© Arne Mayntz
Pia hat eine seltene Krankheit. Sie kann nicht laufen und nicht sprechen. Schwimmen geht sie trotzdem – und in die Ferien fliegt sie auch
Von Mathias Krupa
Wie geht man mit einem Rollstuhl schwimmen?, wollte meine Tochter wissen. Gute Frage, dachte ich, als ich mich auf den Weg zu Pia machte. Pia ist sieben Jahre alt und wohnt in Hamburg. Das erste Mal habe ich sie im Winter getroffen. Heute sind wir verabredet, um zusammen zur Schule und danach ins Schwimmbad zu gehen: Pia, ihr Vater Gerold und ich. Gehen stimmt allerdings nicht. Denn Pia wurde mit einer seltenen Krankheit geboren und sitzt deshalb im Rollstuhl. Durch die Krankheit fallen Pia viele Dinge sehr schwer, die für andere Kinder leicht sind. Und manches kann sie gar nicht lernen, zum Beispiel Gehen. Oder Sprechen. Man nennt diese Krankheit Rett-Syndrom. Leider kann man sie bislang nicht heilen.Deswegen fährt ihr Vater Pia morgens mit dem Rollstuhl zur Schule. Der Rollstuhl hat eine Bremse und eine Klingel. Wenn es einmal besonders schnell gehen soll, hängt Pias Vater oder Mutter den Rollstuhl an das Fahrrad – und saust los! Der Weg zur Schule dauert nur zehn Minuten. Zum Glück regnet es heute nicht.
Vor dem Klassenzimmer wartet Cihan. »Hallo, Pia!«, ruft er, als wir hereinkommen. Cihan hat seine dunklen Haare wie ein Irokese geschnitten, in der Mitte stehen sie spitz nach oben. Auch sonst macht er einen ziemlich wilden Eindruck. Pia kann zwar nicht sprechen, das heißt aber noch lange nicht, dass sie nicht antworten könnte. Als Cihan sie begrüßt, legt Pia den Kopf zur Seite und grinst. Die beiden sind Freunde, im Stuhlkreis in der Klasse sitzen sie nebeneinander.
Insgesamt sind zehn Kinder in Pias Klasse, zwei andere Mädchen brauchen wie sie einen Rollstuhl. Wobei: Vor dem Morgenkreis wird Pia in eine Art Gestell – einen Stehständer – gehoben und angeschnallt. Ausgerechnet jetzt, wo die anderen sitzen dürfen, muss sie stehen! Denn für Pias Muskeln ist es wichtig, dass sie möglichst oft trainiert werden. Ihre Lehrerin hat eine Schale aus Metall und eine Kerze mitgebracht. Hören und Riechen – das sind die ersten beiden Aufgaben heute. Pia darf die Kerze anzünden, mit einem extra langen Streichholz. Ein anderer Junge aus der Klasse, Jermaine, hilft ihr.
Die nächste Aufgabe: Singen! Das Lied geht so: »Guten Morgen, guten Morgen, wir winken, wir winken, hier bin ich – und wo bist du?« Einer nach dem anderen ist an der Reihe und wird gefragt. »Pia, Pia, wo bist du?« Pia hat die Augen geschlossen und rührt sich nicht. Es sieht aus, als wäre sie eingeschlafen. Hej, Pia, aufwachen! Aber dann huscht ein Lachen über ihr Gesicht und verrät, dass sie doch wach ist.
»Pia, Pia, wo bist du?«, fragen die anderen Kinder noch einmal. Und Pia tippt schnell mit der linken Hand auf einen großen roten Knopf, in dem eine Art Kassettenrekorder versteckt ist. Der liegt vor ihr und antwortet für sie: »Hier bin ich!« Die Klasse singt: »Guten Tag, guten Tag, guten Tag!«
© Arne Mayntz
Der Rekorder ist eine tolle Hilfe. Morgens nimmt Pias Mutter oder ihr Vater mehrere Sätze für sie auf. Und wenn Pia dann in der Schule gefragt wird, braucht sie nur auf den roten Knopf zu drücken. »Hier bin ich«, hört man dann. Oder, wenn sie beim Frühstück noch Hunger hat: »Ich möchte mehr haben.« Wichtig ist nur, dass ihre Eltern die Sätze in der richtigen Reihenfolge aufnehmen.
