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Ruhrgebietssage 1: Wie der Schweinehirte Jörgen die Kohle entdeckte

 

Illustration: Gert Albrecht
Illustration: Gert Albrecht

neu erzählt von Hartmut El Kurdi

Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der EU für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt. Im Februar erscheint Hartmut El Kurdis Buch, in dem er die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt. Die zehn besten Geschichten könnt Ihr bei uns jetzt schon lesen

Jörgen war ein Schweinehirte, irgendwo im Weitmarer Holz bei Bochum. Das war zu Zeiten, als die Schweine noch nicht wie heute in engen Ställen leben mussten, wo sie sich gegenseitig auf die Schweinehaxen treten und nur Abfälle zu fressen bekommen. Zu Jörgens Zeiten hatten es die Schweine richtig gut. Sie lebten draußen auf einer Weide, wälzten sich fröhlich im Dreck, galoppierten über die Wiese, steckten sich Gänseblümchen hinters Ohr, spielten Fangen, machten Formationstänze und ließen sich die Sonne auf die Schweinehaut brennen. Aber natürlich musste jemand auf die Schweine aufpassen, weil sie ja sonst ausgebüxt wären. So ein Schwein ist ja nicht doof. Und genau das war Jörgens Job: Er passte auf die Schweine auf. Den ganzen Tag. Und auch nachts blieb er mit den Schweinen auf der Weide. Allerdings konnte es ganz schön kalt werden, wenn die Sonne untergegangen war. Schweinekalt sozusagen. Und in einer jener kalten Nächte machte Jörgen eine wundersame Entdeckung.Er wollte grade eine Kuhle graben, um darin ein Feuerchen zu entzünden. Doch als er seine Schaufel zum ersten Mal in den Boden rammte, entdeckte er, dass sein Lieblingsschwein Gerda fünf Meter weiter schon ein schönes Loch in der passenden Größe gebuddelt hatte. Und da Jörgen jede unnötige Arbeit zu vermeiden suchte, dachte er sich: Wozu soll ich hier buddeln, wenn da drüben schon ein Loch ist?
Er sammelte Holz, schichtete es in der Kuhle auf und zündete es an. Dann machte er eine Dose Ravioli auf (Okay, damals gab es noch keine Ravioli, aber wir wollen doch nicht pingelig werden, oder?), schlug sich den Bauch voll und schlief dann, in seine Decke eingewickelt, neben der Feuerstelle ein.
Am nächsten Morgen wurde er von Gerda mit einem Nasenstüber geweckt. »Hömma Gerda«, grummelte er, »muss das sein? Du weißt doch, dass ich da fies vor bin!« Gerda aber grunzte nur aufgeregt und nickte rüber zur Feuerstelle. »Was haste denn? Ist da was?« Jörgen sah, dass das Holz ganz heruntergebrannt war, unter der Asche aber noch etwas glühte. Er nahm einen Stock und kratzte die Holzasche beiseite. Und tatsächlich: Unten in der Kuhle lagen glühende, in allen erdenklichen Farben leuchtende Steinbrocken. »Das gibt’s doch nicht!«, stammelte Jörgen. »Wo kommen die denn her?« Gerda zuckte ratlos mit den Ohren. »Gerda … ich glaube, das ist … Zauberei!«, flüsterte Jörgen und schaute sich ängstlich um. Gerda nickte. Da musste eine Hexe ihre Hände im Spiel haben. Und da Jörgen vor nichts größere Angst hatte als vor Hexerei, packte er mit zittrigen Händen seine Sachen und zischte Gerda zu: »Sag den anderen Bescheid, wir machen uns vom Acker!« Fünf Minuten später waren Jörgen und seine Schweine verschwunden.
Doch am nächsten Abend auf der nächsten Weide passierte es erneut. Wieder machte Jörgen in einem von Gerda gebuddelten Loch ein Feuer, wieder schlief er selig neben der Feuerstelle ein, wieder weckte ihn Gerda morgens mit einem Nasenstüber – und wieder fanden sie in der Feuerkuhle die glühenden Steine. Und obwohl Jörgen immer noch Angst hatte, wurde er langsam stutzig. Am darauffolgenden Abend sagte er: »Pass mal auf, Gerda, jetzt schauen wir uns die Kuhle mal vorher an!« Gerda nahm ihren Rüssel aus der Erde, nickte und schaute in ihr frisch gegrabenes Loch. Jörgen linste ihr von hinten über die Schweineschulter. Und tatsächlich: Im Dreck lagen schwarze Steinklumpen. Das mussten sie sein, die Zaubersteine. Jörgen packte ein paar der Klumpen in seine Tasche, auf dem Rest entzündete er das Holz. Und weil er und Gerda in dieser Nacht Feuerwache hielten, konnten sie sehen, wie die Steine irgendwann glühten. Es war keine Zauberei. Jörgen und Gerda hatten brennbare Steine entdeckt! Oder, wie wir heute wissen: die Steinkohle!
Jörgen brachte die Steine in sein Dorf und führte sie Freunden und Verwandten vor. Die waren sofort begeistert. Nicht nur, weil die Zaubersteine so schön glühten, sondern vor allem, weil das Feuer, das man mit ihnen machen konnte, viel länger brannte und viel mehr Wärme abgab als die Holzfeuer, mit denen sie ihre Häuser und Hütten bisher geheizt hatten. Sie fragten Jörgen, wo er die Wundersteine her habe. »Gerda kann euch die Stellen zeigen«, sagte er und schickte die Leute mit dem Schwein los. Bald schon gruben sie regelmäßig nach der Kohle. Und so wurden die Leute aus Jörgens Dorf zu den ersten Bergleuten in der Geschichte des Ruhrgebiets.
Aber nicht nur die anderen machte Jörgen mit seinem Fund glücklich. Auch für ihn selbst sollte sich seine Entdeckung noch auszahlen. Eines Tages nämlich hörte Jörgen auf dem Marktplatz einen Ausrufer folgende Botschaft verkünden: »Höret ihr untertänigsten Untertanen des königlichen Königs: Die zum Umfallen schöne Prinzessin sucht dringend einen Mann. Gut aussehen soll er, stark sein soll er, aber vor allem was auffe Tasche haben und nicht knausrig sein. Die Prinzessin hat beschlossen, den Mann zum Bräutigam zu nehmen, der ihr die schönsten Edelsteine aufs Schloss bringt!«
Als Jörgen das hörte, strich er Gerda über ihre Borsten und sagte: »Na Gerda, stark sind wir, gut aussehen tun wir sowieso – und das mit den Edelsteinen kriegen wir auch hin. Ich würde sagen: Da sind wir bei, oder?« Er packte ein paar Kohlenstücke in seinen Beutel, band Gerda einen Strick um und machte sich auf den Weg zum Königsschloss. Nach einigen Tagen Wanderung kamen sie an ihr Ziel. Aber die Palastwachen verwehrten ihnen den Zutritt zum Schloss. »Was willst du denn hier?«, fragten sie ihn herablassend. »Die Hand der Königstochter!«, antwortete Jörgen. Eigentlich hätte er gerne noch hinterhergeschoben: »Ihr Lackaffen!«, aber das verkniff er sich lieber. »Du willst die Königstochter heiraten?« Der Wachmann grinste seinen Kollegen an, zeigte auf Gerda und fuhr fort: »Ich denke da wirst du wohl kein … Schwein haben!« Diesen flauen Scherz fanden die beiden so witzig, dass sie sich erst mal schlapp lachen mussten. Jörgen lächelte müde. »Das überlasst mal mir.« Die beiden Soldaten musterten Jörgen noch mal von oben bis unten – und prusteten wieder los. »Kuck dir nur mal seine dreckigen Klamotten an! Auf so einen …«, japste der eine, »… wartet die Prinzessin doch nur!« – »Weißt du was«, schnaufte der andere, »wir lassen ihn rein! Wenn der so vor die Prinzessin tritt, dann gibt’s wenigstens mal richtig was zu lachen!« Und sie ließen Jörgen durch. Aber das Schwein bleibt draußen!«
Schweren Herzens ließ Jörgen Gerda vor dem Schlosstor und eilte in den großen und schrecklich kalten Thronsaal. Dort musste er sich in einer Schlange anstellen. Vor ihm standen lauter bibbernde Herren: Grafen, Herzöge, Prinzen und was der Adel sonst noch zu bieten hatte, und alle hatten sie die kostbarsten Edelsteine dabei. Einer nach dem anderen wurde von der Königstochter, die in einem dicken Pelzmantel auf dem Thron saß, abgewiesen. »Nö, gefällt mir nicht … find ich doof … das sollen tolle Edelsteine sein? … Pfftt … popelig …«

