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Eine Biene wird 100

 

Die Biene Maja und der Grashüpfer Flip auf einer Briefmarke der Deutschen Post aus dem Jahr 1998

Berühmt wurde Maja als Zeichentrickfigur. Doch eigentlich ist sie eine Romanheldin

Von Harald Weiss

Bald fliegen sie wieder, die Bienen. Den Winter über sind sie in ihrem Stock geblieben. Eng aneinandergekuschelt, haben sie sich gegenseitig gewärmt. Wenn jetzt der Frühling kommt, beginnt die Königin Eier zu legen. Drei Wochen später schlüpfen die ersten Arbeiterinnen. Im Frühsommer sind es dann so viele Bienen, dass es im Stock zu eng wird. Mit einem Teil des Bienenvolks schwärmt die Königin aus und macht Platz für eine Nachfolgerin.

Dies ist die Geburtsstunde der Biene Maja, der berühmtesten Honigbiene der Welt. Im spannendsten Moment, den es in einem Bienenstock gibt, wenn »der Schwarm der Revolutionäre« die Stadt verlässt und im Stock »eine neue Königin ausgerufen« wird, kommt sie zur Welt. »Die ältere Bienendame, die der kleinen Maja behilflich war, als sie zum Leben erwachte und aus ihrer Zelle schlüpfte, hieß Kassandra.« Mit diesen Worten beginnt das Buch Die Biene Maja und ihre Abenteuer und mit diesem Buch die einhundertjährige Geschichte der weltberühmten Biene. Als am 9. September 1976 Maja, Willi und Flip das erste Mal im Fernsehen zu sehen waren, da war die Biene Maja aus der Geschichte schon mehr als sechzig Jahre alt. Bienenfreund Willi und Grashüpfer Flip aber kamen erst mit der Zeichentrickserie auf die Welt.

Die Maja des Buches, das 1912 veröffentlicht wurde, hat keine Freunde. Sie verlässt ihren Bienenstock, weil es ihr dort zu eng ist, weil es dort zu viele Vorschriften gibt, weil sie die Welt sehen und die Freiheit genießen will. Ganz auf sich allein gestellt, erkundet sie die Natur. Sie begegnet verschiedenen Insekten, unterhält sich mit ihnen, findet aber niemanden, der so denkt und fühlt wie sie. Eine Ausnahme gibt es: den märchenhaften Blumenelfen. Er erfüllt Majas größten Wunsch, indem er sie zu den Menschen führt. Doch dann löst sich dieser Freund in Nebel auf, und Maja ist wieder allein. Erst ganz am Schluss des Buches, nachdem die kleine Biene aus der Hornissengefangenschaft entkommen ist und ihren heimatlichen Bienenstock vor dem Angriff der Hornissen warnt, findet Maja Freundschaft und Geborgenheit.

Waldemar Bonsels, der das Buch Die Biene Maja und ihre Abenteuer schrieb, kennt heute kaum noch jemand. Als er 1910 mit der Arbeit am Manuskript begann, war er dreißig Jahre alt. Er arbeitete als Schriftsteller und Verleger, machte also Bücher auch aus den Geschichten anderer Menschen. Doch er verdiente mit beidem nicht viel Geld. Seine Frau bat ihn, sich eine Geschichte für die gemeinsamen Kinder auszudenken, und das tat er.

Er schrieb in einem großen Garten, umgeben von duftenden Blumen und dem Summen der Bienen. Wenn ein Kapitel fertig war, las er es seiner Familie und seinem Freund Bernd Isemann vor. Der wohnte im selben Haus in der Nähe von München, arbeitete im selben Verlag und schrieb, wie Waldemar Bonsels, an einer Tiergeschichte für Kinder – nur handelte Isemanns von Ameisen. Bonsels’ Biene Maja wurde 1912 gedruckt und machte den Autor reich und berühmt. Isemanns Geschichte Nala und Re wurde 1920 gedruckt und machte ihn weder reich noch berühmt.

Obwohl das Buch Die Biene Maja und ihre Abenteuer zu Anfang den Untertitel Ein Roman für Kinder trug, war es ein Buch auch für Erwachsene. Es geht darin um das Gefühl des Alleinseins, das Gefühl, niemanden zu finden, der einen versteht. Es geht um das, was das Leben mit sich bringt: Freude, Trauer, Glück und Tod. Weil man so leicht und so schön mit der Biene Maja mitfühlen konnte, lasen so viele Menschen dieses Buch.

Auch Josef Göhlen, der von 1973 an die Kinderredaktion beim Fernsehsender ZDF leitete, hatte als Kind die Biene Maja kennengelernt. Er betreute damals die Zeichentrickserie Wickie und die starken Männer. Die Serie wurde ein unerwartet großer Erfolg. Aber irgendwann war die Serie zu Ende. Und nun? Eine neue musste her!

Da erinnerte sich Josef Göhlen an Maja und ließ in Japan zwei Maja-Serien mit je 52 Folgen herstellen. Die japanischen Zeichentrickstudios hatten schon bei Wickie gut, schnell und bezahlbar gearbeitet. Die insgesamt 102 Folgen mit der »kleinen, frechen, schlauen Biene Maja« war ein noch viel größerer Erfolg als Wickie . Das Titellied wurde ein Hit, Karel Gott, der es sang, bekam sechs Goldene Schallplatten; es gab Hörspiele zur Serie, Rucksäcke, Puzzles, Stoffpuppen, Comichefte, Bastelbögen.

Doch was es nicht mehr gab, das war die Biene Maja, wie sie im Buch von Waldemar Bonsels gewesen war: ohne Krimskrams, ohne Stimme, ohne sichtbare Gestalt, ohne Titellied, ohne Willi, ohne Flip. Aber vielleicht etwas mehr sie selbst.

Der Autor hat über die Biene Maja eine Doktorarbeit verfasst