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Ein Junge, zwei Leben

 

Jawid in Hamburg, seiner neuen Heimat / © Arne Mayntz für DIE ZEIT/www.mayntz.net

Mit 14 Jahren begann für Jawid eine gefährliche Reise. Er verließ Kabul in Afghanistan und kam nach Deutschland. Heute kämpft er darum, bleiben zu dürfen


Von Hauke Friedrichs

Die Sonne scheint in Jawids Zimmer hinein. Wie alle Jugendlichen genießt er die Schulferien in Hamburg. Jawid streift sich seine schwarzen Boxhandschuhe über. Er schlägt mit der rechten Faust gegen einen kleinen Boxsack, der von der Zimmerdecke baumelt. Jawid hat in Kabul boxen gelernt, in seinem alten Leben. Damals streifte er heimlich die Boxhandschuhe über. Sein Onkel durfte nicht wissen, dass er Sport machte. Für Boxen habe Jawid keine Zeit, sagte der Onkel, er verbot Jawid auch, zur Schule zu gehen, Freunde zu treffen. Er zwang den Jungen, jeden Tag als Straßenhändler zu arbeiten, im Sommer musste Jawid Obst verkaufen, im Winter Socken. Wenn er abends mit zu wenig Geld nach Hause kam, dann schlug der Onkel ihn, sagt Jawid.

Heute muss Jawid sich nicht mehr zum Sport schleichen. Heute kann er boxen, wann er Lust hat. Jawid lebt nun seit anderthalb Jahren in Hamburg.

Jawid heißt eigentlich anders, die Redaktion hat ihm einen anderen Namen gegeben, um ihn zu schützen. Sein Onkel soll nicht erfahren, wo er lebt. Jawid ist 16 Jahre alt, er ist schlank, und hat viele Muskeln. Man sieht, dass er gerne ins Fitnessstudio geht und Gewichte stemmt. Seine schwarzen Haare hat er nach oben gegelt. Jawid lacht gern – nur wenn er von seinem alten Leben in Afghanistan erzählen soll, dann wird er stumm.

In Afghanistan, einem Land in Asien, herrscht seit mehr als 30 Jahren Bürgerkrieg. Bei den Kämpfen sterben viele Menschen. Auch Jawids Eltern kamen ums Leben, als eine Bombe explodierte. Jawid musste danach zu dem Onkel ziehen. Der verlor oft Geld beim Glücksspiel, auch Jawids Einnahmen aus dem Straßenverkauf verspielte er. Jawid sollte dann noch mehr Geld verdienen. Für den Jungen begann eine harte Zeit. Er beschloss zu fliehen.

Ein Mann brachte Jawid bis nach Europa und bekam Geld dafür. Schlepper nennt man so jemanden. 14 Jahre war Jawid alt, als seine Reise begann. Er legte eine Strecke von fast 7000 Kilometern zurück, mehr als ein halbes Jahr lang war er unterwegs. Er reiste über die Türkei nach Griechenland und dann über Osteuropa weiter nach Deutschland.

Mit dem Schlepper kam Jawid in Hamburg am Hauptbahnhof an. Der Mann zeigte ihm die Polizeistation und sagte, dass man Jawid dort helfen werde. Jawid versuchte den Polizisten seine Geschichte zu erzählen, aber er konnte kein Deutsch und die Beamten kein Dari, eine der Sprachen Afghanistans.

Jawid hatte keine Ausweispapiere bei sich. Die Polizisten nahmen ihn fest und sperrten ihn zwei Tage in eine Zelle ein, erzählt er. Dann kam er in ein Auffanglager für Ausländer, und schließlich erhielt er im Dezember 2011 einen Platz in einer Wohngemeinschaft. Er lebt mit fünf anderen Jungen aus der Türkei, Ecuador, Polen, Afghanistan und Deutschland zusammen. Rund um die Uhr ist mindestens ein Betreuer anwesend. Die Jugendlichen haben wie Jawid keine Eltern, die sich um sie kümmern können. Da Jawid in Deutschland keine Verwandten hat, bekam er einen Vormund zugeteilt. Das ist ein Erwachsener, der sich um ihn kümmert.

»Ich vermisse meine Eltern«, erzählt Jawid. Manchmal geht er auf einen Friedhof und denkt an sie. Jawid kannte niemanden in Hamburg, als er im Oktober 2010 dort ankam. Hier war ihm alles fremd, die Kultur, das Essen, die Menschen. Heute liegt der Schreibtisch in seinem Zimmer voller Bücher, Grammatiktabellen stapeln sich neben Vokabellisten. Mittlerweile spricht Jawid gut Deutsch. Er kann Jugendbücher und Comics verstehen, dabei konnte er vor wenigen Monaten die Schrift noch nicht lesen. Nicht nur beim Boxen, auch in der staatlichen Fremdsprachenschule kämpft er sich durch. Er habe sehr gute Noten, sagt sein Betreuer. Im kommenden Jahr will er den Hauptschulabschluss machen. Danach könnte er weiter zur Schule gehen – oder eine Lehre zum Tischler machen. Das geht aber nur, wenn Jawid in Deutschland bleiben darf.

Jawid hat bisher von den Behörden eine sogenannte Duldung erhalten. Er darf hier bleiben, solange er noch nicht erwachsen ist und noch zur Schule geht. Jawid möchte aber auch nach dem Schulabschluss im nächsten Jahr weiter in Hamburg leben. Jawids Betreuer und er haben deswegen bei der Organisation »Fluchtpunkt« Hilfe gesucht, die Flüchtlinge berät. Die Mitarbeiter unterstützen Jawid nun vor Gericht. Denn er hat geklagt, um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Manchmal dauere so ein Verfahren zwei Jahre, sagt die Juristin. Sie macht Jawid Mut. Denn er hat Angst, dass er zurück nach Kabul geschickt wird. »Dort herrscht Krieg«, sagt er. »Kinder dürfen nicht zur Schule gehen. Ich möchte nicht zurück.«

Aus Afghanistan hat er fast nichts nach Deutschland mitgebracht. Nur die Kleidung, die er trug, eine kleine Umhängetasche und einen Gebetsteppich. Die Jeans von damals hat er aufbewahrt. Sie erinnert ihn an ein halbes Jahr Flucht über Tausende Kilometer. Sie passt ihm nicht mehr, er ist ihr entwachsen wie seinem früheren Leben in Afghanistan.

Jawid hat jetzt viele Freunde in Hamburg. Sein bester Kumpel kommt aus Afghanistan und ist in Deutschland aufgewachsen. Jawid besucht die Familie oft, dort kann er Dari sprechen, und manchmal gibt es afghanisches Essen. Das freut ihn besonders – denn nicht alle deutschen Gerichte mag er gern, vor allem Kartoffeln schmecken ihm nicht.