Leo Lionni erzählt nur scheinbar abstrakt von so etwas Wichtigem wie Freundschaft
Von Anna von Münchhausen
Moment mal – ein Bilderbuch ohne richtige Bilder, ohne Kinder, Tiere, Sonne und Tüdelü? Das einfach nur daherkommt mit… Klecksen, total abstrakt? Hätte Leo Lionni erst mal Kita-Erzieher und Bilderbuch-Profis gefragt, bevor er sich an die Arbeit machte, wäre dieses Buch vermutlich nie verlegt worden. Abstraktion für Kinder – wo gibt’s denn so was? Ob es am Ende dem Zufall, gewisser Chuzpe oder doch so etwas wie einem Konzept zu verdanken war, dazu hat sich der Amerikaner aus jüdischer Familie nie geäußert. Und das war klug von ihm, denn diese akademische Frage hatte sich umgehend erledigt, als klar wurde, was für eine grandiose Idee Lionni, der Maler, Grafiker, Designer und Kunstsammler, da gehabt hatte. Das kleine Blau und das kleine Gelb, in Amerika 1959 und auf Deutsch erstmals 1962 erschienen, eroberte die Herzen von Kindern, Eltern, Großeltern – und sogar jene von Pädagogen.
Die handelnden Figuren sind Kleckse, wie aus Buntpapier herausgerissen, aber – raffiniert, Leo! – jeder mit unregelmäßigem Umriss. Individualität ist also gegeben. Was ihnen passiert, ist schnell erzählt: Klecks Blau und Klecks Gelb sind Nachbarskinder, besuchen sich: »Sie spielen an den Straßenecken / Sehr gerne Fangen und Verstecken«. So weit, so normal. Erst als sie sich umarmen, passiert etwas Seltsames: »Da wurden sie durch diesen Spaß / Bei der Umarmung grün wie Gras.« Was für ein Schreck! Aber dann…
Lionni hat das klassische Kindchenschema, den runden Kopf also, der totalen Reduktion unterworfen – und den Klecks gleichzeitig personalisiert. Bestimmt hat Lionnis listige Farbenlehre – Rot, Gelb, Braun und Ocker dürfen auch mitspielen – Horden von Kleinkindern animiert, selbst mit dem Tuschkasten zu experimentieren. Und das ist noch nicht alles. Leo Lionni (1910 bis 1999) war auch Philosoph und bringt in diesem minimalistischen Klassiker noch mehr unter. Nämlich dass Freundschaft, ob nun zwischen Farben, Klecksen oder Menschen, echte Nähe und Erkenntnis ermöglicht. Eine Botschaft, die auch jenseits der Kindheit fasziniert.
Bilderbücher begleiten uns durch unsere Kindheit. Manche holen wir nach langer Zeit wieder hervor, um sie mit Kindern und Enkelkindern anzuschauen. Nach solchen Perlen – Klassikern und neuen Titeln – haben wir gesucht. Jede Woche stellen wir zwei Titel der neuen ZEIT-Edition vor.
1. Eric Carle: Die kleine Maus sucht einen Freund
2. Ernst Jandl/Norman Junge: fünfter sein
3. Christoph Niemann: So funktioniert das!
4. Leo Lionni: Das kleine Blau und das kleine Gelb
5. Ole Könnecke: Das große Buch der Bilder und Wörter
6. Gunilla Bergström: Gute Nacht, Willi Wiberg
7. Ali Mitgutsch: Rundherum in meiner Stadt
8. Wolf Erlbruch/ Rafik Schami: Das ist kein Papagei!
9. Hildegard Müller: Der Cowboy
10. Peggy Rathmann: Gute Nacht, Gorilla
11. Jorge Bucay/Gusti: Wie der Elefant die Freiheit fand
12. Janosch: Oh, wie schön ist Panama
Die komplette Bücherschatzkiste mit zwölf Bilderbüchern gibt es für 99,95 Euro im ZEIT Shop. Der Reinerlös geht an die Stiftung Lesen.