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Schreibwettbewerb: Die alte Kiste

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Lukas Stock (10 Jahre)

Jakami flog nervös durch die Gegend Gerade hatte er auf seinem siebten Sinn (Geister besitzen sieben Sinne) große Gefahr gewittert – sehr große Gefahr. Wiederum sah er auf seiner sechsten Ebene viele andere Geister wie einen Indianer, einen Piraten und einen kleinen Matrosen, neben denen ein Rapasa schwebte. Ein Rapasa war ein kleines merkwürdiges, pelziges Wesen, das oft bei Geistern als eine Art Ratgeber lebt. Jakami sah sich noch einmal auf der siebten Ebene um. Er sah nach links, nach rechts und er blickte nach oben. Er erschrak – über ihm war ein Netz aus reinstem Geisterhaar (Geisterhaar ist außer Elfenleder der einzige Stoff, den Geister nicht durchschweben können). Jakami wollte fliehen, aber es war schon zu spät – das Netz fiel auf sie herab.

Jack war enttäuscht. Er hatte ein größeres Haus erwartet. Sein Vater tröstete ihn: „Ja, von außen sieht es schlecht aus, aber von innen viel schöner!“ Er sollte recht behalten. Das Auto von Jacks Familie bog in die Einfahrt des Hauses. Der Kies knirschte geheimnisvoll unter den Rädern, genauso geheimnisvoll warfen die alten Tannen ihre Schatten.
Jack sprang aus dem Auto und nahm sich den Schlüssel. Er ging auf die Tür zu. Über der Tür prangten noch die Buchstaben „Nils Ramkara“ – der Name seines Großvaters. Ihm hatte dieses Haus einmal gehört. Jetzt war er gestorben. Schon seit dem Bau im Jahre 1826 war es im Besitz der Familie Ramkara. Viele seiner Vorfahren hatten furchterregende Berufe, Jacks Ur-mal-fünf-Großvater sollte sogar ein Geisterjäger gewesen sein. Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als sein Vater ihm auf die Schulter klopfte. Er sagte aufmunternd: ,,Komm, schließ schon auf! Immer der älteste der jüngsten Generation muss den Schlüssel nehmen, denn er wird der nächste Erbe sein.“
Als er die Tür öffnete, knarrte sie laut. Das Haus war innen wunderschön: Es hatte einen beeindruckenden Kronleuchter und an den Wänden hing die Ahnengalerie seiner Familie. Sein Vater sagte: ,,Na, schau dir mal dein Zimmer an! Es liegt oben, die fünfte Tür links.“ Jack rannte sofort nach oben. Sein Zimmer war größer, als er vermutet hätte. Es hatte einen kleinen Balkon, zwei Fenster mit Butzenscheiben und einen Schreibtisch mit wunderschönen Schnitzereien. Er sah aber nirgendwo ein Bett, und das alte Regal in der Ecke war leer. Plötzlich entdeckte er neben dem Schreibtisch eine kleine tapezierte Tür. Er öffnete sie und erschrak vor Freude. Vor ihm stand ein riesiges Himmelbett! Er lief sofort hinunter, um seine großartigen Entdeckungen seinem kleinen Bruder Karl-Mare zu zeigen.
Sein Vater sagte ihm aber: ,,Er ist in seinem eigenen Zimmer. Denkst du, in diesem großen Haus bekäme er kein eigenes Zimmer? Es liegt übrigens gegenüber von deinem. Ach, genau: falls du Bücher brauchst, geh einfach auf den Dachboden. Dort wirst du genug finden.“ Jack rannte sofort wieder die Treppe hinauf und zur letzten Tür des Korridors, da dort, wie ihm sein Vater nachgerufen hatte, die Leiter zum Dachboden war.
Er öffnete die Tür und kletterte hinauf. Als er sich durch die Luke zwängte, merkte er, dass hier schon lange keiner mehr gewesen war. Überall lag dicker Staub und überall hingen Spinnweben. Plötzlich fiel sein Blick auf einen großen, braunen Koffer. Genau, als sein Blick darauf fiel, überlief ihn ein Schauer. Die Kette, mit dem kleinen, goldenen Schlüsselchen, die um seinen Hals hing, wurde plötzlich heiß. Diese Kette war auch eines der Familienerbgegenstände. Niemand wusste, welches Schloss zu dem Schlüsselchen passte. Schon viele seiner Verwandten hatten nach einem passenden Schloss gesucht, aber vergeblich. Plötzlich bekam Jack eine Idee: An diesem braunen Koffer hing ein goldenes Schloss, das genau zu dem Schlüsselchen zu passen schien. Er trat näher und wischte den Staub von dem Schloss ab. Auf dem Schloss prangten die Buchstaben „Siegfried Ramkara“. Jack zuckte zusammen. So hatte sein Ur-mal-fünf-Großvater geheißen – der Geisterjäger! Er soll verrückt gewesen sein. Trotzdem nahm Jack die Kette und steckte das Schlüsselchen ins Schloss: Es passte! Langsam drehte Jack um und merkte, dass das Schlüsselchen immer heißer wurde. Das Schloss sprang auf. Jack dachte: „Jetzt öffne ich die Kiste – mehr als schief gehen kann es ja nicht.“
