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- Illustration: Gert Albrecht
- neu erzählt von Hartmut El Kurdi
Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der Europäischen Union (kurz EU) für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt.
Im Februar erscheint ein Buch, in dem die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt werden. Die zehn besten Geschichten lest Ihr bei uns schon jetztSchon immer gab es solche und solche Räuber. Die einen waren böse, schlecht gelaunt, hattenMundgeruch und klauten nur aus Raffgier. Die anderen waren anders: gewitzte Typen, die es nicht richtig fanden, dass einige wenige Menschen viel – und viele Menschen gar nichts besaßen. Und die deswegen beschlossen, den Besitz, nun sagen wir, etwas gerechter zu verteilen, indem sie die Reichen beklauten und das Geld an die Armen weiterreichten. Natürlich zweigten sie immer auch etwas für sich ab, denn erstens mussten sie ja auch leben, und zweitens waren sie nicht doof. Gerecht zu sein heißt ja nicht, dass man sich nicht ab und zu einen ordentlichen Gänsebraten oder eine Käsesahnetorte gönnen darf.
Der Bekannteste dieser Räuber hieß Robin Hood. Er wohnte mit seiner Bande im Sherwood Forest in England und war ein Wahnsinns-Bogenschütze. Nach ihm ist das legendäre Robin-Hood-Doppel-Pfeil-Kunststück benannt: Mit dem ersten Pfeil traf er genau in die Mitte der Zielscheibe – so weit, so gut, nicht übel, aber das konnten viele. Dann aber schoss er einen zweiten Pfeil ab, der wiederum den ersten Pfeil genau in der Mitte traf und ihn der Länge nach spaltete. Wozu man so etwas können muss, weiß bis heute keiner, wahrscheinlich war es pure Angeberei, aber ansonsten war nichts gegen Robin zu sagen. Er war ein sympathischer Kerl: freundlich zu den Schwachen und knüppelhart zu den Starken und Gemeinen. Er war jemand, den man sich als großen Bruder wünscht, wenn man mal wieder von diesem muskelbepackten Typen aus der Parallelklasse geärgert wird. Aber hier geht es ja nicht um England und den Sherwood Forest, sondern um das Ruhrgebiet. Und selbstverständlich gab es auch hier einen netten Halunken. Der Ruhr-Robin lebte vor etwa 150 Jahren und hieß Korte. Mit Vornamen Heinrich oder Wilhelm – da ist man sich nicht mehr ganz einig –, und er kam aus dem Süden von Bochum, genauer gesagt aus Bochum-Stiepel.
Eigentlich war er Bergmann, und im Gegensatz zu vielen anderen hatte er noch Arbeit. Damals wurden viele Leute entlassen und hatten schlicht und einfach nichts zu essen. Gar nichts. Sie hungerten. Und dieser Hunger ist etwas anderes, als wenn man spät nachmittags denkt: Och, jetzt könnte ich mal wieder ein Häppchen nehmen, schade dass es erst um sieben Abendbrot gibt. Von dem richtigen, echten Hunger, den man leidet, wenn man tagelang nichts zu Essen bekommt, wird einem übel, man wird schwach, schlapp und krank. Und irgendwann stirbt man.
Korte erlebte jeden Morgen, wenn er und seine Kollegen zur Arbeit gingen, dass die Kinder der Arbeitslosen hinter ihnen herliefen und um Brot bettelten. Korte ließ sich von seiner Frau schon immer ein paar Stüllchen mehr schmieren, aber natürlich reichte das nicht für alle. Irgendwann setzte sich Korte mit ein paar Freunden zusammen, um zu überlegen, was man tun könnte. Und da die Kumpel keine Möglichkeit hatten, den Arbeitslosen wieder Arbeit zu verschaffen, kamen sie auf die Idee, Nahrungsmittel für die Armen zu »organisieren« beziehungsweise zu »besorgen« – ach was, seien wir ehrlich: zu klauen! Darum geht es hier ja.
»Aber damit eins klar ist«, sagte Korte, »wir beklauen nur die Bonzen. Wenn ich einen dabei erwische, dass er einen kleinen Gemüsehändler beklaut, gibt’s was auf die Omme!« Bonzen wurden alle genannt, die viel Geld hatten: reiche Kaufleute, die Besitzer der Bergwerke und die Großbauern. »Als Erstes steigen wir nachts in die Gärten der Villen ein und ernten das Obst!« Sie nahmen große Holzkisten mit und fielen über die Obstbäume her. Sie packten die Äpfel und Birnen in Kisten und stellten sie dann vor den Türen der arbeitslosen kinderreichen Familien ab, die sich freuten, als wären Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen. Oder als wäre der VfL Bochum endlich mal Deutscher Meister geworden.
