- neu erzählt von Hartmut El Kurdi
Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der Europäischen Union (kurz EU) für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt.
Im Februar erscheint ein Buch, in dem die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt werden. Die zehn besten Geschichten lest Ihr bei uns schon jetzt
Vor vielen, vielen Jahren lebte in einem See im Emscherbruch, irgendwo zwischen Dortmund und Duisburg, ein Neck. Ein Neck ist ein Wassermann oder Wassergeist. Oft sind die Necks nicht sonderlich freundlich. Warum die Wassermänner so schlecht gelaunte Typen sind, weiß man nicht. Auf alle Fälle verwenden sie viel Zeit darauf, Menschen zu ärgern und zu quälen.
Bei dem Neck in dieser Sage kam dazu, dass er nicht grade der hübscheste Vertreter seiner Art war. Um es genauer zu sagen: Er war potthässlich. Er hatte riesige Glubschaugen, als Haare trug er langes grünes Algen-Gestrüpp auf dem Kopf, und sein Mund war so groß und breit, dass man prima einen Lastwagen mit Anhänger darin hätte parken können. Nun muss ja niemand, bloß weil er nicht so gut aussieht, gleich ein fieser Möpp sein. Es gibt ja auch viele bildhübsche Menschen, die hundsgemein oder strohdoof sind. Aber vielleicht war der Neck in der Wassermannschule wegen seines Aussehens gehänselt worden, vielleicht hatte er mal an einem Wassermann-Schönheitswettbewerb teilgenommen und war in der ersten Runde rausgeflogen. Auf alle Fälle war er der mürrischste Kerl, den man sich vorstellen kann. Er hatte nicht einen einzigen Freund. Nicht mal einen Exfreund. Nicht mal einen Brieffreund. So lebte er einsam und muffig in seinem Wasserschloss unter einer Insel im See vor sich hin, und wenn er richtig schlecht drauf war, peitschte er die Wassermassen durcheinander, sodass das Wasser schäumend über das Ufer trat.
Wahrscheinlich merkte er selbst, dass er kein besonders angenehmer Zeitgenosse war. Deswegen überlegte er, wie sich seine Laune verbessern könnte. Er dachte: »Wenn ich eine Frau hätte, eine Nixe, die mit mir hier unten leben würde, dann wäre vielleicht alles anders …« Aber wie sollte er eine Nixe kennenlernen? Erstens lebte er ja alleine in seinem See, und zweitens stehen Nixen doch eher auf charmante Wassermänner und nicht auf verbitterte Griesgrame und Stinkstiefel. Also dachte er sich einen Zauber aus.
Auf der Insel stand ein Baum mit einem schiefen Stamm, der über den See reichte. Mit einem anderen Baum, der sich vom gegenüberliegenden Ufer über das Wasser beugte, bildete er eine Art Tor. Und jetzt kommt der Zauber: Wenn jemals eine Jungfrau in einem Boot unter dem Tor hindurchführe, dann würde sie zur Nixe und müsste fortan mit dem Neck in seinem Schloss unter Wasser leben. So weit, so fies.
Nur kam nie eine Jungfrau vorbei. Wie auch? Der Wald um den See war so dicht und dunkel, dass sich nie irgendjemand hierhin verirrte. Aber für alle Fälle hatte der Neck am Seeufer ein Ruderboot geparkt und verführerisch mit Rosen dekoriert. Und so wartete er jeden Tag aufs Neue auf seine zukünftige Gemahlin. Er wartete ziemlich lange. Die kleinen frechen Elfen, die auf den Seerosenblättern im See lebten und sich oft über den Neck lustig machten, kicherten jedes Mal, wenn sie sahen, wie der Neck mal wieder träumerisch auf das Boot starrte.
Eines Morgens passierte es schließlich doch: Der Neck lungerte mal wieder am Ufer herum und hielt Ausschau nach Beute, da blitzte plötzlich ein Sonnenstrahl durch die Baumwipfel. Weil es damals noch keine Sonnenbrillen gab, musste der Neck die Augen mit seinen glitschigen Schwimmhäuten bedecken. Als er die Hand wieder von den Augen nahm, sah er, wie sich eine junge Frau dem Rosenboot näherte. Sie trug ein weißes Kleid, hatte lange goldene Locken, wunderhübsche braune Augen und trug glitzernde Ohrringe. Sie war das schönste Wesen, das der Neck je gesehen hatte. »Ich fasse es nicht: eine Jungfrau! Los, steig in das Boot!«, flüsterte der Neck. Die Jungfrau stand am Ufer und zögerte. »Du sollst einsteigen!«, wiederholte der Neck beschwörend. Die Schönheit hob den Kopf, als habe sie sein Flüstern gehört. War da was? Verwirrt schaute sie sich um. Minutenlang passierte nichts. Dann, auf einmal, bewegte sich ganz langsam ihr rechter Fuß. Wie bei einer Marionette schien er von einem unsichtbaren Faden in die Luft gezogen zu werden. Die Jungfrau verfolgte den Fuß mit ihren Blicken. Er bewegte sich nach vorne und wurde auf dem Boot abgesetzt.
