten uns natürlich für den Lehrer, dass er sein Glück gefunden hatte, aber wir machten uns auch Sorgen, wer uns retten sollte, wenn der Lehrer dablieb und der neue Weihnachtsmann wurde. »Paps!«, rief der Lehrer und rannte zur Tür, um den Weihnachtsmann zu umarmen, der gerade in die Stube trat. Kurz davor hatten wir ihn mit einer Schaufel über der Schulter aus dem Schuppen kommen sehen. Der Weihnachtsmann hatte den ganzen Morgen damit verbracht, den Tunnel des Lehrers zuzuschaufeln.
Der Tunnel, den wir für einen Fluchttunnel gehalten hatten, hatte nämlich nur von der Lehrerhütte bis zum Schuppen geführt. Dort hatte der Lehrer heimlich an seiner Monsterflugmaschine gebastelt. »Mein Sohn«, sagte der Weihnachtsmann und umarmte den Lehrer. »Ich bleibe hier«, sagte der Lehrer. »Ich wusste, dass du irgendwann Vernunft annehmen wirst«, sagte der Weihnachtsmann. »Das würde ich so nicht sagen«, hörten wir die Frau des Lehrers murmeln. »Aus dem hier machen wir was Großartiges«, sagte der Lehrer und zeigte aus dem Fenster auf die Hütten und den See. »Ich denke eigentlich, es könnte alles so klein und bescheiden bleiben, wie es ist«, sagte der Weihnachtsmann. »Das hier wird ein Wildpark, eine Serengeti des Nordens! Hunderttausende von Menschen werden hierherkommen, um der Stille der Wildnis zu lauschen, in der noch Kojoten frei herumlaufen und nachts den Mond anheulen«, schwärmte der Lehrer. »Bist du sicher, dass es hier Kojoten gibt?«, fragte der Weihnachtsmann vorsichtig. »Wusstest du, dass der Weihnachtsmann frei erfunden ist und trotzdem Zehntausende von Touristen nach Lappland kommen, um ihn zu sehen?«, fragte der Lehrer zurück. Er kratzte sich am Kopf, als müsste er über irgendetwas nachdenken, dann fuhr er fort: »Die Kojoten sind kein Problem. Wir kaufen einfach ein paar ausgestopfte und stellen sie auf die Fjälls.« Da sagte der Weihnachtsmann nichts mehr. Stattdessen schaute er die Frau des Lehrers an, aber die zuckte nur die Achseln und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Ich sage, es ist falsch, dass die Menschen nur wegen des Weihnachtsmanns nach Lappland kommen«, fuhr der Lehrer mit lauter Stimme fort. »Zur Hölle soll er fahren! Es gibt Wichtigeres, und das müssen wir den Menschen sagen. Ich werde Vorträge über das Leben in der Wildnis, das Langlaufen und über Kojoten halten«, rief der Lehrer, während seine Frau und der Weihnachtsmann ihn aus dem Haus und zur Lehrerhütte bugsierten, damit er sich ein bisschen ausruhen konnte. Als sie aus der Stube waren, schauten wir einander fragend an. Unser Lehrer würde hierbleiben und Weihnachtsmann werden. Das verstanden wir. Aber der Weihnachtsmann sollte auch zur Hölle fahren, hatte er gesagt. Und das verstanden wir nicht. Wieso wünschte er sich selbst zur Hölle? Oder hatte er das in der Aufregung nur so gesagt? Wir blieben in der Stube und warteten. Wir waren gespannt, was der Lehrer sagen würde, wenn er sich ausgeruht hatte. Ob er dann immer noch Weihnachtsmann werden wollte? Hatte am Ende doch der Weihnachtsmann tief in ihm drinnen die Oberhand gewonnen? Was dann?
