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Ella auf Klassenfahrt (6)

 

© Sabine Wilharm
© Sabine Wilharm

Von Timo Parvela

Folge 6: Wichtelschule
Der Fluchtversuch des Lehrers ist gescheitert: Mit seinem Moped hat er die Kinder auf ihren Skiern in eine Schneewehe geschleppt. Jetzt ist ruhigere Beschäftigung angesagt: Schnitzen! Die Schüler ahnen, warum: Ihre Lehrzeit als Wichtel hat begonnen …
Wir schnitzten. Ich schnitzte einen kleinen Vogel, Hanna schnitzte einen Schlüsselanhänger, und Tiina schnitzte eine runde Tasse. Timo schnitzte einen Bumerang, Mika schnitzte aus einem großen Scheit Holz viele kleine, und der Rambo sagte, er schnitzt jedem eine neue Nase, der von ihm verlangt, dass er was schnitzen soll. Pekka schnitzte sich natürlich in den Finger. Nach dem Ausflug mit dem Moped hatte uns der Weihnachtsmann ins Haus geschickt und Schnitzmesser ausgeteilt. »Da lernt ihr zur Abwechslung mal was Nützliches«, hatte er gesagt. »Basteln und Langlaufen sind die zwei sinnvollsten Tätigkeiten der Welt.« Dann klebte er Pekka ein Pflaster um den Finger. »Nur für dich wär’s vielleicht besser, wenn du Servietten falten würdest«, sagte er. Wir wussten natürlich, warum der Weihnachtsmann wollte, dass wir uns im Basteln übten. So fing die Wichtelschule an. Wir sollten lernen, wie man Weihnachtsgeschenke bastelt. Erst würden wir Holzspielzeug für arme Kinder schnitzen, und danach würden wir lernen, wie man die elektronischen Sachen für reichere Kinder zusammenbaut. »Was bist du nur für ein Quatschkopf!«, hörten wir den Weihnachtsmann zu seinem Sohn, unserem armen Lehrer, sagen. »Wie kommst du auf die Schnapsidee, Kinder hinter einem Moped herzuschleifen? Hättest du Bescheid gesagt, hätte ich euch mit dem Motorschlitten gezogen.« Der Lehrer antwortete nicht. Er schnitzte auch. Der Weihnachtsmann hatte ihm zwei dicke Äste gegeben, aus denen er der Länge nach Bretter schnitzen sollte. Seine Stirn glänzte schon von Schweiß. »Hier, schnitz dir ein Paar neue Skier, das wird dich für eine Weile von neuen Dummheiten abhalten«, hatte der Weihnachtsmann gesagt. »Was hast du mit meinem Moped gemacht?«, hatte der Lehrer gefragt. »Ich hab’s in den Schuppen gestellt und ein Vorhängeschloss an die Tür gehängt. Außerdem hab ich den Motor abmontiert«, hatte der Weihnachtsmann geantwortet. Das fanden wir unfair. Wie sollte denn der Lehrer jetzt Moped fahren, wenn es keinen Motor mehr hatte? Aber sonst hatten wir alle viel Spaß am Schnitzen. Der Weihnachtsmann gab uns gute Ratschläge, und die Sachen, die wir schnitzten, wurden toll: Aus meinem Vogel wurde ein schöner Walfisch, aus Hannas Schlüsselanhänger wurde ein schöner Eierbecher, und aus Tiinas Tasse wurde eine schöne Tasse. Auch Timos Bumerang wurde sehr schön. Mikas kleine Holzscheite konnte man prima als Anfeuerholz verwenden, und der Rambo hatte es sich anders überlegt: Er drohte, jedem neue Ohren zu schnitzen, der ihm das Schnitzen verbieten wollte. Pekkas gefaltete Servietten konnte man als Topflappen benutzen. Als uns die Frau des Weihnachtsmanns noch Gläser mit heißem Preiselbeersaft brachte, dachten wir, dass ein Leben als Wichtel vielleicht doch nicht so schlecht war. Eigentlich war es sogar richtig nett. Ob es doch kein so grausames Schicksal war, als Wichtel beim Weihnachtsmann zu enden? »Und ihre eigenen Geschenke – machen die Wichtel die auch selbst?«, fragte Timo den Weihnachtsmann, als er den ersten Schluck Preiselbeersaft getrunken hatte. »Wichtel? Was denn für Wichtel?«, fragte der Weihnachtsmann. »Die Helferwichtel des Weihnachtsmanns«, erklärte Timo, und wir zwinkerten dem Weihnachtsmann zu. »Wahrscheinlich«, sagte der Weihnachtsmann und kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Ja … doch.« – »Und müssen wirklich alle Wichtel brav sein?«, fragte Pekka. »Bösen Menschen wachsen bekanntlich keine Bärte«, antwortete der Weihnachtsmann und lächelte schlau. »Wachsen wirklich allen Wichteln Bärte?«, fragte Hanna. »Dem da drüben wächst jedenfalls einer«, sagte der Weihnachtsmann und zeigte auf den Lehrer. »Und wenn ich’s richtig sehe, wird er von Tag zu Tag länger.« Da hatte der Weihnachtsmann recht. Der Bart des Lehrers war wirklich länger geworden. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass er seinen Rasierapparat im Koffer hatte, der jetzt irgendwo in Indien war. Trotzdem befühlten wir alle unser Kinn. »Und wie ist es mit dem Singen? Müssen Wichtel wirklich dauernd fröhliche Lieder singen?«, fragte der Rambo. Auf einmal wurde es mucksmäuschenstill. Nur das Knistern des Kaminfeuers und das Seufzen des Lehrers waren noch zu hören. Der Weihnachtsmann sah aus dem Fenster und summte vor sich hin. Wir kannten das Lied: Ein Männlein steht im Walde … Alle schnitzten, nur die Frau des Lehrers nicht. Nach dem Mopedausflug war sie nämlich den ganzen Tag langlaufen gewesen.

