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neu erzählt von Hartmut El Kurdi
Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der EU für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt.
Im Februar erscheint Hartmut El Kurdis Buch, in dem er die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt. Die zehn besten Geschichten könnt Ihr bei uns jetzt schon lesen
Raubritter waren ziemlich fiese Typen. Sie hausten auf ihren Burgen, wuschen sich nur jeden ersten Freitag im Monat (und dann auch nur mal ganz schnell mit dem Waschlappen am Hals), und außer essen, sich betrinken und fies sein, machten sie eigentlich nichts. Zum Fiessein gehörte es, nach Lust und Laune Diener zu verprügeln und Reisende auszurauben. Wann immer jemand an ihrer Burg vorbeizog, flitzten sie bewaffnet vors Tor und gaben den Vorbeiziehenden im besten Falle eins auf die Mütze, im schlechtesten Fall brachten sie sie einfach um. Immer jedoch nahmen sie den Reisenden alles ab, was diese bei sich trugen. Dann kehrten die Raubritter mit ihrer Beute zurück in ihre Burg und legten sich wieder auf die faule Haut, bis der nächste Fremde vorbeikam.
Und genau so einer war der Raubritter Joost. Er lebte auf der Burg Blankenstein bei Hattingen und fand es zum Beispiel unglaublich witzig, kreuz und quer durch die Felder der Bauern zu reiten und damit die Ernte kaputt zu machen. Und wenn die Bauern es wagten, sich darüber zu beschweren, zog er seine Peitsche und ließ sie auf ihre Rücken niedersausen. Da der Ritter ja ihr Herr war und die Bauern seine Untergebenen, hatten sie niemanden, der ihnen zur Hilfe kommen konnte. Auch der Pfarrer half den Bauern nicht. »Benehmt euch ordentlich«, sagte er, »dann kommt ihr später in den Himmel. So, und jetzt muss ich zum Abendessen. Es gibt dicke Bohnen mit Speck. Amen.«
Aber manchen Bauern reichte das nicht. Himmel – schön und gut, gegen den war nichts zu sagen, aber ihnen ging es hier und heute schlecht. Und das wollten sie ändern. Sie hatten die Faxen endgültig dicke und beschlossen, sich zu wehren. Und so trafen sie sich mit einigen Kaufleuten aus der Umgebung, die alle kurz vor der Pleite standen. Ihre Geschäfte liefen katastrophal, weil Joost jeden Transport überfiel und ihnen deswegen alle Kunden absprangen.
»Wir müssen die Burg stürmen und diesen Hund vertreiben!«, sagte einer der Kaufleute. »Quatsch«, antwortete ein Bauer, »die Burg Blankenstein kann man nicht stürmen. Die Mauern sind viel zu dick, und außerdem hat Joost jede Menge Wachen, die alle mindestens so fies und brutal sind wie er selber.« Hm … Das Ganze war nicht so einfach. »Wie wär’s mit Aushungern?«, fragte der Bauer und biss in einen rotbackigen Apfel. »Wie jetzt? Aushungern? Wie soll das denn gehen?«, fragten die Kaufleute. »Na, wir ziehen vor die Burg und machen dicht. Keiner kann rein, keiner kann raus! Irgendwann geht ihm dann das Essen aus, und dann isser fällig! Mal kucken, wie lange der das durchhält!«
Und so machten sie es: Alle, die noch eine Rechnung mit dem Raubritter Joost offen hatten – und das waren nicht wenige –, zogen vor die Burg und machten dicht. Aber den Raubritter schien das gar nicht zu stören. Aus der Burg hörte man nur lautes Gegröle und Gezeche. Offensichtlich ließen Joost und seine Kumpel es sich gut gehen. Ab und zu schmissen sie ein leeres Weinfass über die Burgmauer, gefolgt vom Inhalt ihrer Mülleimer und höhnischem Gelächter. Manchmal flogen auch schmutzige Socken über die Mauer (und andere Dinge, die hier aus Gründen der Appetitlichkeit unerwähnt bleiben sollen). Die Belagerer bekamen langsam schlechte Laune. Und das zu Recht. Seit zwei Wochen hingen sie vor der Burg rum, vernachlässigten ihre Felder und Geschäfte und wofür? Joost amüsierte sich köstlich und schien nach wie vor mit allem versorgt zu sein.