Und weil es so gut funktioniert hatte, zogen Korte und seine Freunde nun jede Nacht los. Aber natürlich blieb das nicht unbemerkt. Wenn ein einzelner Obstgarten einmal geplündert wird, wundert man sich. Wird allerdings jede Nacht ein anderer Obstgarten abgeerntet, dann schaltet sich die Polizei ein. Und so passierte es, dass Kortes Räuberbande eines Nachts erwartet wurde: Kaum waren sie über die Mauer geklettert, da erhellte eine Lampe die Dunkelheit, und Schüsse fielen. Als Korte die Kugeln um die Ohren pfiffen, blies er zum Rückzug: »Los, abhauen!« So schnell es ging, sprangen sie über die Mauer und verdufteten. Am nächsten Morgen stand in der Zeitung: Terror in Bochum: Eine Räuberbande nimmt Stiepel aus.
Die Meinungen über Korte und seine Freunde waren geteilt: Für die Reichen waren sie Verbrecher, kriminelles Gesindel. Nicht zuletzt, weil Korte ihnen deutlich sagte, was er von ihnen hielt. So hatte er zum Beispiel einmal an der Tür eines als herzlos geltenden Großbauern folgende gereimte Nachricht hinterlassen: »Du kennst weder Not noch Leid, und kennst auch keine Barmherzigkeit. Wir werden uns beeilen, deinen Überfluss zu teilen, denn nichts gehört dir allein: Gerecht muss hier der Ausgleich sein!« Für die Armen aber, die von Korte beschenkt wurden, waren er und seine Räuberkumpane menschliche Engel. Vielleicht konnte die Polizei deswegen lange nicht herausfinden, wer dieser Räuberhauptmann war. Es gab zu viele Leute, die ihn deckten. Aber leider gab es auch die anderen. Ein verbittertes Ehepaar zum Beispiel, das zwar arbeitslos war, aber keine Kinder hatte und deswegen von Korte nie ein »Geschenk« bekam. Und sauer, wie sie deshalb waren, – und gelockt von der ausgesetzten Belohnung – gingen sie zur Polizei und petzten: »Der Räuberhauptmann ist der Bergmann Korte!«
Aber manchmal kommt’s eben anders, als man denkt. Manchmal wird ein Verrat durch einen anderen wieder ausgeglichen. So erzählte der Polizist beim Mittagessen – es gab Stampfkartoffeln und Blutwurst – seiner Frau von der Anzeige gegen Korte. Die Frau des Polizisten aber schlich sofort zu Kortes Frau und sagte: »Pass ma’ auf Rita, dein Mann soll heute Abend, wenn er vonne Schicht kommt, verhaftet werden.« Kortes Frau bedankte sich, rannte zur Zeche und warnte ihren Mann. Der ging natürlich nach der Schicht nicht nach Hause, sondern versteckte sich mit seinen Männern in einem stillgelegten Bergwerk, das er zu seinem Hauptquartier machte. Die Diebeszüge gingen selbstverständlich weiter. Jetzt erst recht! Aber hallo! Korte hatte ja nichts mehr zu verlieren. Und langsam bekam er wohl auch Spaß an der Sache.
Einmal saßen ein paar Polizisten in einer Gastwirtschaft zusammen und unterhielten sich über ihn: »Dieser Korte ist wirklich ein raffinierter Hund!«, sagte einer. »Man könnte fast glauben, dass da was nicht mit rechten Dingen zugeht«, antwortete ein anderer. Und während sie noch darüber spekulierten, ob Korte einflussreiche Freunde hatte oder gar mit dem Teufel im Bund war, stand ein Gast auf, schlenderte pfeifend zum Fenster, streckte sich und sagte: »Also, wenn ihr den Korte sucht, dann würde ich an eurer Stelle jetzt mal ganz genau hinkucken. Der macht nämlich hier gleich einen gepflegten Abgang. Glück auf, die Herren!« Dann sprang er aus dem Fenster. Die Polizisten waren so verdutzt, dass sie ein paar Minuten brauchten, bis sie kapierten, wer da grade vor ihnen aus dem Fenster gehopst war.