Ihre Nase war von der Sonne ganz rot, als sie zum Abendessen nach Hause kam. »Was für ein traumhaftes Wetter!«, freute sie sich, als sie in die Stube trat. »Du siehst aus wie Rudolf das Rentier«, giftete der Lehrer bitter. »Du bist nur neidisch«, sagte seine Frau. »Entspann dich, wir sind schließlich in den Ferien.« – »ICH BIN ENTSPANNT«, schrie der Lehrer, und sein Kopf wurde dabei so rot wie die Nase seiner Frau. Wir fanden es toll, dass der Lehrer so entspannt sein konnte, wo unsere Lage doch so hoffnungslos war. Vielleicht hatte er sich ja schon einen neuen Fluchtplan ausgedacht. Wir fanden es toll, dass unser Lehrer so schlau und so erfinderisch war. Und der Lehrer war scheinbar so entspannt vom Schnitzen, dass er nicht mal ein Abendessen brauchte. Während wir aßen, schnitzte er immer weiter. Der erste Ski war schon bald fertig. Er sah nur ein bisschen komisch aus. In der Mitte war er schön gerade, aber an beiden Enden war er wie verdreht. Wir überlegten eine Weile, an was er uns erinnerte, dann wussten wir es: an einen Flugzeugpropeller. Inzwischen verstanden wir genug vom Skilaufen, um zu wissen, dass der Lehrer mit dem Ski Probleme kriegen würde. Aber wir brachten es nicht übers Herz, es ihm zu sagen. Er sah so glücklich aus und schnitzte, dass die Späne nur so durch die Stube flogen. Nach dem Essen sprach der Weihnachtsmann wieder von seinen Zukunftsplänen, und wir spitzten die Ohren. Das ging uns schließlich ganz persönlich an. »Wir haben beschlossen, uns nach dem nächsten Winter zur Ruhe zu setzen«, sagte der Weihnachtsmann. »So, so«, sagte der Lehrer. »Mein Nachfolger hätte dann freie Bahn«, fuhr der Weihnachtsmann fort. »So, so«, sagte der Lehrer. »Wir würden in die Hütte ziehen, in der ihr beide gerade wohnt. Hier im Haus wäre dann Platz für eine größere Familie«, sagte der Weihnachtsmann. »So, so«, sagte der Lehrer und hielt seinen verdrehten Ski hoch, um ihn im Licht des Kaminfeuers zu betrachten. »Der ist ja ganz krumm«, sagte der Weihnachtsmann. »So, so«, sagte der Lehrer mit einem geheimnisvollen Lächeln auf dem Gesicht.

Wir saßen in Hannas Bett unter der Decke, und es war ein bisschen eng, weil außer Hanna, Tiina und mir auch noch Timo, Mika, der Rambo und Pekka dabei waren. Die Jungs hatten sich nach dem Lichtausmachen in unsere Hütte geschlichen. Wir saßen unter der Decke, weil wir nicht wollten, dass jemand uns hörte. Wir hatten Wichtiges zu besprechen. »Ihr habt gehört, was der Weihnachtsmann nach dem Abendessen gesagt hat«, sagte Hanna. »Dass wir morgen eine Rentierschlittenfahrt machen«, erinnerte sich Mika. »Davor«, sagte Hanna. »Dass sogar Rudolf das Rentier bessere Skier schnitzt als der Lehrer«, erinnerte sich Timo. »Noch davor«, sagte Hanna. »Dass meine Topflappen schön waren, bevor ich damit das Holz im Kamin umschichten wollte«, erinnerte sich Pekka. »Noch davor«, sagte Hanna. Jetzt erinnerten wir uns alle: Der Weihnachtsmann hatte gedroht, den Lehrer zu enterben, wenn er nicht den Lehrerberuf aufgab, nach Lappland kam und sein Nachfolger wurde. Wir erinnerten uns auch daran, dass der Lehrer darauf schnaubend die Stube verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt hatte. »Er ist echt in Schwierigkeiten«, sorgte sich Tiina. »Wir sind echt in Schwierigkeiten«, sorgte sich Hanna. »Wir müssen ihm helfen zu fliehen«, sagte ich. »Und uns auch«, bemerkte Hanna und befühlte ihr Kinn. Wir befühlten alle unser Kinn, aber uns waren noch keine Bärte gewachsen. »Puh, zum Glück noch keine Spur«, sagte Hanna. »Schade, immer noch keine Spur«, sagte Pekka. Dann beschlossen wir, dass wir es allein nicht schaffen würden. Wir holten unsere Schreibsachen, und jeder schrieb einen Brief. Hanna schrieb Harry Potter, Tiina schrieb den 101 Dalmatinern, und ich schrieb Gandalf aus dem Herrn der Ringe. Timo schrieb den Vereinten Nationen und wusste sogar, was das ist, Mika schrieb seiner Mama, und der Rambo drohte, seinem Vater zu schreiben, wenn jemand verlangte, dass er einen Brief schrieb. In allen unseren Briefen stand dasselbe: »Hilfe! Aber bitte schnell!«

Nächste Woche erfahrt Ihr, wie Ellas Lehrer versucht, ein Rentier zu bestechen

»Ella auf Klassenfahrt« ist der dritte »Ella«-Roman von Timo Parvela. Aus dem Finnischen übersetzt haben ihn Anu und Nina Stohner, illustriert wurde er von Sabine Wilharm. Das Buch erscheint am 27. Juli im Carl Hanser Verlag