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Kuh auf der Kreuzung

 

Ein gläubiger Hindu mit seiner geschmückten Kuh in der Großstadt Bombay/ © Getty Images

In Indien leben Affen, Hunde und Rinder mitten in der Stadt. Sie gehören niemandem, müssen aber gut behandelt werden

Von Hanna und Lea Yamamoto

Merkwürdig, denkt man: In einer so großen Stadt wie Delhi, der Hauptstadt von Indien, werden Autobahnen und U-Bahn-Stationen gebaut – und trotzdem darf sich eine Kuh mitten auf einer Kreuzung schlafen legen. Für die Inder ist das ganz selbstverständlich. So wie die Kuh auf der Kreuzung leben in ihrem Land viele Tiere frei und wild, direkt neben den Menschen. Man muss nicht in einen Zoo gehen, um sie zu sehen. Allein in Delhi bevölkern mehr als 5000 Affen, 35000 Kühe und 250000 Hunde die engen Straßen; Affen und Hunde vermehren sich besonders rasch.

Die meisten Inder sind Hindus. In dieser Religion sind die Tiere eine Verbindung zu Gott. Kühe sind für die gläubigen Inder besonders heilig. Sie zu schlachten ist ein schweres Verbrechen. Wer eine Kuh im Straßenverkehr anfährt, dem droht ein Jahr im Gefängnis. Aber auch Hunde müssen gut behandelt werden, obwohl sie in Delhi jeden Tag rund 500 Menschen beißen. Wir sind Kinder-Reporterinnen und haben uns auf die Spuren der Tiere begeben.

Kühe

Auf einer kleinen Kreuzung im Süden Delhis ist viel los. Handbemalte Laster hupen, Motorräder brummen. Überall stehen Mangoverkäufer mit ihren Holzwagen. Dennoch frisst am Straßenrand seelenruhig eine Kuh vom Müllhaufen. Ihr dunkelbraunes Fell blitzt in der Sonne. Dann dreht sie sich um und folgt ein paar Schulkindern auf dem Nachhauseweg. Gemächlich trottet die Kuh an Schneiderläden, Süßwarengeschäften, Getränkebuden und Fleischerläden vorbei. Ab und zu bleibt sie stehen, um eine Plastiktüte oder einen Mangokern abzulutschen. Der Rücken der Kuh ist knochig und hat ein paar Kratzer. Bauch und Euter sind dick. Ob sie ein Kalb erwartet?

Vor einem Gemüseladen bleibt sie stehen und schnappt nach dem verfaulten Salat in einer Plastikkiste. Doch Pech gehabt: Der Ladenjunge hebt einen Stock und scheucht sie mit lauten Rufen davon. Aber die Kuh findet auch anderswo Fressen.

Ein paar Schritte weiter wartet vor einem Kloster Futter auf sie. Ein Mönch in einem orangefarbenen Stoffgewand hat gekochten Reis und Teigtaschen für die Straßenkühe bereitgestellt. Er gibt den Tieren das Gleiche zu essen wie den Menschen. »Das Füttern ist für uns eine Gottesaufgabe«, erklärt der Mönch. Die braune Kuh mampft in großen Bissen den Reis weg. Dazu schlürft sie Wasser aus einer niedrigen Steintränke, die für sie in der Wand des Klosters eingebaut ist.

Zwei Kinder spielen mit Hundewelpen/ © Getty Images

Hunde

In einer kleinen Basargasse säugt eine Hündin ihre Jungen. Sie hat cremefarbenes Fell, ihre Rippen scheinen durch. Plötzlich reißt sie sich von den Welpen los, läuft über eine belebte Kreuzung und setzt sich auf einen Müllhaufen in der Straßenmitte. Dort erledigt sie ihr Geschäft, während rundherum die Autos hupen. Dann schaut sie sich nach allen Seiten um und läuft zu einer Hühnchenbude. Sie hockt sich hin und wartet darauf, dass Menschen ihr Essensreste zuwerfen. Andere Hunde traben herum, legen sich unter parkende Autos und ruhen sich im Schatten aus.

In den engen Gassen der Altstadt leben Hunde und Menschen dicht zusammen. Die Hündin wartet eine Weile vergeblich auf Nahrung und legt sich dann neben einer grünen Bank nieder. Ein Mann mit kariertem Hemd setzt sich und beginnt sie zu kraulen. Er sagt lachend: »Das ist mein Hund.« Wir antworten: »Aber sie ist doch eine Straßenhündin.« – »Ja, klar«, entgegnet er und deutet mit einer Handbewegung zum Himmel. Er will damit sagen, dass sie ein freies Tier ist, das irgendwie jedem gehört, aber vor allem das macht, was es gerade will.

Ein Affe wird aus der Hand gefüttert/ © Getty Images

Affen

An einer 800 Jahre alten Festung und der davorliegenden Verkehrsstraße leben etwa 20 Affen. Sie haben graubraunes Fell, haarlose rosafarbene Gesichter, leicht rote Pos und werden knapp 50 Zentimeter groß. Ein Affenbaby krallt sich an der Mutter fest, die sich gerade von einem Baum herunterhangelt und zu einer Wassertonne springt. Die hat der Gärtner Rajaram aufgestellt. Das Affenbaby badet, die Mutter trinkt. Rajaram guckt zu, er trägt ein weißes Unterhemd, sein Bauch steht vor. Schon zweimal wurde er von Affen gebissen. Er zeigt auf eine Narbe am Oberarm, sagt, er sei sogar im Krankenhaus gewesen. Affen sind die wildesten und auffälligsten Tiere in Delhi.

Die Menschen in Delhi haben einige Probleme mit ihnen. Manchmal fahren die Affen Bus oder U-Bahn. Sie dringen in Wohnungen ein und stehlen Essen und Kleider. Einmal fiel ein Vizebürgermeister Delhis von seinem Balkon und starb, nachdem eine Affenbande ihn erschreckt hatte.

An der Festung kommt die Affenmutter näher, schnappt sich eine Mülltüte und stochert drin herum. Ihr Junges sitzt jetzt auf ihrem Schoß. Der Gärtner Rajaram füttert die Tiere regelmäßig. Als Hindu betet er Hanuman an. Das ist der Affengott, der für Treue und Stärke bekannt ist. Auch ganz arme Menschen, die unter Plastikplanen zwischen der Festung und der Straße leben, geben den Affen von ihrem Brot ab. »Hanuman, Hanuman!«, rufen sie und deuten auf die Affen.