Irrtum.
Die Kiste knarrte merkwürdig, als er sie öffnete. Ein dichter Nebel quoll heraus. Plötzlich bildeten sich aus dem Nebel Gestalten: Ein kleiner, schlitzäugiger Chinese, ein Indianer und ein Matrose. Nun blickte auch noch ein kleines pelziges Wesen aus dem Nebel. Plötzlich traf Jack die schreckliche Gewissheit: Dies waren die Geister, die sein Ur-mal-fünf-Großvater gefangen hatte! Die Geister blickten um sich. „Seid gegrüßt, edler Retter!“ rief der kleine Chinese. Nun bedankten sich auch die anderen Geister. Plötzlich fragte das kleine, pelzige Wesen: „Wer bist denn du?“ ,,Ich – ich bin Jack Ramkara“ stotterte er. Der Geist zuckte zusammen: „Hört ihr!? Er ist ein Verwandter von Siegfried Ramkara!“ Auf einmal verhärteten sich ihre Gesichter. Jack merkte, dass er in der Klemme saß. Er verteidigte sich: „Ich bin mir bewusst, dass mein Ur-mal-fünf-Großvater Unrecht getan hat. Aber ich bin der erste, der euer Gefängnis entdeckt bat. Vielleicht hat euch vorher schon jemand gefunden, wollte euch aber nicht befreien.“ ,,Ah, so ist das also!“ meinte der kleine Matrose. Er zog einen kleinen Bogen hervor, auf dessen Pfeil er ein Pulver streute. „Juckpulver!“ murmelte er.
Er sprang durch den Boden. Als er schon halb verschwunden war, schrie Jack: ,,Aber mein Vater wird dich doch sehen.“ „Ruhe!“ rief das kleine pelzige Wesen und sagte dann in einem weitaus freundlicherem Ton: „Weißt du, nur jede siebte Generation kann uns sehen. Du siehst uns, dein Vater nicht.“ Schon hörte Jack die Stimme seines Vaters: „Was juckt denn auf einmal so?“ Und er hörte die Stimme von Karl-Mare: „Dad, da schmeißt soeben ein kleiner Matrose unsere ganzen Tassen auf den Boden!“ Und schon hörte man Geklirre. Jack fasste sich an die Stirn – er hatte Karl-Mare vergessen! Der konnte die Geister ja auch sehen! Jack wusste, dass sein Vater gerade beobachtete, wie Tasse um Tasse nach unten fiel. Das kleine pelzige Wesen schaute ihn erschreckt an: „Du hast einen Bruder? Das ist ja noch ein Problem! Auch er ist aus der siebten Generation. Er ist anscheinend noch zu klein, um zu begreifen, dass er lieber ruhig sein sollte.“ Plötzlich meldete sich der kleine Chinese zu Wort: „Ich heiße übrigens Jakami.“ „Und ich Risaka!“, meldete sich der Pirat zu Wort. „Und ich bin Flinke Hand“, meinte der kleine Indianer. „Und der, der gerade durch den Boden geschwebt ist, heißt Obalo – er ist übrigens ein Poltergeist.“ „Ich schätze, er wird die ganze Wohnung demolieren.“ meinte das kleine pelzige Wesen. „Und genau das müssen wir verhindern. Wir sollten dafür sorgen, dass ihr möglichst schnell verschwindet, damit die Leute Karl-Mare nicht für verrückt halten.“ Das kleine pelzige Wesen sah aus, als hätte es eine Idee und schon äußerte es sich: ,,Mir fällt gerade ein: Es gibt eine eigene Dimension nur Geister, in der die Geister real sind und die Menschen Geister. Wir könnten in diese Dimension abwandern. Dort gefällt es uns auch viel besser. Aber wir brauchen einen magischen Gegenstand. Leider besitze ich nur sechs Sinne, nur meine Freunde hier haben sieben. Und nur mit dem siebten Sinn kann man magische Gegenstände erkennen. Also Jakami – siehst du irgendetwas?“ Jakami sagte: ,Ja, ich sehe einen magischen Gegenstand! Genau genommen zwei. Den Koffer und das goldene Schlüsselchen. Ich will aber nie wieder mit diesem Koffer in Berührung kommen. Nehmen wir also lieber das Schlüsselchen.“ Er rief: „Obalo!“ Sofort sauste der kichernde Poltergeist herbei. Er lachte: ,,Das hat Spaß gemacht, die ganzen Tassen zu zertrümmern!“ „Obalo“, unterbrach der kleine Indianer ihn, „wir können vielleicht in unsere eigene Dimension zurückreisen!“ „Juhuu!“, rief der Matrose, „über welchen Gegenstand reisen wir?“ „Über dieses Schlüsselchen.“ meinte der Indianer. „Gut – seid ihr bereit?“ „Sind wir!“ riefen alle im Chor. Alle Geister schwebten auf das Schlüsselchen zu, das lack mittlerweile von seinem Hals genommen und auf seine Hand gelegt hatte. Alle Geister murmelten gleichzeitig ein paar unverständliche Worte. Über dem Schlüsselchen bildete sich ein Strudel und einer nach dem anderen schwebte hinein. Als letztes verschwand das kleine pelzige Wesen in dem Strudel und rief: „Ich schätze mal: Auf Nimmer-Wiedersehen!“