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KinderZEIT Bilderbuchschatz (11): Ein Zirkus-Kunststück

 

Illustration: Gusti/ © Fischer Verlag
Illustration: Gusti/ © Fischer Verlag

Ein Junge und die schwierige Frage nach dem Wert der Freiheit

Schwermütig ist die Natur, sagten die Romantiker. Sie trauert, aber wir wissen nicht, warum. Nur bei den Tieren im Zirkus wissen wir es, bei den Löwen, Tigern und Elefanten. Die großen und mächtigen Tiere leiden, weil sie ihre Freiheit verloren haben. Es merkt nur niemand, jedenfalls die Erwachsenen merken nichts, sie haben keinen Sinn für die tierische Seele und die Schwermut der Kreatur. Nicht weil sie abgestumpft wären; sondern weil Erwachsene selbst Häftlinge sind, eingesperrt ins Freiluftgefängnis der Gesellschaft.

Ganz anders die Kinder. Der kleine Held in diesem Kinderbuch des Argentiniers Jorge Bucay wohnt in einer Stadt, vermutlich in Buenos Aires, er trägt Kniebundhose und Schirmmütze. Der Junge ist vernarrt in die magische Welt des Zirkus, vor allem ist er vernarrt in den zweiten Helden der Bilderbuchgeschichte, in einen riesigen Elefanten. Der Elefant vollführt hinreißende Kunststücke, er stellt seine Geschicklichkeit, seine Macht und Stärke zur Schau, und niemand wird behaupten können, dies mache ihm keinen Spaß. Doch nach der Vorführung lässt er sich willig mit einer Eisenkette an einen kleinen Pflock fesseln. Jetzt sieht er traurig aus. Das Kind rührt der Anblick des mächtigen Elefanten an der Kette, ihn rührt das Bild der majestätischen Kreatur, die sich von den Menschen widerstandslos demütigen lässt.

Warum reißt sich das mächtige Tier nicht einfach los, es wäre doch ein Kinderspiel für einen Elefanten? Warum glaubt das Tier nicht an seine eigene Kraft? Dass es seine Freiheit verloren hat, ist schlimm genug; aber dass es seine Würde verloren hat, das ist unverzeihlich. Deshalb träumt der Junge davon, der Elefant könne sein Selbstvertrauen zurückgewinnen, seine Unabhängigkeit und Würde. Der Elefant soll begreifen, dass er sich jederzeit aus dem Staub machen und wieder ein freier Mensch, pardon: ein freier Elefant sein kann.

Man sieht, bei Bucay geht es um Selbstvertrauen, um das Bewusstsein von Unabhängigkeit und Stärke. Zugleich geht es um den schwierigen Gedanken, dass sich die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu den Tieren spiegelt und dass sie ihnen eine Art »Freiheit« zuschreiben muss, wenn sie selbst frei sein will. Die Bilder, die Bucays Landsmann Gusti dafür gefunden hat, sind so schön und so geheimnisvoll, als hätte sie der Held der Geschichte, der kleine Junge, selbst gemalt. Oder eben der Elefant, wenn er sich in seiner Fantasie die Menschenwelt vorstellt. Das kann er
bestimmt, wir wissen es nur nicht.

bilderbuchschatz

Bilderbücher begleiten uns durch unsere Kindheit. Manche holen wir nach langer Zeit wieder hervor, um sie mit Kindern und Enkelkindern anzuschauen. Nach solchen Perlen – Klassikern und neuen Titeln – haben wir gesucht. Jede Woche stellen wir zwei Titel der neuen ZEIT-Edition vor.

1. Eric Carle: Die kleine Maus sucht einen Freund

2. Ernst Jandl/Norman Junge: fünfter sein

3. Christoph Niemann: So funktioniert das!

4. Leo Lionni: Das kleine Blau und das kleine Gelb

5. Ole Könnecke: Das große Buch der Bilder und Wörter

6. Gunilla Bergström: Gute Nacht, Willi Wiberg

7. Ali Mitgutsch: Rundherum in meiner Stadt

8. Wolf Erlbruch/ Rafik Schami: Das ist kein Papagei!

9. Hildegard Müller: Der Cowboy

10. Peggy Rathmann: Gute Nacht, Gorilla

11. Jorge Bucay/Gusti: Wie der Elefant die Freiheit fand

12. Janosch: Oh, wie schön ist Panama

Die komplette Bücherschatzkiste mit zwölf Bilderbüchern gibt es für 99,95 Euro im ZEIT Shop. Der Reinerlös geht an die Stiftung Lesen.