Ein Märchen aus Bochum neu erzählt von Hartmut El Kurdi
Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der EU für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt. Im Februar erscheint Hartmut El Kurdis Buch, in dem er die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt. Die zehn besten Geschichten könnt Ihr bei uns jetzt schon lesen
Nachdem Gott alle Tiere geschaffen hatte, war ihm langweilig, und deswegen beschloss er, jedem Tier einen Namen zu geben. Das war nicht nur unterhaltsam, sondern auch praktisch, denn so konnte er sie besser auseinanderhalten. Und falls eines mal was ausgefressen hatte oder sich im Freibad danebenbenahm, musste er nicht stammeln: »Hömma, du da … mit der glitschigen grünen Haut und den fiesen Glubschaugen… geh mit die Pommes wech vom Beckenrand!« Nein, dann konnte er einfach rufen: »FROSCH! Seh ich das noch einmal, dann kannze gleich duschen gehn!«Aber er wollte auch sicher sein, dass sich jedes Tier seinen Namen merken konnte, damit es sich auch angesprochen fühlte, wenn er es rief. Also fragte er die Tiere in regelmäßigen Abständen ab: »Wie heißt du?« – »Pferd!« – »Und du?« – »Kuh.« – »Und was sind deine Hobbys?« – »Bitte?« – »Deine Hobbys? Was machst du gerne, wenn du frei hast?« – »Äh … Gras fressen … Fliegen mit meinem Schwanz verscheuchen?« – »Na also, geht doch!«
Aber nicht alle Tiere hatten so ein gutes Gedächtnis wie die Kuh und das Pferd. Die Schnecke zum Beispiel trieb Gott fast in den Wahnsinn. »Also, wie heißt du?« – »Mmmm … Moment … nich sagen, nich sagen … ich hab’s gleich …« Die Schnecke stützte ihre Fühler auf den Boden. »Schschsch … irgendwas mit SCH, oder?« – »Ja, nicht schlecht«, sagte Gott und rollte innerlich die Augen. »Schschsch … Sch … meißfliege?« – »Falsch!« – »Natürlich … is ja Quatsch: Schmeißfliege! Wie komme ich denn da drauf? Ich denk nochmal nach … Gleich hab ich’s … Sch … nicke? Sch … nacke? Sch … nucke! Genau: Schnucke! Ich bin eine Schnucke, eine Heidschnucke!«, sagte die Schnecke stolz. »Na ja, fast. Eine Heidschnucke ist ’n Schaf. Du bist eine Schnecke!« – »Och Menno«, sagte die Schnecke traurig. »Das kann ich mir nie merken!« – »Komm, nicht aufgeben«, sagte Gott, »irgendwann kriegst du’s hin!« – »Wenn du meinst …«
Es gab aber auch Tiere, die ihren Namen nicht vergessen hatten. Die wollten einfach anders heißen. Fast täglich kam irgendein Tier, um sich zu beschweren. Die Elster wollte zum Beispiel »Bachstelze« heißen. »Wieso denn um Himmelswillen Bachstelze?«, fragte Gott. »Weil ich so lange Beine hab, mit denen ich prima durch einen Bach stelzen kann!« – »Tja«, sagte Gott, »wo du recht hast, hast du recht. Also meinetwegen, dann heißt du ab heute Bachstelze … und dieser schwarzweiße Rabe da drüben heißt jetzt Elster. Und jetzt is ma gut mit diskutieren hier!«
Nur einer hielt sich von dieser ganzen Namensverteilungsaktion fern: der Hase. Er hatte, ehrlich gesagt, Besseres zu tun. Hinter dem Hügel hatte er ein leckeres Kleefeld entdeckt und schlug sich den Hasenbauch voll. Natürlich wusste er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass er sich den Hasenbauch vollschlug, weil er ja noch nicht wusste, dass er ein Hase war. Der Klee schmeckte trotzdem. Also verbrachte er die nächsten Wochen damit, ein Kleefeld nach dem anderen abzufressen. Und immer, wenn er Gott aus der Entfernung sah, machte er sich vom Acker. Er hatte mehrmals beobachtet, wie Gott die anderen Tiere nach ihrem Namen fragte, und ihm war klar, wenn Gott ihn erwischte, würde er ziemlich doof dastehn. Deshalb ging er ihm aus dem Weg. Doch eines Morgens wachte er auf, und Gott stand vor ihm. »Tach«, sagte Gott.
»Tach«, sagte der Hase. Der Hase zuppelte ein Kleeblatt vom Stängel und mümmelte verlegen darauf herum. »Na, Mümmelmänneken«, sagte Gott, »wer bist du denn? Hast du von mir eigentlich schon einen Namen bekommen?« Ehrlich gesagt, konnte sich Gott auch nicht mehr richtig erinnern.
Mist, dachte der Hase, jetzt kommt raus, dass ich die Namensverteilung geschwänzt habe. Ein kalter Schauer lief ihm vom Näschen bis zum Puschelschwanz, er wurde vorne und hinten kreideweiß. (Seit diesem ersten Schreck haben übrigens alle Hasen bis heute einen weißen Fleck auf der Brust und einen unterm Schwanz. Aber das nur nebenbei.)
»Namen?«, fragte der Hase. »Du meinst, wie ich heiße?« Er überlegte angestrengt. Da war doch eben was gewesen. Genau! »Mümmelmänneken?«, fragte er ängstlich. So hatte Gott ihn doch grade genannt, oder?
Gott lachte sich schlapp. »Ker’, Ker’, Ker’ … datt kommt davon, wenn man sich lieber die Wampe vollhaut, als sich mit dem Chef zu unterhalten!« Gott schaute den Hasen von oben bis unten an. Er überlegte. Dann beugte er sich nach unten und zog dem Hasen seine bis dahin kleinen Stummelohren lang. »Ich nenne dich: Hase!«
Wie Gott ausgerechnet auf »Hase« kam, weiß kein Mensch. Aber schließlich sind Gottes Wege ja auch unergründlich.
»Hase?«, fragte der Hase unsicher und befühlte seine langen Ohren. »Hase!«, wiederholte Gott. »Probleme?« – »Nö, nö«, sagte der Hase. »Hase is super!« Zufrieden ging Gott seines Weges und ließ den Hasen verwirrt und mit langen Ohren zurück. Und seitdem haben alle Hasen … na Ihr wisst schon …
Ruhrgebietswörterbuch
Hömma Hör mal
Vom Acker machen abhauen
Ker’, Ker’, Ker’ Ermahnung, ein Lehrer könnte das sagen und dazu mit dem Zeigefinger wedeln
Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
Diese Geschichte und vieles mehr für einen aufregenden, lustigen und spannenden Winter findest Du im neuen ZEIT Kinderheft:
Das neue ZEIT Kinderheft: Alles für einen tollen Winter!
jetzt am Kiosk, ab 7 Jahren, 4,95 €