Da kam eine alte grummelige Frau des Weges, sah die genervten Gesichter und fragte: »Na, Jungs, läuft wohl nicht so?« – »Nee, dem is nicht beizukommen. Der macht sich nur lustig über uns.« Die alte Frau dachte kurz nach, rieb sich die haarige Warze am Kinn und sagte: »Wasser! Das ist die Lösung: Ihr müsst ihm das Wasser abgraben. Dann wird er mürbe.« – »Kein schlechter Gedanke«, sagte der Anführer der Belagerer, »aber wie finden wir die Quelle?« Wieder rieb sich die alte Frau ihre Warze und sagte: »Jetzt hab ich’s: Ein Esel! Ihr braucht einen Esel. Dem gebt ihr drei Tage nichts zu trinken, dann lasst ihr ihn zum Burgberg laufen. Da, wo er mit den Hufen scharrt, müsst ihr graben. Da ist die Quelle, die den Burgbrunnen speist.« Die Belagerer begannen zu jubeln. »Reißt euch mal zusammen«, sagte die Greisin, »so dolle ist der Einfall nicht. Da hättet ihr auch selbst drauf kommen können. Muss man halt mal ’n bisschen nachdenken, ihr Kohlköppe.« Und dann zog sie weiter muffelnd von dannen. Oder von hinnen? Egal. Auf alle Fälle beschlossen die Bauern und Kaufleute, es genau so zu machen. Sie gaben dem Esel nichts mehr zu trinken, und nach drei Tagen begann er vor Durst zu schreien. Sie ließen ihn los, und er rannte zum Burgberg, umrundete die Burg drei Mal, bis er plötzlich stehen blieb und mit den Hufen zu scharren begann. Dort gruben die Belagerer ein tiefes Loch – und wenig später floss ihnen Wasser entgegen. Schnell leiteten sie das Bächlein um, sodass der Brunnen der Burg Blankenstein versiegte. Jetzt hieß es nur noch warten. Ein paar Tage wurde auf der Burg noch weiter gefeiert, dann gingen die Weinvorräte zu Ende. Statt Saufliedern hörte man nun Flüche und Gekeife. Vor der Burgmauer aber stieg die Stimmung.
Irgendwann öffnete sich das Tor, und ein Unterhändler mit einer weißen Fahne kam heraus. »Hört zu«, rief er, »Joost will sich ergeben, aber nur unter der Bedingung, dass seine Frau verschont bleibt!« Die Belagerer überlegten kurz, dann antworteten sie: »Klar, geht in Ordnung.« »Und sie darf alles mitnehmen, was sie auf drei Gängen aus der Burg heraustragen kann«, fuhr der Unterhändler fort. Wieder besprachen sich die Belagerer. Da Joosts Frau aber schon ziemlich alt und gebrechlich war, dachten sie, dass sie sicher nicht viel aus der Burg mitnehmen konnte. »Abgemacht, die Frau darf dreimal gehen!«
Keine zehn Minuten später erschien die Burgherrin, Joosts Frau, auf der Zugbrücke. Sie konnte sich kaum aufrecht halten und ächzte, als trüge sie die Sünden der Welt auf ihrem Rücken. Tatsächlich aber saß da der Raubritter Joost, fett und feist grinsend, und gab seiner Frau die Sporen, als sei sie ein alter Ackergaul.
Die Bauern trauten ihren Augen nicht. »Das gibt’s doch nicht! Der hat uns reingelegt, der Sack!« Aber sosehr sie auch schimpften und jammerten, sie hatten ihr Versprechen gegeben, ihn nicht festzunehmen. Joosts Frau lud ihren Mann vor der Burg ab, drehte um, ging zurück und erschien kurze Zeit später mit ihrem Sohn auf dem Rücken. Der war übrigens genauso dick wie sein Vater und rief sogar noch frech: »Hü, Mutti, hü!« Auch den Sohn setzte Frau Joost ab, schleppte sich ein letztes Mal in die Burg, um dann mit einer Last zu erscheinen, die noch schwerer und vor allem kostbarer war als ihre beiden Männer zusammen.
»Ich glaub, die hattse nicht mehr alle, die schleppt den ganzen Burgschatz raus!«, rief einer der Bauern, als sie fast auf allen vieren, einen riesigen Rucksack geschultert, im Burgtor erschien. Der Rucksack war so voll, dass man ihn gar nicht zuschnüren konnte. Die Belagerer konnten darin Joosts gesammelte Diebesbeute in der Sonne funkeln sehen: Juwelen, Perlen, Gold- und Silbermünzen.
Und so zog der Raubritter Joost mit seiner Familie und seinem Burgschatz triumphierend zur Ruhr hinunter, während seine gefoppten Gegner ihm Flüche und Verwünschungen hinterherriefen. Die Joosts nahmen den Weg über die alte Holzbrücke in Richtung Weitmar, wo sie bei Verwandten unterkommen wollten. Doch kaum standen sie zu dritt mit ihrem Schatz auf der Brücke, begann diese verdächtig zu knarren. »Halt, wir müssen zurück«, rief die Frau, »die Brücke hält uns nicht aus!« – »Auf keinen Fall«, antwortete Joost, »sonst überlegen diese Schmarotzer es sich noch anders und nehmen uns doch alles ab!« Die Holzbalken krachten immer bedrohlicher – und schließlich brach die Brücke unter ihnen zusammen. Laut schreiend stürzten Joost, seine Frau und sein Sohn mit ihrem Besitz in die Ruhr und gingen unter. Als die Bauern und Kaufleute das sahen, entfuhr auch ihnen ein Schrei des Entsetzens, aber nicht etwa, weil sie Mitleid mit dem Schurken gehabt hätten, sondern weil der kostbare Burgschatz ebenfalls auf Nimmerwiedersehen im tiefen Wasser versank.
Noch heute, so erzählt man sich, soll in hellen Sommernächten ein Funkeln vom Grund der Ruhr zu sehen sein. In diesen Momenten lässt der Schatz des Raubritters Joost sein Versteck erahnen …
Ruhrgebietswörterbuch
die Faxen dicke haben von etwas genug haben
die hattse nicht mehr alle die spinnt
gefoppt hereingelegt
- Sauerländer Verlag
Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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