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Ein Apfel kommt selten allein

 
Illustration: Graubner

Eine Geschichte von Hubert Schirneck (Text) und Sylvia Graupner (Illustration)

Zugegeben, ein bisschen verrückt war der Bär schon, und viele behaupteten, es läge daran, dass er ein Radio besaß. Mit dem Radio konnte er Nachrichten aus der ganzen Welt empfangen, und er hörte viele interessante Dinge. Seine Freunde waren der Meinung, dass ihm das Radio Flausen in den Kopf setzte. Jedenfalls steckte er immer voller Ideen. Es gab tausend seltsame Dinge auf der Welt, über die er nachdenken musste.

Und wenn er einmal wieder grübelnd durch den Wald ging und nichts hörte und nichts sah, dann sagten die anderen: »Typisch Bär!«, und gingen kopfschüttelnd weiter. Im Übrigen war er ein Brillenbär. Nicht, weil er eine Brille trug (seine Augen waren in Ordnung), sondern weil sein Fell im Gesicht so aussah, als würde er eine tragen. Brillenbären haben sowieso und von Natur viel mehr Grips als Grizzlies und Braunbären und all die anderen.

Eine besondere Vorliebe hatte der Bär für Sprichwörter. Wenn er ein Sprichwort hörte, dann schrieb er es sofort auf einen Zettel, um es nie wieder zu vergessen. Allerdings war er ziemlich langsam und ziemlich vergesslich. Sehr oft vermischte er die Sprichwörter miteinander oder vergaß die Hälfte. Auf einem der Zettel stand zum Beispiel der halbe Satz: »Was du heute kannst besorgen, …« Der Rest war dem Bären nicht mehr eingefallen, weil im entscheidenden Moment die Bleistiftspitze abgebrochen war. Deshalb konnte er sich partout keinen Reim auf dieses halbe Sprichwort machen. Manchmal stöberte er in all den Zetteln und fand ein Sprichwort, das er schon wieder vergessen hatte.

Zum Beispiel dieses: »Ein Apfel kommt selten allein.« Was mochte das wohl bedeuten? Dass Äpfel besonders gesellig sind? Dass ein Apfel nie allein aus dem Haus geht? Er verstand das alles durchaus nicht, aber was machte das denn. Es war ein schöner Satz, und darauf kam es schließlich an.

Also machte er ihn zu seinem Lieblingssatz und benutzte ihn sogar, um seine Freunde zu begrüßen. Wenn er jemandem begegnete, sagte er nicht »Guten Tag« oder »Hallo« oder »Na, heute schon was gegessen?«, sondern er sagte: »Ein Apfel kommt selten allein.« Die anderen, wie immer, schüttelten die Köpfe: »Typisch Bär!«

Der Bär war überzeugt, dass dieses Sprichwort einen tieferen Sinn haben musste, den es zu erkunden galt. Also musste er die Gewohnheiten der Äpfel studieren. Er saß stundenlang neben einem Kornapfelbaum und wartete. Die Äpfel taten aber nicht viel. Sie hingen am Baum und sonst nichts. Manchmal nickte der Bär in der Wiese ein, schreckte später hoch, murmelte: »Was passiert? Hm, wohl nichts.«

Eines schönen, federleichten Morgens traf er seinen Freund, den Löwen. »Ein Apfel kommt selten allein«, sagte der Bär fröhlich. »Aber wer«, sagte der Löwe, »wer von uns beiden ist denn ein Apfel? Niemand, siehst du. Ein Apfel kommt auch nicht, nicht mal zu zweit oder zu dritt. Ein Apfel fällt höchstens, wenn er reif ist, vom Baum. Dann aber allein.« »Das ist doch nur ein Sprichwort«, sagte der Bär sanft. Diesem Löwen musste man aber auch wirklich alles erklären. »Aber ich habe mich erkundigt«, erwiderte der Löwe. »So ein Sprichwort gibt es gar nicht. Du hast da wohl was Falsches gehört.« »Ach ja?« fragte der Bär. »Und bei wem hast du dich erkundigt?« »Bei Luise.« »Bei Luise?« »So ist es.«

Der Bär war beeindruckt. Luise war die Freundin des Löwen, und sie war sehr klug. Aber was war jetzt mit dem Sprichwort? Hatte das Radio ihn belogen? Sein Radio? »Ganz bestimmt nicht«, sagte der Löwe. »Vielleicht hast du dir das Sprichwort nur falsch gemerkt, ganz bestimmt sogar.« Die Angelegenheit war dem Bären peinlich. »Lieber Freund«, sagte er ernst, »ich danke dir für dieses nette Gespräch. Muss jetzt nach Hause. Habe zu tun.« »Was hast du denn zu tun?« »Abendessen. Mach’s gut.«

Der Bär machte sich auf den Heimweg. Sein Sprichwort, falsch! Haha! Unmöglich! Wie sollte es denn sonst lauten? Vielleicht Ein Apfel kommt immer allein oder Ein Apfel fällt nach oben oder Zwei Äpfel sind noch keine Fußballmannschaft? ›Blödsinn!‹, dachte der Bär. Außerdem dachte er, dass Luise bestimmt recht hatte und dass die Apfel-Angelegenheit ein für allemal ein Ende haben sollte.

Am nächsten Tag begutachtete er seinen Zettelberg und suchte sich ein anderes Sprichwort heraus. Zufrieden mit seiner Entscheidung machte er sich auf einen kleinen Erkundungsgang in die nähere Umgebung.

Als er später eine Ente traf, sagte er beiläufig: »Ein Unglück fällt nicht weit vom Stamm.«

»Typisch Bär«, schnatterte die Ente und glitt leise plätschernd in den Tümpel, in dem sie wohnte.

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Hubert Schirneck ist ein guter Freund des Brillenbären und lebt als Schriftsteller in Weimar. Früher hat er jedoch auch andere Berufe ausgeübt. Unter anderemwar er Löwenzahndompteur, Traumfänger und Fluglehrer für junge Zaunkönige. Nebenberuflich ist er Sprichwort-Erfinder.  (www.schirneck.de)

Sylvia Graupner wurde 1973 geboren, studierte Bühnenbild in Dresden und Grafik Design / Illustration in Leipzig, und schloß ihr Studiumals Meisterschülerin ab. Seit demarbeitet sie für verschiedene Kinder – und Schulbuchverlage, sowie im Trickfilmbereich. Die schönen gemeinsamen Büchermit Hubert Schirneck sind schon in vielen Sprachen erschienen. (www.graupner-illustration.de)

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