Als schließlich Jörgen an der Reihe war, schaute sie ihn und seine schwarzen Kohleklumpen an und schrie: »Wie bitte? Was soll das denn? Ich will keinen Bauerntrampel, und ich will Edelsteine!« – »Immer langsam«, sagte Jörgen, »kuck erst mal genau hin!« Und dann legte er seine Kohlen ins Feuer, in den einzigen Kamin, der in der Ecke brannte, aber den Saal nicht aufzuwärmen vermochte. Es dauerte ein Weilchen, bis etwas passierte, was aber nichts machte, denn die Königstochter musste sowieso mal für kleine Prinzessinnen. Als sie zurückkam, sah sie, wie die Steine in den herrlichsten Farben leuchteten, in Rot, Gelb, Blau und Orange … und auf einmal wurde es angenehm warm im Saal. Die Prinzessin legte ihren Pelzmantel ab und starrte ins Feuer: »Du hast recht gehabt: Diese schwarzen Diamanten sind die schönsten Edelsteine, die ich je gesehen habe!« Und dann schaute sie Jörgen an und lächelte: »Vielleicht müsstest du dich nur mal waschen, ein paar neue Klamotten … dann könnte vielleicht was werden aus uns …«
Und Jörgen wusch sich, wurde rasiert, neu eingekleidet, und schon fielen die beiden sich um den Hals. Als Jörgen der Königstochter allerdings seine Gerda vorstellte, bekam sie noch mal einen kleinen Herzinfarkt, von dem sie sich aber ganz schnell wieder erholte. Schon einige Wochen später heiratete die Prinzessin den Schweinehirten, ein großes Fest wurde gefeiert, und die beiden lebten lange glücklich und zufrieden miteinander auf dem Königsschloss. Mit Gerda, die sich da übrigens sauwohl fühlte.

Ruhrgebietswörterbuch
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Sauerländer Verlag
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Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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