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Ein Fest für die Toten

 

© Daniel Mihailescu/ Getty Images

Wer nach Halloween weiterfeiern will, kann das zwei Tage später beim mexikanischen »Día de los Muertos« tun – mit Geistern und auf Friedhöfen

Von Claudia Kniess

Totenköpfe naschen und auf dem Friedhof tanzen? Was die elfjährige Daniela vom mexikanischen Tag der Toten erzählt, hört sich nach einem merkwürdigen Fest an, fast wie aus einem Gruselfilm. El Día de los Muertos heißt der Totentag auf Spanisch und wird immer am 2. November begangen. »Wir feiern, dass die Seelen der Toten zu uns zurückkommen «, sagt Daniela. »Am besten gefällt mir das Essen, Totenköpfe aus weißer Schokolade schmecken gut!«

Familien und Freunde treffen sich zum Fest auf dem Friedhof, und jeder bringt etwas zu essen mit. Sie machen dort Musik und tanzen. Dazu ist alles mit gelben, orangefarbenen und roten Blumen geschmückt. Daniela ist Mexikanerin. In dem Land in Mittelamerika gehen die Menschen ganz anders mit dem Tod um als viele bei uns in Deutschland. Der Día de los Muertos ist eines der wichtigsten Feste in Mexiko und wird fröhlich und farbenfroh gefeiert. Wochenlang bereiten sich die Familien darauf vor, backen, kochen und schmücken ofrendas, kleine Altäre für die Verstorbenen. Danielas Familie zum Beispiel stellt jedes Jahr einen Altar für den Großvater auf, der genau in dem Jahr starb, als Daniela geboren wurde. »Wir stellen ein Foto von Opa auf den Altar und sein Lieblingsessen. Außerdem spielen wir Lieder, die Opa gern mochte.«

Obwohl Daniela ihren Großvater gar nicht kennengelernt hat, kann sie ihm so an diesem Tag im Jahr nahe sein. »Einmal lag ich am Día de los Muertos in meinem Bett und hatte das Gefühl, dass mein Opa tatsächlich neben mir ist.« Gruselig findet Daniela das überhaupt nicht. Die Toten gehören für die Menschen in Mexiko einfach dazu.

Auf jeder ofrenda stehen neben einem Foto des Verstorbenen und seinem Lieblingsessen noch andere Sachen, die er gern mochte, ein Instrument oder ein Buch vielleicht. Wenn ein Kind gestorben ist, legen die Eltern Lieblingsspielsachen auf den Altar und Süßigkeiten wie calaveras de dulce, kleine Totenköpfe aus Zuckerguss. Wichtig sind die leuchtend gelben Cempasúchil-Blüten, mit denen viele Familien auch den Weg zum Friedhof und die Gräber schmücken. Sie sollen den Toten den Weg zeigen, denn nach einer alten Überlieferung können die Seelen Gelb am besten sehen.

Salz, Totenbrot, duftendes Copalharz und Symbole für die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft gehören ebenfalls auf den Altar: Für die Luft papel picado, Scherenschnittbilder aus dünnem, buntem Papier, die im Wind flattern. Kerzen sind Symbole für das Feuer. Wasser steht bereit, damit die Seele nach der langen Wanderung aus dem Totenreich etwas trinken kann (und für den Fall, dass sie sich auch waschen möchte, liegt ein kleines Stück Seife daneben). Für das Element Erde schließlich stehen deren Früchte, also das Essen.

Ursprünglich war das Totenfest auch eine Art Erntedank: Die Ureinwohner Mexikos, Maya und Azteken, feierten einen ganzen Monat lang, nachdem die Ernte eingebracht war, um die Verstorbenen an den Früchten teilhaben zu lassen. Totenköpfe waren damals allerdings nicht aus Pappmaschee oder Zuckerguss wie heute.
Die Ureinwohner glaubten, dass die Götter sich selbst geopfert hatten, um die Erde und die Menschen zu erschaffen. Deshalb opferten sie wiederum sich, um das Leben der Götter und die Welt zu erhalten.

Für uns heute hört sich das schrecklich blutrünstig an, die Ureinwohner Mexikos sahen den Tod aber nur als Beginn einer neuen Stufe des Lebens. Familien mit indigenen Wurzeln, also Nachfahren der Maya und Azteken, glauben heute noch fest daran, dass die Verstorbenen im Totenreich Mictlan Prüfungen ablegen und irgendwann im endgültigen Omeyocan gut aufgehoben sind. Christliche Familien dagegen denken, dass die Toten im Himmel auf den nächsten Día de los Muertos warten.

Es gibt in Mexiko also zwei Vorstellungen von dem, was uns nach dem Tod erwartet. Das liegt an der Geschichte des Landes: Als vor 500 Jahren die spanischen Eroberer an der mexikanischen Küste landeten, wollten sie den Menschen ihre christliche Religion und ihre Totenfeste aufdrücken und den ursprünglichen Feiertag abschaffen. Bald merkten die Spanier aber, wie stark die Menschen an ihrem Fest hingen, sie feierten es schließlich schon seit 3000 Jahren. Deshalb legten die Eroberer das Totenfest auf den europäischen Feiertag Allerseelen und ließen das mexikanische Volk weiterhin seine Bräuche feiern.

Mit dem, wie heute in Europa Allerseelen (und einen Tag vorher Allerheiligen) gefeiert wird, hat der Día de los Muertos wenig gemein: Bei uns besuchen vor allem katholische Menschen die Gräber verstorbener Verwandter. Manche Leute ziehen sich in gedeckten Farben an, entzünden eine Kerze für die Verstorbenen, bringen Blumen ans Grab oder spenden im Gedenken an die Toten etwas für einen guten Zweck. Auch mit Halloween und dem Gruselklamauk, der heute veranstaltet wird, darf man das mexikanische Fest nicht verwechseln.

Am kommenden Dienstag wird Daniela übrigens nicht auf dem Friedhof tanzen und feiern. Die Elfjährige lebt mit ihrer Familie seit vier Jahren in Berlin. Hier würden die Menschen sich sehr wundern, wenn zwischen den Gräbern ein Fest tobt. Schulfrei könnte Daniela schon bekommen, denn sie besucht eine deutsch-spanische Grundschule. »Aber mir ist die Schule so wichtig, dass ich lieber hingehe und später mit meiner Familie und vielen anderen Mexikanern in einem Restaurant feiere«, sagt das Mädchen. Sie machen dann zwar vieles genauso wie in der Heimat. Trotzdem möchte Daniela den Día de los Muertos gern einmal wieder zusammen mit ihren beiden Omas, allen Tanten und so vielen anderen Verwandten, dass sie sie gar nicht aufzählen kann, in Mexiko feiern. Natürlich auf dem Friedhof!