Der alte Weihnachtsmann sah aus, als wäre er mindestens genauso gespannt wie wir. Er ging die ganze Zeit vor dem Kamin im Kreis. »Vielleicht hab ich den Jungen doch zu sehr unter Druck gesetzt«, hörten wir ihn brummen. »Vielleicht ist die Arbeit doch nichts für ihn. Vielleicht sollte ich noch ein paar Jahre weitermachen und dann stillschweigend abtreten, wenn sich nun mal kein Nachfolger findet …« Wir fanden es natürlich schrecklich, dass der Weihnachtsmann womöglich keinen Nachfolger finden würde. Wer würde dann den Kindern ihre Geschenke bringen? Aber die Idee, dass unser Lehrer der neue Weihnachtsmann werden sollte, fanden wir auch nicht viel besser. Sowieso wollte er ja Vorträge über das Leben in der Wildnis, das Langlaufen und über Kojoten halten. Wo sollte er da noch die Zeit hernehmen, um den Kindern Geschenke zu bringen? »Vielleicht hat der Junge ja recht«, hörten wir den alten Weihnachtsmann brummen. »Ich hab immer meinen alten Trott gemacht. Vielleicht ist es wirklich Zeit, dass sich was ändert. So alt bin ich ja noch nicht. Vielleicht könnten wir noch eine Zeit lang zusammen weitermachen. Ich würde mich um die Bewahrung des Althergebrachten kümmern, und der Junge könnte neuen Wind in die Sache bringen.« Wir versuchten uns vorzustellen, wie es wäre, wenn nächstes Weihnachten zwei Weihnachtsmänner zu den Kindern kommen würden. Der alte Weihnachtsmann käme natürlich mit seinem roten Mantel und seinem weißen Bart. Und natürlich würde er mit tiefer Stimme fragen, ob die Kinder auch schön brav gewesen waren. Aber was würde wohl der Weihnachtsmann junior machen? Würde er mit seiner Flugmaschine angeknattert kommen? Der alte Weihnachtsmann würde bestimmt Geschenke verteilen. Aber der Weihnachtsmann junior? Würde er den Kindern lieber was vom Langlaufen und von der Wildnis erzählen? Und wäre es dann wie in der Schule? Müssten die armen Kinder Kojoten in ihre Hefte malen, und kriegten sie womöglich noch Hausaufgaben auf? Solche Fragen stellten wir uns, als die Tür aufging und der Lehrer wieder in die Stube kam. Er war nur in Hemd und Hose und hatte keine Schuhe an.
Seine Haare waren zerzaust, und seine Brille hing ganz schief. Der Lehrer rückte sie gerade und schaute uns der Reihe nach an. Wir schauten zurück und warteten. »Ist was passiert?«, fragte er nach einer Weile. »Ihr seid alle so still.« – »Wie geht’s dir denn?«, fragte die Frau des Weihnachtsmanns, als niemand seine Frage beantworten wollte. »Ausgezeichnet. Es ging mir nie besser«, sagte der Lehrer. »Keine Schmerzen?«, fragte der Weihnachtsmann. »Ich bin fit wie ein Turnschuh«, sagte der Lehrer. »Ganz bestimmt?«, fragte seine Frau ungläubig. »Aber sicher doch«, sagte der Lehrer. »Ich glaube, ich mache gleich mal eine kleine Tour über den See bei dem Traumwetter.« – »Ich bin dabei«, sagte der Weihnachtsmann. »Du kannst dir meine Ersatzskier ausleihen.« – »Wer spricht denn hier von Skiern?«, sagte der Lehrer. »Ich werde eine neue Sportart entwickeln: Mopedskifahren. Die Touristen werden es lieben. Ich werde eine Eisbahn bauen, auf der ich die Leute mit dem Moped durch die Wildnis ziehe.« – »Du denkst aber daran, dass wir bald nach Hause fliegen«, erinnerte ihn seine Frau. »Mein Zuhause ist hier«, sagte der Lehrer. »Und die Kinder?«, fragte seine Frau. »Sie müssen zurück zu ihren Eltern.« – »Für die Kinder ist es besser, wenn sie die Gesetze der Wildnis studieren, und das können sie hier am besten. – Ich muss jetzt los, die Wildnis ruft«, sagte der Lehrer und rannte aus der Tür. Wir wussten nicht, wo genau er hinrannte. Wir hörten nur, dass er dabei heulte wie ein Kojote, und bis wir beim Fenster waren, kam er schon wieder zur Tür herein. Wahrscheinlich war es ihm in Hemd und Hose und ohne Schuhe draußen doch zu kalt geworden. Seine Frau nahm ihn an der Hand und brachte ihn wieder zur Lehrerhütte. Die Frau des Weihnachtsmanns schüttelte den Kopf, und sogar der Weihnachtsmann sah ein wenig ratlos aus. Wir schauten einander an und mussten gar nichts sagen: Wir wussten auch so, dass es jetzt auf uns ankam. Wir mussten die Sache in die Hand nehmen, bevor es zu spät war.
Nächste Woche erfahrt Ihr, ob die Kinder jemals nach Hause zurückkehren oder ob sie Wichtel bleiben.
»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman von Timo Parvela. Aus dem Finnischen übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner, illustriert wurde er von Sabine Wilharm. Das Buch ist am 27. Juli im Carl Hanser Verlag erschienen.