So gibt es verschiedene Tricks, mit denen Pia sich helfen kann – und die anderen ihr. Zu Hause hat sie zum Beispiel einen Computer, den man mit den Augen steuert. Je nachdem, wo Pia hinschaut, geht das Programm weiter. Die Tasten sind für sie zu klein und kompliziert.
In der Schule zeigt ihr Kati, eine Betreuerin, auf bunten Kärtchen, was an diesem Vormittag als Nächstes passiert. Eine verlockende Karte mit einer Banane, einem Brötchen und einem Apfel heißt: frühstücken! Doch bevor die Pause beginnt, ist Pia doch noch eingeschlafen. »Solange du die Augen zuhast, gebe ich dir nichts zu essen«, droht Kati und lacht dabei. Pias Krankheit führt dazu, dass sie nachts häufig wach ist – und dafür tagsüber schläft. Und Schule kann ja auch wirklich ganz schön anstrengend sein!
Pia hat Glück. In ihrer Schule sind alle ziemlich nett zu ihr, auch Sandra, die nach der Pause kommt. Ganz vorsichtig nimmt sie Pia auf den Schoß und zieht ihr die Schuhe aus. Sandra ist keine Lehrerin, sondern Physiotherapeutin. Sie macht mit Pia Übungen, die ihre Muskeln stärken. Während die anderen in der Klasse »Zahlenstunde« haben – heute ist die »5« dran –, hat Pia zweimal in der Woche »Therapie«. Nun liegt sie auf einer Schräge und soll sich hochstemmen, um die Muskeln zu kräftigen. Ganz fest drückt sie die Arme durch, aber die Übung fällt ihr heute schwer. Dafür ist Pia nun aber wieder hellwach.
Normalerweise dauert die Schule bis zum Nachmittag, aber freitags ist schon um zwei Uhr Schluss. Pia freut sich, denn nun holt ihr Vater sie zum Schwimmen ab. Erst geht es noch schnell nach Hause, um die Badesachen zu holen. Und dann zum Parkbad. Dort angekommen, ärgert sich Pias Vater: An der Umkleidekabine steht zwar ein Schild, dass diese für Behinderte geeignet sei. Doch in der Kabine gibt es nur einen Wickeltisch für Babys. Pia muss zwar auch eine Windel tragen, doch der Tisch ist viel zu klein, um sie darauf umzuziehen. Zum Glück sind sie und ihr Vater ein eingespieltes Team und kommen auch mit wenig Platz aus. Der rote Badeanzug, den Pia anhat, sieht sehr schick aus.
Und der Rollstuhl? Der kommt nicht mit ins Wasser. Ihr Vater trägt Pia ins Bad, aber auch das wird immer schwieriger, je größer und schwerer sie wird. Dafür ist im Wasser alles leicht: Rückwärts zieht ihr Vater Pia durch das Becken, er hält ihre Arme hoch und schaukelt sie von rechts nach links. Vorsichtig natürlich, damit Pia nicht untergluckert. Strahlend schmiegt sie den Kopf an Papas Schulter.
Abends zu Hause ist auch Pias Mutter da. Sie hat gearbeitet. In den Ferien will sie mit Pia nach Ungarn fliegen, um dort ihre Eltern – Pias Oma und Opa – zu besuchen. Fliegen? Klar, das geht. »Man kann mit Pia alles machen«, sagt ihre Mutter, »es dauert nur länger.« Und der Rollstuhl muss mit!