»Jawoll!«, jubelte der Neck. Die Jungfrau schüttelte ungläubig den Kopf, zog dann aber wie unter Hypnose den anderen Fuß nach und stieg ins Boot. Sie ließ sich auf der Sitzbank nieder, und schon setzten sich die Ruder in Bewegung. Verunsichert schaute sich die Jungfrau um. Als das Boot unter dem Baumtor hindurchfuhr, glitt der Neck lautlos ins Wasser. Einen Augenblick später hob sich eine schleimige Hand aus dem See, packte das Boot und rüttelte es so heftig, dass es anfing, gefährlich zu schaukeln. »Ey, was soll das?«, rief die Jungfrau und versuchte sich am Paddel festzuhalten. Das flutschte ihr allerdings unter den Händen weg und verschwand im See. Schließlich wurde das Schaukeln so wild, dass das Boot kenterte und die Jungfrau ins Wasser fiel. Als sie wieder auftauchte, war es dunkel. Sie befand sich unter dem umgedrehten Boot wie unter einer Glocke. Im Dunkeln sah sie die Glubschaugen des Necks leuchten wie große nach außen gewölbte Scheinwerfer.
»Hallo, edle Jungfrau, jetzt gehörst du mir!«, hauchte er – und leider roch das, was da aus seinem garagengroßen Mund kam, nicht sehr angenehm. Faulige Luft umwehte die junge Dame. »Wie bitte?«, fragte sie. »Erstens: Was soll das mit der Jungfrau? Das klingt ja bescheuert. Ich heiße Gabi! Aber nur für meine Freunde. Für dich: Gabriele! Zweitens: Putz dir mal die Zähne, und drittens: Du kannst mich hier doch nicht einfach so kidnappen!« – »Und wie ich das kann!«, blubberte der Neck, den Mund nun halb unter Wasser, was die Geruchsbelästigung etwas verringerte. Sein Mundgeruch war ihm doch ein bisschen peinlich. Ansonsten schien ihm aber sein Benehmen nicht im Geringsten unangenehm zu sein. Und weil er nun mal Zauberkräfte hatte, konnte sich Gabi nicht gegen ihn wehren. Der Neck zog sie unter Wasser in sein Wasserschloss. »Hier wirst du nun für immer wohnen, als meine Emscher Nixe. Und niemand wird dich befreien können, es sei denn, er kennt das Zauberwort!« – »Wie lautet denn das Zauberwort?«, fragte Gabi. »Seh ich aus, als ob ich blöd bin?«, gab der Neck zurück. »Dazu sage ich jetzt nichts«, antwortete Gabi. »Niemals werde ich das Zauberwort aussprechen. Noch nicht einmal vor mich hin flüstern werde ich es …« – »Schon klar«, sagte Gabi.
Und so wurde Gabi zur Emscher Nixe. Aber sie war keine fröhliche Wasserfrau. Vor lauter Kummer und Sorgen färbte sich ihr weißes Kleid erst grau und dann schwarz. Sie selbst verlor ihre Schönheit und wurde hart wie Stein. So verbrachte sie viele Jahre im Wasserreich des Emscher Necks. Fast leblos. Und wie versprochen, hütete sich der Neck, das Zauberwort auszusprechen. Natürlich besserte sich die Laune des Necks trotz Gabis Anwesenheit nicht sonderlich. Mit einer zur Stein gewordenen Frau konnte man weder plaudern noch spazieren schwimmen. Und knutschen machte auch keinen Spaß. So verging die Zeit …
Doch eines Tages hörte man unter Wasser im dunklen Reich ein Rumpeln und Pumpeln, ein Pochen und Krachen, ein Kratzen und Bohren. Gabi erwachte aus ihrem steinernen Dauerschlaf. Woher kamen diese Geräusche? Sie blickte nach unten. Auf dem Grund des Sees sah sie, wie sich die Erde hob und senkte. War da jemand? Sie versuchte zu schreien, doch aus ihrem Mund kam kein Ton. Sie wollte schon aufgeben und wieder in ihren Steinschlaf fallen, da hörte sie durch den Boden, sehr gedämpft, eine menschliche Stimme. Ein Mann rief etwas. Was genau, konnte die Nixe nicht verstehen. Auf einmal wurde ihr heiß. Sie zitterte und zappelte. Um sie herum bildete sich ein Wasserwirbel. Dann wurde sie nach oben gezogen. Vorbei an erschrockenen Fischen und schockierten Elfen. Sie schoss aus dem See und landete weich auf einem Blätterhaufen am Ufer.
Sie blieb einige Minuten liegen. Dann, ganz langsam, klappte sie erst das eine, dann das andere Augenlid hoch: Die Sonne strahlte, und von einem Baum aus schaute ein verstörtes Eichhörnchen auf sie herunter. »Ich fass es nicht: Ich bin wieder auf der Erde!«, dachte sie. Ihr Kleid war wieder weiß, ihre Haare waren wieder golden, und alle ihre Körperteile funktionierten. Und in ihrem Kopf hörte sie plötzlich noch einmal den Ruf, den sie unter Wasser vernommen hatte. Wie ein Echo. Jetzt verstand sie ihn auch: »GLÜCK AUF!«, hallte es in ihrem Schädel nach.
»Glück auf«, das war der alte Gruß der Bergleute. Damit wünschten sich die Kumpel gegenseitig, dass sich im Bergwerk Erzgänge auftaten, also dass sie auf Erzadern stießen. Aber vor allem drückten sie damit ihre Hoffnung aus, glücklich und gesund wieder aus dem Bergwerk heraufzukommen.
Und so gelangte die Emscher Nixe durch einen Bergmann, der sozusagen aus Versehen das Zauberwort ausgesprochen hatte, wieder ans Tageslicht. Wie die Kumpel nach der Schicht. Der Neck aber saß auf seiner Insel und glotzte mit seinen Glubschaugen herüber. »Gabi …«, hauchte er in den Wind. Gabi schaute zurück. »Für dich immer noch Gabriele!«, sagte sie, wischte sich das Laub vom Kleid und ging ihrer Wege.
- Sauerländer Verlag
Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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