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Oh Schreck, oh Graus!

 

Eine Weberknecht, fotografiert von Bruce Marlin

Niemand mag Weberknechte. Das ist total ungerecht! Denn diese Tiere sind spannend – und uns Menschen ähnlicher, als wir denken

Von Urs Willmann

Gerade jetzt, wo es kalt wird, suchen sie wieder die Nähe des Menschen, weil sie die Wärme seiner Wohnung mögen: die Weberknechte. Sie tun niemandem etwas zuleide, denn sie haben keine Giftdrüsen. Sie gehen auf endlos langen Beinen: ein Merkmal, das unter Menschen als attraktiv gilt. Und sie fressen unsere Feinde, die Mücken. Aber obwohl diese Tiere äußerst häuslich, nützlich, ungefährlich und im Prinzip schön sind, hat sie keiner gern. Niemand liebt Weberknechte. Die Kinder nicht, und schon gar nicht die Putzfrauen, die sofort mit dem Rohr des Staubsaugers hinauf in den Winkel eines Zimmers fuchteln, wenn sie dort etwas Langbeiniges entdecken.

Dabei sind Weberknechte gar keine Insekten – wie Schnaken oder Moskitos. Und sie sind auch keine Spinnen. Mit Letzteren, den Webespinnen oder Echten Spinnen, sind sie aber immerhin nah verwandt. Denn Weberknechte zählen zu den Spinnentieren, genauso wie die Milben und die Skorpione.

Es gibt unter den Menschen ganz seltene Ausnahmen, nämlich einige Exemplare von Wissenschaftlern, die Spinnentiere so sehr mögen, dass sie sich ihr ganzes Forscherleben lang mit den Viechern auseinandersetzen. Diese zoologischen Freaks kriechen auf ihren Expeditionen durch Buschlandschaften, Bergwälder und Laubhaufen, immer auf der Suche nach neuen Spezies. Bislang haben sie 6000 verschiedene Weberknechtarten entdeckt.

Zwei Dinge unterscheiden die Weberknechte grundsätzlich von den Spinnen – wer dies weiß, verwechselt sie nicht mehr mit den Zitterspinnen, die sich auch häufig in den Zimmerecken herumdrücken. Seht Ihr in den nächsten Wochen so ein langbeiniges Exemplar, das auf der Suche nach einem Winterquartier durch das Fenster ins Schlafzimmer geschlüpft ist, dann achtet auf Folgendes: Weberknechte besitzen weder Spinndrüsen noch eine Taille. Sie weben keine Netze. Und anders als bei den Spinnen bilden bei ihnen Hinter- und Vorderkörper ein einziges Stück.

Weberknechte werden nicht nur oft verwechselt, sondern auch unterschätzt. Ihre Vielfalt hat sich kaum herumgesprochen. Sie gelten als grundsätzlich grau, aber es gibt sie auch in Gelb, in Rot oder in bläulichem Farbton. Respekt sollte man ihnen allein schon deswegen entgegenbringen, weil sie seit 400 Millionen Jahren unseren Planeten bevölkern. Sie gehören zu den Oldies im Tierreich – jeder Klimaveränderung haben sie sich angepasst. Uns moderne Menschen dagegen gibt es erst seit rund 100000 Jahren.

Worüber man sich auch wundern kann, ist ihr Name. Lustigerweise haben sie in fast allen Sprachen seltsame Bezeichnungen verliehen bekommen, von denen viele an arbeitende Männer erinnern. Im deutschen Volksmund heißen sie auch Schneider, Schuster oder Zimmermann. In englischsprachigen Gegenden nennt man sie harvestman (Ernteknecht), in Frankreich faucheux (Schnitter) – vermutlich, weil man sie oft zur Erntezeit auf Feldern trifft.

Trotz der menschlichen Namen unterscheiden sie sich natürlich in einigen Details von uns. Wir haben, wie alle Säugetiere, innen ein Skelett, das aus Knochen besteht. Daran setzen die Muskeln an, und außen ist die weiche Haut. Die Weberknechte sind genau andersherum konstruiert. Am stabilsten ist ihre Außenhülle. Dieser Panzer übernimmt die Funktion des Skeletts, und an dessen Innenseite sind die Muskeln befestigt.

Mit ihren beiden winzigen Augen, die über dem Kopf auf einem Hügel sitzen, sehen sie nicht viel. Stattdessen verlassen sie sich aufs Riechen, auf den Geschmackssinn und aufs Tasten. Sechs Beine reichen ihnen zum Gehen: So können sie das zweitvorderste Paar als Ersatzantennen benutzen. Dass sie diese Tastbeine (mit denen sie wohl sogar riechen können!) wild hin und her bewegen, mag dazu beitragen, dass wir Weberknechte als seltsam empfinden.

Trotzdem sind sie uns auch überraschend ähnlich, beim Essen zum Beispiel. Wer futtert schon gerne jeden Tag dreimal Suppe? Spinnen tun das: Die würgen Verdauungsflüssigkeit aus, zersetzen so ihre Nahrung und schlürfen sie dann. Weberknechte sind eher wie wir: Ab und zu nehmen sie gerne Flüssiges (Pflanzensäfte) zu sich, aber nicht ausschließlich. Als einzige Spinnentierart fressen sie ihr Abendbrot brockenweise. Dass sie mit dem Verdauen warten, bis das Essen im Magen ist, erscheint uns appetitlich. Gewöhnungsbedürftig dagegen ist, dass sie mit dem Essen nicht immer warten, bis ihr Futter tot ist.

Die größte Neuigkeit in Sachen Weberknechte nun zum Schluss: Eine neue Spezies breitet sich seit wenigen Jahren in Deutschland aus und verdrängt die einheimischen Arten. Die Tiere gehören zur Gattung Leiobunum und sehen nicht viel anders aus als die bekannten. Außer, dass sie ein wenig größer sind. Extrem auffallend ist jedoch ihr Benehmen. Statt als Einzelgänger herumzustaksen, treten sie in Horden auf. Mehrere Hundert Tiere ballen sich zu einem Klumpen zusammen, zum Beispiel unter einem Gartentisch oder hinter einer Regenrinne. Droht ihnen Gefahr, beginnen sie einen Gruppentanz. Dann »pulsiert« der ganze Haufen. Das sieht gefährlich aus und erschreckt mögliche Fressfeinde – und Menschen.

Euch aber, die Ihr so viel über die Weberknechte erfahren habt, macht so ein tanzendes Häufchen bestimmt keine Angst mehr. Stattdessen holt Ihr, wenn Ihr eins entdeckt, ganz entspannt eure Kamera. Mit einem Stecken stupst Ihr den Haufen an, filmt drauflos – und erschreckt mit dem Horrorstreifen Eure Eltern.