Ganz so viel Glück hatte Korte aber nicht immer. Eines Tages entdeckte ein Bauer sein Hauptquartier und meldete es der Polizei. Die rückte sofort aus und umstellte den Zugang zur alten Zeche. Der Oberpolizist rief: »Korte, wir wissen, dass du da drin bist. Komm sofort raus!« Korte antwortete: »Ich denk gar nicht dran.« Der Polizist brüllte: »Du sollst rauskommen, sofort!« Korte lachte nur: »Wenn ihr mich unbedingt haben wollt, dann kommt doch rein und holt mich. Allerdings kriegt der Erste, der hier seinen Kopf reinsteckt, meinen Knüppel auf die Rübe. Also, ich warte …« Und da keiner der Polizisten scharf darauf war, verprügelt zu werden, beschlossen sie, bis zum Abend abzuwarten, um Korte im Schutz der Dunkelheit zu überrumpeln.
In der Zwischenzeit aber hatte sich herumgesprochen, dass Korte in der alten Zeche saß und die Polizei ihn verhaften wollte. Von überall her strömten die Leute herbei, um dem Spektakel beizuwohnen: Zunächst kamen Kortes Opfer, die Kaufleute, die Grubenbesitzer und reichen Bauern. Aber dann erschienen auch arbeitslose Bergleute und sogar einige bisher unerkannt gebliebene Mitglieder aus Kortes Bande. Die von Korte Bestohlenen riefen: »Komm raus, du Schabe, wir wollen unser Eigentum zurück!« »Na, wo isser denn der tolle Räuberhauptmann? Traut sich wohl nicht raus?« Auf einmal hörte Korte aber eine Stimme, die ihm bekannt vorkam: »Korte, komm raus und stell dich!« War das nicht der dicke Struck, einer seiner treuesten Miträuber? Korte dachte nach. Wollte Struck etwa wirklich, dass er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbrachte? Nee, nee, da musste was anderes dahinterstecken. Vielleicht hatten seine Freunde einen Plan, um ihn zu befreien …
Korte beschloss, sein Schicksal in die Hände der Männer zu legen, denen er in den letzten Jahren immer vertraut hatte. Er kroch aus der Zeche. Sofort stürzte sich der Mob brüllend auf ihn: »Du Dieb, jetzt gibt’s was auf die Backen!« Aber auch seine Freunde, die draußen gewartet hatten, stürzten sich auf ihn. Die einzige Lampe, die die Dunkelheit erhellte, ging zu Bruch, und das Chaos brach aus: Man hörte Schreie, jeder rangelte mit jedem, Knüppel sausten durch die Luft. Die verwirrten Polizisten standen mittendrin und brüllten: »Auseinander, aufhören!« Dann hörte man plötzlich jemanden rufen: »Ich hab ihn. Hier is Korte!« Aber zwei Sekunden später brüllte jemand aus einer anderen Ecke: »Quatsch, hier ist der Hund, ich brauche Handschellen!« Und wieder einen Moment später riefen zwei im Chor: »Ihr seid doch bescheuert, kommt hier rüber, wir haben ihn geschnappt!«
Irgendwann gelang es den Polizisten, eine neue Lampe anzuzünden. Und als sie allen gefangenen Kortes nacheinander ins Gesicht leuchteten, war kein einziger richtiger dabei: Es waren Bauern, Knechte und sogar ein Zechenbesitzer. Alle hatten ordentlich auf die Mütze bekommen und hielten sich ihre geschwollenen Backen und blutenden Nasen. Korte aber hatte das von seinen Leuten veranstaltete Durcheinander genutzt und war verduftet. Und wurde nie wieder gesehen.
Man erzählt sich, er sei nach Holland geflohen und von dort mit dem Schiff nach Amerika ausgewandert. Ob er da allerdings als Bergmann arbeitete, Cowboy wurde oder vielleicht doch als »Willy the Korte« Banken ausraubte und das Geld armen Farmern schenkte, wissen wir nicht. Letzteres könnte man sich aber gut vorstellen. Oder wie man im Ruhrgebiet sagen würde: Aber sicher!
Ruhrgebietswörterbuch
Stüllchen Butterbrot
Kumpel Bergmann
was auf die Omme geben schlagen
- Sauerländer Verlag
Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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