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Ruhrgebietssage 5: Bruder Guardian und die Chorstühle von St. Agnes

 

Illustration: Gert Albrecht
Illustration: Gert Albrecht

neu erzählt von Hartmut El Kurdi

Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der EU für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt.

Im Februar erscheint Hartmut El Kurdis Buch, in dem er die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt. Die zehn besten Geschichten könnt Ihr bei uns jetzt schon lesen

Einst lebte im Franziskanerkloster von Hamm der Bruder Guardian. Seine Aufgabe als Mönch war es, bei den Bürgern und Bauern Spenden für das Kloster zu sammeln. Von manchen wurde er auch Bruder Lustig genannt. Das hing damit zusammen, dass er eine unglaublich laute und durchdringende Lache hatte – so laut und durchdringend, dass die Hühner im Hof des Klosters vor Schreck ein zweites Ei legten, wenn sie ihn hörten. Ein Huhn war sogar mal in Ohnmacht gefallen. Außer-dem hatte Bruder Lustig einen Hang zum Quatschmachen und Quatschreden. Vor allem wenn es darum ging, den Leuten das Geld aus dem Portemonnaie zu ziehen. Denn wie die Menschen nun mal so sind, spenden sie nicht immer freiwillig. Bruder Lustig half oft mit einem kleinen Witzchen nach. Oder auch mit fünfen. Das Lachen öffnete die Geldbeutel. Es gab ja sonst nicht viel, über das man sich amüsieren konnte. Deswegen freuten sich die meisten Leute, wenn sie Bruder Guardian begegneten. Nur die beinharten Geizhälse gingen ihm aus dem Weg. Aus Angst, er könnte ihnen etwas von ihrem Besitz abluchsen.
Zu diesen Oberknausern gehörte auch der Besitzer von Haus Heesen, der Graf von Heesen genannt wurde, obwohl er eigentlich gar kein richtiger Graf war. Aber das spielt hier keine Rolle. Als Bruder Guardian einmal im Dorf Heesen Spenden sammelte, ging er am Schloss vorbei und begegnete jenem »Grafen«, der gerade mit einigen Jägern und Hunden zur Jagd gehen wollte. Normalerweise flüchtete sich der Graf ins Schloss und verbarrikadierte das Tor, wenn er Bruder Guardian auch nur von Weitem sah. Diesmal hatte er ihn zu spät bemerkt.
»Och nö, nicht schon wieder du!«, stöhnte der Graf. »Gott zum Gruße«, sagte Bruder Guardian grinsend. »Damit eins klar ist: Von mir kriegst du heute nichts!«, entgegnete der Graf. »Moment!«, sagte Bruder Guardian und fasste sich mit der einen Hand an den Kopf, die andere hielt er ausgestreckt gen Himmel. »Ich empfange gerade eine Botschaft von Gott!« Der Graf schaute einen seiner Jäger an und rollte mit den Augen. »Jetzt geht das wieder los …« – »Doch, doch«, sagte Bruder Guardian. »Ich höre es ganz genau. Gott sagt, er hätte da oben im Himmel noch einen Platz frei, ein kleines Polstersesselchen, mit kariertem Bezug, da wäre sogar eine Plakette dran, mit deinem Namen. Allerdings könne er den Platz für dich nur freihalten, wenn du in Zukunft etwas großzügiger bist. Also, wie wäre es mit einer kleinen Spende für unsere Klosterkirche?«, fragte Bruder Guardian lächelnd. »Ich hab dir doch gesagt, du kriegst von mir nichts!» – »Gar nichts?« – »Gar nichts!« – »Hm. Nicht eine klitzekleine Spende für dein Seelenheil?« – »Jetzt hör endlich auf!«, brüllte der Graf. »Wenn du Geld willst, geh arbeiten!« »Aber das ist meine Arbeit. Ich bin ein Bettelmönch«, sagte Bruder Guardian stolz.
Der Graf ahnte, dass dieses Gespräch noch Stunden so weitergehen würde, wenn er nichts unternahm. Er schüttelte genervt den Kopf. Da hatte er auf einmal eine Idee. »Pass auf«, sagte er. »Ich bin gerade auf dem Weg in den Wald. Komm doch mit auf die Jagd. Oder kannst du nicht schießen?« – »Nun ja …«, sagte der überraschte Mönch. Damit hatte er nicht gerechnet. »Ich verspreche dir, alles, was du triffst, gehört dem Kloster«, sagte der Graf und drückte Bruder Lustig ein Gewehr in die Hand. Der Graf zog die Augenbrauen hoch. »Nun?« Er war sich sicher, dass der Mönch noch nie auf die Jagd gegangen war und es ablehnen würde. Bruder Lustig schaute auf die Waffe in seiner Hand, kniff nachdenklich die Augen zusammen und sagte: »In Ordnung! Alles, was ich treffe, gehört dem Kloster?« Der Graf nickte. »Alles!«
Und so zog die Jagdgesellschaft in den Wald. Auf dem Weg fragte Bruder Guardian: »Eine Sache noch: Bei diesem Gewehr hier, wo füllt man da die Kugeln nach?« Der Graf und seine Jäger schauten sich an und lachten laut los. Als sie im Wald angekommen waren, erklärte einer der Jäger dem Mönch, wie so ein Gewehr funktionierte. »Vielen Dank«, sagte dieser, »dann gehe ich jetzt mal schießen. Bis gleich.«
So zog er los in Richtung der alten Eichen. Kaum war er außer Sichtweite, hörte man auch schon Schüsse krachen. »Hoffentlich erschießt sich der Trottel nicht selbst«, sagte der Graf. Nach einer kurzen Ladepause knallte es erneut. Und so ging es zehn Minuten lang: Schüsse, Pause, Schüsse. Schließlich sagte der Graf: »Kommt, lasst uns nachschauen, was der da treibt.« Als sie bei Bruder Guardian ankamen, stand er zwischen den Bäumen und hatte gerade wieder das Gewehr angelegt. Da der Graf nirgendwo ein Tier entdeckte, fragte er: »Auf was zielst du, Mönch?« – »Auf diese dicke Eiche dort drüben«, antwortete Bruder Guardian und schoss. »Getroffen!« – »Warum schießt du auf eine Eiche?«, fragte der Graf verwirrt. »Ich hab nicht nur auf diesen Baum geschossen. Auch auf all die anderen hier!«
Und Bruder Guardian zeigte dem Grafen die großen Einschusslöcher an allen Bäumen ringsum. »Du hast doch gesagt, dass alles, was ich treffe, dem Kloster gehört, oder?« – »Ja, ja, doch …«, stammelte der Graf. »Na also, all diese Eichen gehören mir«, sagte Bruder Guardian, gab dem Grafen das Gewehr zurück und machte sich gut gelaunt auf den Weg ins Kloster, ein paar Hühner erschrecken.
Und obwohl der Graf ziemlich sauer war – vor Wut trat er gegen eine der angeschossenen Eichen und brach sich den Fuß –, hielt er sein Versprechen: Das Kloster bekam die Bäume. Aus diesen ließen die Mönche dann die Chorstühle für die St.-Agnes-Kirche in Hamm bauen.
Zum Jagen wurde der Bruder Guardian übrigens nie wieder eingeladen. Weder vom Grafen von Heesen noch von irgendjemand anderem.


Sauerländer Verlag
Sauerländer Verlag

Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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